Bewertungsdetails

Gegenwartsliteratur 1386
Eine Kindheit in Berlin
Gesamtbewertung
 
4.7
Plot / Unterhaltungswert
 
4.0
Charaktere
 
5.0
Sprache & Stil
 
5.0
Der neunjährige Carsten Wollin erlebt einen Sommer im Nachkriegsberlin der 1960er Jahre und begleitet seinen Großvater gern auf dessen Besuchen im Café Kranzler. Der alte Wollin ist ein Charmeur der alten Schule und wickelt alle um den Finger, die mit ihm zu tun haben - nicht zuletzt seine Ehefrau und seine Geliebte, die sich den Schwerenöter zähneknirschend teilen, was bleibt ihnen auch anderes übrig. Carsten bewegt sich als geliebtes „Sonnenkind“ innerhalb dieser Familie, lässt sich verwöhnen und versucht allen zu gefallen. Mit seinem Bruder Stephan gründet er einen Jungs-Club und trifft Freunde, gerne wäre er ein wenig verwegener und wilder, kann aber nicht aus seiner Haut und bleibt Everybodys Darling. Nichts trübt diese glückliche Kindheit, bis der Großvater plötzlich eine niederschmetternde Diagnose erhält...

„Das Sonnenkind“ ist in der Originalausgabe 2001 erschienen und wurde nun vom Aufbau-Verlag neu herausgegeben, in einer wunderbar hochwertigen Ausstattung - eine kleine Buchperle im Regal. Detlev Meyer hat den Roman bereits im Wissen um seinen bevorstehenden Tod angesichts einer Immuninfektion geschrieben und damit Rückschau auf seine Kindheit gehalten.

Auch wenn die Erzählung auf den kleinen Carsten fokussiert ist, kommen doch die Perspektiven all der anderen Figuren ebenfalls zum Tragen, die wohl den Menschen in Meyers Kindheit ähnlich waren. Wir bewegen uns in einem sehr bürgerlichen Umfeld in Neukölln, in dem jeder versucht, so gut wie möglich vor den Nachbarn dazustehen, dunke Geheimnisse verschwiegen und gerne französische Begriffe verwendet werden, um die Vornehmheit der Familie zu unterstreichen. Die Doppelmoral des Großvaters, der noch dazu eine Nazi-Vergangenheit hat, das nicht bewältigte Kriegstrauma des Vaters, das hypochondrische Wesen der Großmutter, das alles wird zwar ganz schüchtern beschrieben, geht aber in dem augenzwinkernden Humor unter, der sich durch die ganze Geschichte zieht. Und schnell wird klar, es geht nicht darum, irgendetwas aufzuarbeiten; Detlev Meyer gönnte sich und den Lesern einen wehmütigen und verklärenden Blick zurück in die Vergangenheit, in die Tage seiner eigenen Kindheit.

Besonders gut gefallen hat mir dabei, dass mehrere Generationen beleuchtet werden und jeweils deren ganz spezielle Lebenssituationen geschildert werden. Daher ist es ein bunter Mix an Themen, die durch die Familienverbindung untereinander verknüpft sind und die als Ganzes betrachtet die Phasen eines ganzen Lebens darstellen. So vertritt Carsten die Kindheit und deren spezielle Denkart, während sein Bruder Stephan an der Schwelle des Erwachsenwerdens steht und seine erste Liebe erlebt; die Generation der Eltern kämpft mit Altlasten und dem täglichen Leben, während der Großvater seinen letzten Lebensabschnitt auf seine eigene Art und Weise genießt. Er ist auch derjenige, der am Ende mit Siechtum und Tod konfrontiert wird. Durch dieses Konstrukt konnte der Autor sein eigenes Erleben auf verschiedene Figuren projezieren und sein Leben Revue passieren lassen.

Der heitere Ton, der die ganze Handlung bis zum Ende durchzieht, macht das Lesen zum Vergnügen, nimmt so manchem bitteren Moment seine Schärfe. Detlev Meyer verzichtete auf Anführungszeichen in der wörtlichen Rede, was sich für mich zunächst etwas seltsam anfühlte beim Lesen. Mit der Zeit bin ich aber sehr gut mit dem Stil zurecht gekommen und wusste den Lesefluss zu schätzen, der sich durch diese Schreibweise zunehmend einstellte. Die Sprache selbst ist elegant und treffsicher, ohne übertriebene Verschnörkelung, was ich als sehr angenehm empfand. Ein Nachwort von Matthias Frings rundet die Geschichte ab und gewährt einen Blick in das literarische Schaffen des Autors.

Mein Fazit:

Dieses kleine, aber feine Werk jenseits vom Mainstream dürfte vor allem LeserInnen gefallen, die weniger handlungsorientiert lesen, sondern mehr Wert auf die tiefgründige Ausarbeitung der Figuren und einen feingeistigen Sprachstil legen. Wer sich für den Zeitgeist der 1960er im bürgerlichen Berlin der Nachkriegsjahre interessiert und überhaupt mit der Berliner Literaturszene vertraut ist, wird ebenfalls seine Freude daran haben. Ich hatte den Lesegenuss vor allem durch den heiter-melancholischen Ton, der „Das Sonnenkind“ zu einem emotionalen Leseerlebnis werden lässt.
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