Jurek Becker - Jakob der Lügner

Es gibt 9 Antworten in diesem Thema, welches 6.778 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von finsbury.

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    Jakob Heym lebt in einem jüdischen Ghetto gegen Ende des zweiten Weltkriegs. Durch Zufall (ein deutscher Soldat erlaubt sich einen schlechten Scherz und schickt Jakob auf die Wache, er solle sich wegen Übertretung der Ausgangszeit melden - doch es ist erst halb acht und noch nicht acht - dafür aber hört er, dass die Russen im Anmarsch sind), durch Zufall also in den Besitz einer Nachricht gekommen, die er nicht für sich behalten kann, steht er vor der Frage, wie er nun gegenüber den Mitbewohnern des Ghetto erklären soll, woher er plötzlich vom Vorrücken der Russen weiss. Er erfindet ein (verbotenes) Radio. Doch damit öffnet sich der Teufelskreis erst. Denn nun steht er unter hohem Erwartungsdruck und muss immer neue Nachrichten erfinden.


    Die Bewohner des Ghetto blühen auf. Wo vorher stumpfes Sich-ins-Schicksal-Fügen und Selbstmorde an der Tagesordnung waren, fangen die Leute wieder an zu leben und Pläne für die Zukunft zu machen. Selbst Liebesgeschichten spinnen sich an.


    Becker behandelt das ernste Thema mit täuschender Leichtigkeit. Man hat das Gefühl, einen Schelmenroman zu lesen und vergisst beinahe, dass wir äusserst traurigen Ereignissen beiwohnen. Es ist kein Buch, das man in einem halben Tag mal so hinunterschlingt (hinunterschlingen sollte). Doch Becker ist ein Meister und kann die Balance zwischen Heiterkeit und Traurigkeit halten, ohne ins eine oder andere zu kippen.



    EDIT: Betreff etwas angepasst. LG Seychella

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

    Einmal editiert, zuletzt von Seychella ()

  • Klingt so, als hätte dieses Buch dasselbe Thema wie Remarques "Der Funke Leben", nur anders umgesetzt...
    Ich setze es mal auf meine Liste, hört sich sehr gut an. :smile:

    LG Gytha

    “Dieses Haus sei gesegniget”

  • Es ist ein wirklich berührendes Buch, das auch mehrfach verfilmt wurde. Die DDR-Verfilmung hat mich als Jugendliche sehr beeindruckt.
    Kennt jemand den Film mit Robin Williams?

    viele Grüße<br />Tirah

  • Der namenlos bleibende Erzähler in diesem Buch berichtet, dass er als 9jähriger von einem Apfelbaum fiel, acht Jahre später zum ersten Mal mit einem Mädchen – unter einer Buche – zusammen war, und kürzlich wurde seine Frau von den Nationalsozialisten unter einem Baum erschossen. Am Schauplatz dieser Geschichte, dem Ghetto von Lodz im Jahr 1944, waren Bäume streng verboten.


    Jakob Heym wurde – so befand es zumindest das Kontrollorgan – nach 20 Uhr, d.h. während der Ausgangssperre – auf der Straße „erwischt“. Er hat somit beim zuständigen Wachorgan im Revier vorzusprechen, von dem allerdings noch kein Jude lebend herausgekommen ist.


    Während er durch die Korridore des Reviers schleicht, hört er Stimmen aus einem Radio. Demnach sind die sowjetischen Truppen schon nahe, die Befreiung in Aussicht. Jakob hat Glück, der Wachhabende lässt ihn laufen.


    Jakob ist sich bewusst, dass er mit dieser Radiomeldung vorsichtig umgehen muss, weiß aber auch, dass sie für viele Ghettobewohner lebensrettend sein kann. Die Selbstmordrate ist enorm hoch, die Leute geben auf und haben nicht mehr die Kraft zur Hoffnung oder zum Durchhalten.


    Jakob vertraut diese Meldung seinem Freund an. Um glaubwürdiger zu sein gibt er an, selbst ein Radio zu besitzen. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Als Jakob erkennt, wie plötzlich Hoffnung und Lebensmut in die Ghettobewohner kommt, gibt es für ihn kein zurück mehr. Nach und nach versucht er, an Nachrichten heranzukommen, versucht, den Leuten Hoffnung zu geben, nach dem Motto „ich werde, wenn es gut geht, ein paar Gramm Nachrichten entführen und mache euch eine Tonne Hoffnung draus.“


    Jurek Becker erzählt auf tragisch-komische Weise die Geschichte des Jakob Heym. Anhand des Erzählers – der selbst Ghettobewohner war, überlebte und seine eigene Geschichte miteinfließen lässt - werden mit vermeintlicher Leichtigkeit, fast Irrwitz die Zustände im Ghetto beschrieben, wenn auch dem Leser oftmals das Lachen im Halse steckenbleibt. Der Erzähler nimmt zwischendurch immer wieder Kontakt mit dem Leser auf und weist somit nochmals eindringlich auf den Wahnsinn und die Schrecken dieser Zeit hin, besonders augenfällig wird dies mit der Beschreibung des „doppelten Endes“.


    Ein Buch, das tiefe Spuren hinterlässt, ein großartiges Buch!


    5ratten


    Zwischenzeitig habe ich auch den Film gesehen, ebenfalls großartig!


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    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Ich kann mich nur anschließen, ein bewegendes Buch, heiter-traurig, voll Hoffnung in einer schweren Zeit. Die Rahmenhandlung rund um den unbekannten Erzähler liegt mir genauso schwer im Magen wie die unmittelbaren Ereignisse rund um den recht zufällig in diese Situation kommenden Jakob.


    Die Verfilmung mit Robin Williams werde ich mir diese Woche besorgen, und ich kann mir im Vorraus keinen Besseren für die Radio-Imitation vorstellen als eben diesen Schauspieler.


    5ratten


    Grüße!

  • Schwer enttäuscht!


    Was Literaturverfilmung heißt, muss m.M. nach auch eine sein. Die Verfilmung aus dem Jahr 1999 mit Robin Williams jedenfalls war wohl eher keine.


    Als eigenständiges Filmwerk betrachtet, mag es ein netter Film sein. Im Vergleich zur Buchvorlage ein fürchterlicher Akt!


    Robin Williams kann sicherlich die Rolle des Jakob spielen - aber so wie es umgesetzt wurde, habe ich keinen Jakob Heym in ihm erkannt. Gerade die im Buch so toll beschriebenen Szenen mit der kleinen Lina und dem Radio sind total untergegangen. Und die Bäume, ach, die Bäume, was wurde nur aus ihnen gemacht? Standen da nicht riesige große grüne Bäume mitten im Ghetto?! Aber ist nicht gerade der Baum ein zentrales Symbol des Werkes, das hier völlig missachtet wurde?!
    Und der Schluss, über den mag ich ja gar nicht sprechen.


    Meine einzige Hoffnung ist jetzt die DDR-Verfilmung. Es kann nur besser werden!


    Grüße!

  • Nach acht Uhr abends hat ein Jude nicht mehr auf der Strasse zu sein, dass Jakob erwischt wird, damit beginnt eigentlich diese Geschichte. Denn wäre er nicht draussen gewesen, auch wenn es erst halb acht war, wäre er auch nicht ins Revier geschickt worden. Und wenn er nicht ins Revier geschickt worden wäre, hätte Jakob auch nicht gehört, dass die Russen kurz vor Bezanika standen.

    Und hätte Jakob nicht gehört, dass die Russen kurz vor Bezanika waren, wäre er nie zum Lügner geworden.

    Doch was hätte er denn anderes tun sollen, um den Jungspund Mischa vor einer Dummheit zu bewahren, als zum Lügner zu werden? Und wie hätte Jakob wissen sollen, dass aus einer kleinen Notlüge, aus der Not geboren, ein Flächenbrand wird und dass er, Jakob Heym, plötzlich nur mit einen leeren Worten die Fähigkeit besitzt, über Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung zu entscheiden?


    Jurek Beckers "Jakob der Lügner" erzählt die Geschichte des Juden Jakob, der unfreiwillig zum Lügner wird und sich immer mehr in den Lügen verstrickt, nur um die Hoffnung im Ghetto aufrecht zu erhalten.
    Das Buch ist in einer sehr poetischen und schönen Sprache geschrieben, die Andeutungen macht und auf das hinweist, was zwischen den Zeilen und zwischen den Menschen der Geschichte steht. Man kann sich von der Sprache durch die Geschichte treiben lassen und fiebert mit, will wissen, was aus denjenigen wird, die einem so ans Herz gewachsen sind.

    Im Gegensatz zu manch anderen Büchern über den Zweiten Weltkrieg will dieses Buch nicht belehren und nicht schockieren. Man erlebt das Leben in einem Ghetto mit, den Abtransport ganzer Strassen, man ist betroffen, kann sich den Schrecken vorstellen, doch den erhobenen Zeigefinger findet man nicht.

    Das Buch lebt vor allem durch Jakob, der eigentlich nur ein durchschnittlicher Mann ist, mit Ecken und Kanten, ein etwas brummiger Zeitgenosse, mit dem Herzen am rechten Fleck. Der Leser kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie man gehandelt hätte, wenn man in Jakobs Haut gesteckt hätte. Und so beginnt man, zu denken, zu überlegen, ohne dass man es bewusst merkt und geht mit vielen neuen Eindrucken und etwas weiser aus der Lektüre hervor.

    Somit ist "Jakob der Lügner" ein rundherum tolles Buch, das sich jedem empfehlen lässt, der sich in der Sprache zurechtfinden kann.


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    4ratten

    //Grösser ist doof//

  • Jurek Becker "Jakob der Lügner"



    Jakob, der unter Nazibewachung in einem polnischen Ghetto lebt, gerät eines Abends in eine missliche Lage, die zur Folge hat, dass ihm Informationen über den Frontverlauf und den sowjetischen Vorstoß gegen die Deutschen zu Ohren kommen.
    Getrieben von dieser hoffnungsschwangeren Neuigkeit vertraut er diese seinem Arbeitskollegen Mischa an. Da dieser ihm nicht glauben will, es aber noch viel weniger tun würde, wenn er die tatsächliche Quelle dieser Information aus jenem Abend genannt bekäme, greift Jakob zu einer Notlüge: Er hätte ein Radio.
    Diese Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Ghetto und von nun an warten die armen Seelen täglich auf neue Nachrichten aus Jakobs Munde, die ihnen Hoffnung auf eine baldige Befreiung durch die Russen geben. Jakobs Lüge hingegen wird zum Selbstläufer mit immer untragbarerem Risiko und schwerwiegenden Folgen.


    Die Geschichte wird von einem Ich-Erzähler erzählt, ebenfalls ein Ghetto-Häftling, jedoch kein eigenständiger Charakter. Jurek Becker hat diese Gestalt vornehmlich als Brücke zum Leser benutzt und so bekommt man die Geschichte einerseits wertfrei erzählt und hat andererseits den Blick von innen, da auch der Ich-Erzähler das Ghetto bewohnt.
    Der Autor vergeudet nicht viel Zeit und schon auf den ersten Seiten erfährt man, wie Jakob in diese Notlüge stolpert. In nüchternem Ton geht es dann auch direkt weiter, unnötige Längen gibt es in diesem Buch keine und die Personen sind so dermaßen weich und v.a. menschlich gezeichnet, dass sie einem einfach ans Herz wachsen müssen.
    So ist man dann auch von der ersten Seite an zum Weiterlesen „verdammt“.
    Jurek Becker benutzt eine einfache, klare Sprache, die einem das Lesen sehr angenehm macht. Man kann sich problemlos in die Charaktere und ihre Emotionen hinein fühlen, mitfühlen und mitfiebern. Die Hoffnung der Ghettobewohner, meines Erachtens das zentrale Thema dieser Geschichte, überträgt sich auch auf den Leser und man erliegt beinahe dem Glauben, Jakobs Lüge könne sich doch noch als wahr herausstellen und die erhoffte Rettung kommen. Die Figur des Jakob habe ich bei all ihren Bemühungen, die Hoffnung im Ghetto aufrecht zu erhalten als ein Sinnbild für unantastbare Menschlichkeit empfunden, was auch am Ende der Geschichte noch einmal wunderbar verdeutlicht wird.


    Alles in allem ein Roman, der bewegt, zum Nachdenken anregt und dabei auch noch wunderbar erzählt wird.
    Ebenfalls ist es mir wichtig zu betonen, dass Jurek Becker auf Rührseligkeiten sowie auf moralische Wertungen verzichtet, was ich in Anbetracht des Themas doch außerordentlich finde und sehr schätze.


    5ratten

  • Eine schöne Rezi, Trevor, der ich so wirklich nur zustimmen kann. Ein wirklich tolles Buch!

    //Grösser ist doof//

  • Jurek Beckers Roman „Jakob, der Lügner“ erschien 1969:

    Der Roman schildert die Wochen in einem fiktiven polnischen Ghetto, bevor die dortige Restbevölkerung abschließend in die Vernichtungslager transportiert wird. Die Handlung kann zeitlich mit dem Vorrücken der Roten Armee nach Polen Ende 1943/44 verbunden werden.


    Jakob Heym, ein Ghettobewohner und ehemaliger Imbissbetreiber, wird eine halbe Stunde vor der Ausgangssperre von einem deutschen Grenzposten aufgegriffen und in das Stadtrevier geschickt. Ghettobewohner, die dorthin verbracht oder geschickt werden, kommen in der Regel nicht mehr zurück. Jakob jedoch hat Glück und wird wieder zurückgeschickt, weil es erst halb acht war, als er aufgegriffen wurde. Im Revier erfährt er, dass die Rote Armee bereits auf eine Stadt vorrückt, die nur noch 450 Kilometer vom Ghetto entfernt ist. Als er versucht, diese hoffnungsvolle Nachricht an einen Arbeitskollegen weiterzugeben, glaubt ihm dieser nicht, weil er sich nicht vorstellen kann, dass man ungeschoren aus dem Revier entkommt. Also ersinnt Jakob die Lüge, er habe die Information aus einem versteckten Radio erfahren und löst damit Hoffnung bei den Ghettobewohnern aus. Um diese Hoffnung aufrechtzuerhalten, dichtet Jakob weitere Meldungen vom Vorrücken der Russen hinzu und senkt dadurch die Selbstmordrate im Ghetto, in dem das Leben von Hunger, Verzweiflung und der Willkür der deutschen Aufseher geprägt ist, erheblich. Außerdem erfahren wir Leser von dem alltäglichen Leben im Ghetto, der Zwangsarbeit, um Essen zu erhalten, den unterschiedlichen Charakteren, die hier zwangsweise zusammenkommen, weil sie Juden sind oder jüdische Vorfahren haben, aber sonst überhaupt keine Gemeinsamkeiten haben, wir erfahren von Mut und bewunderswerter Haltung, von junger und von selbstloser Liebe, aber auch von Verzweiflung und Aufgabe.


    Trotz des düsteren Themas gelingt Becker ein kunstvoller und zugleich unterhaltsamer Roman, in dem sogar manchmal Humor aufblitzt. Der Erzähler ist einer oder sogar der einzige Überlebende aus dem Ghetto, der 1967, als Sechsundvierzigjähriger, aus der Erinnerung und durch Recherchen gestützt, die Geschichte von Jakob Heym und seinen wohltätigen Lügen erzählt. Dabei erinnert er uns immer wieder daran, dass Literatur aus Erfahrung und Fantasie gemacht ist: Erlebtes wird durch Vermutetes angereichert, es wird ein „So-könnte-es-gewesen-sein“ aufgebaut. Folgerichtig werden uns auch zwei Enden angeboten, ein Versöhnliches, das Jakobs Lügen Wahrheit werden lässt und die meisten verbliebenen Ghettobewohner erlöst, dem aber Jakob, vermutlich als Ausgleich, geopfert wird – und das aus Erzählersicht wirkliche, die Deportation in die Vernichtungslager.


    Becker wuchs selbst, wenn auch in jüngeren Jahren, im Ghetto von Lodz auf, was man sehr gut an der Authentizität des Geschehens und der Glaubwürdigkeit der Charaktere erkennt, ohne dass man davon ausgehen sollte, dass hier wirkliche Menschen gespiegelt werden. Es wird deutlich, dass es überall solche und solche gibt, dass auch eine Notlage nicht dazu führt, dass alle Menschen gut werden und sich solidarisch verhalten, dass sie aber dennoch zusammenrücken und gemeinsame Gefühle entfalten.


    Mir fällt es immer schwer, Bücher zu lesen, die diese Zeit und die große Schuld, die aus diesem Land entsprungen ist, thematisieren, aber genau deshalb sind solche Bücher auch so wichtig, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Wenn sie dann auch noch so gut geschrieben und zutiefst menschlich sind, kann ich nur hoffen, dass „Jakob, der Lügner“ auch in Zukunft noch ganz viele Leser findet.