In >Der zerrissene April< erzählt Isamil Kadare die Geschichte der albanischen Blutrache, die nach einem tausendjährigen Gesetzeskodex noch bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein gültig war. Zwei Familien hoch oben in den albanischen Bergen sind seit Jahren miteinander im Blut. Auf dem Friedhof sind je vierzig Opfer bestattet. Jetzt ist Gjorg Berisha an der Reihe zu töten. Nach der Tat bleiben ihm nur 30 Tage Frist, bevor er getötet wird. Kadare erzählt von der Intensität, die das Leben im Angesicht des Todes gewinnt.
Autoren-Bewertung
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Gesamtbewertung
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Plot / Unterhaltungswert
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Charaktere
4.0
Sprache & Stil
4.0
Gjorg Berisha erfüllt endlich seine Pflicht und erschießt den Nachbarn, der seinen Bruder tötete – dem unerbittlichen Gesetz des Kanun und seinen Regeln zur Blutrache folgend. Die Gegenseite gewährt ihm das Große Ehrenwort, und damit bleiben Gjorg noch 30 Tage, in denen er sicher ist. 30 Tage bis zum 17. April. Danach droht ihm immer und überall das gleiche Schicksal.
Der Schriftsteller Besian Vorpsi und seine junge Frau Diana aus der Hauptstadt Tirana verbringen ihre Hochzeitsreise im albanischen Hochland. Vorpsi ist fasziniert vom Kanun und seinen Regeln, bewundert dieses Werk und seine Überlebenskraft. Auch seine Frau scheint dem archaischen Lockruf zu erliegen. Die Kutsche der beiden begegnet Gjorg auf seinem Rückweg vom Turm von Orosh, wo er die allfällige Blutsteuer bezahlte. Diana und Gjorg tauschen nur einen Blick, der letzteren aber dazu veranlaßt, seine geschützte Zeit im Hochland auf der Suche nach der Kutsche zu verbringen, und auch Diana geht der junge Hochländer nicht aus dem Kopf.
Hatte mir Kadares Der General der toten Armee schon gut gefallen, so ist dieses doch noch besser. Nicht angenehm, sondern eher schockierend, denn die Handlung spielt nicht irgendwann in grauer Vorzeit, sondern im 20. Jahrhundert. Aus den Gesprächen Besians mit seiner Frau sowie aus deren Diskussionen mit dem Kanun-Ausleger Ali Binaku erfährt man als Leser vieles über die inneren Strukturen dieses Gesetzessystems.
Gjorg dagegen ist ein junger Mann, der für dieses archaische Auge-um-Auge-Prinzip zuviel nachdenkt. Aber gerade die Abschnitte, die aus seiner Sicht erzählen, sind besonders eindringlich und spiegeln die innere Zerrissenheit des jungen Mannes gut wieder. Einerseits zweifelt er nämlich gar nicht an den Regeln des Kanun, andererseits fühlt er sich schon um sein Leben betrogen. Es war interessant zu verfolgen, wie er mit seinem quasi feststehenden Todesdatum umgeht.
Das alles erzählt Kadare geradezu unprätentiös, aber mit einem guten Blick für Details. Und gerade dadurch wirkt die Geschichte noch viel intensiver, denn die Unausweichlichkeit des Geschehens wird damit unterstrichen. Nach Gjorgs vollzogener Rache am Anfang ist schon klar, wie das Buch enden wird, es bleibt vor allem Mitleid mit ihm und ein ordentliches Maß an Wut über ein solches Gesetz, das die Ehre über das Leben stellt.
Dieses Buch wurde mir von mehreren Seiten empfohlen. Einmal von meinem Buchhändler und von zwei albanischen Kollegen. Ich habe es nicht bereut auf diesen Tipp gehört zu haben. Dieses Buch beeindruckt nicht nur durch seine Geschichte, sondern auch die Wahl der Worte. Sie sind treffend und stark. Die bildhafte Sprache des Autors verleiht diesem noch Nachdruck. Bei diesem sehr ernsten Thema gibt der Autor keine eigene Meinung vor. Dies lässt er seine Protagonisten tun und so kann sich der Leser selbst seine Meinung bilden. Dass diese Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird (positiv wie auch negativ), verleiht diesem Buch noch einen ganz besonderen Charakter. Liest man die Geschichte von Gjorg, so kann man kaum glauben, dass sich dies alles in unserem Jahrhundert abspielt; in diesem Roman, wie aber auch in der Realität. Dieses kleine Buch hat mich sehr beeindruckt und mir die Augen geöffnet, für eine mir völlig fremde Kultur, die gar nicht so weit von mir entfernt lebt, wie man denkt. ??