Christine Brückner - Wenn du geredet hättest, Desdemona

Es gibt 43 Antworten in diesem Thema, welches 22.799 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Aldawen.

  • Hallo!


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    Inhalt von amazon:


    Kurzbeschreibung
    ˜In ihren ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen setzt Christine Brückner das Jahrhundertlang übliche Bezugs-Verhältnis zwischen Männern und Frauen voraus, um es danach in seiner Absurdität sichtbar zu machen. Und wie das geschieht - mit wieviel Schalksinn. Einfallsreichtum und amüsantes Umkehren aller Verhältnisse! Und immer gegen den Strich gebürstet.˜


    [hr]


    Teilnehmer:


    Bluebell
    Aldawen
    Miramis
    Saltanah
    Portia
    Chalis


    [hr]


    Eine kurze Bitte: Damit das ein bisschen angenehmer zu lesen ist, postet erst, wenn ihr angefangen habt. Die Beiträge "Buch liegt bereit, ich fange heute Abend an" ziehen das ganze immer so sehr in die Länge.


    Interessant für Leserunden-Neulinge ist sicherlich die Leserunden-FAQ. Dort findet ihr auch Informationen z.B. zu Spoilern etc.


    Viel Spaß, fairy

    [size=9px]&quot;I can believe anything, provided that it is quite incredible.&quot;<br />~&quot;The picture of Dorian Gray&quot;by Oscar Wilde~<br /><br />:leserin: <br />Henry Fielding - Tom Jones<br /><br />Tad Williams - The Dragonbone Chair<br /><br />Mark Twai

  • Hallo allerseits,


    gerade habe ich festgestellt, daß es sich bei meinem Exemplar laut Impressum um eine zweite erweiterte Auflage handelt. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbarte mir auch schnell die Zusätze. Ich poste hier mal mein Inhaltsverzeichnis, denn es wäre ja wahrscheinlich auch sinnvoll, daß wir die Reden in annähernd der gleichen Reihenfolge lesen – ich habe zwar nicht den Eindruck, daß da in meiner Ausgabe Umstellungen vorgenommen wurden, aber sicher ist sicher ...



    [li]Ich wär Goethes dickere Hälfte. Christiane von Goethe im Vorzimmer der verwitweten Oberstallmeisterin Charlotte von Stein[/li]
    [li]Wenn du geredet hättest, Desdemona. Die letzte Viertelstunde im Schlafgemach des Felderrn Othello[/li]
    [li]Bist du sicher, Martinus? Die Tischreden der Katharina Luther, geborene von Bora[/li]
    [li]Vergeßt den Namen des Eisvogels nicht. Sappho an die Abschied nehmenden Mädchen auf Lesbos[/li]
    [li]Du irrst, Lysistrate! Die Redue der Hetäre Megara an Lysistrate und die Frauen von Athen[/li]
    [li]Triffst du nur das Zauberwort. Effi Briest an den tauben Hund Rollo[/li]
    [li]Wir sind quitt, Messieurs! Die Kameliendame an >Marionette>, ihre Kleiderpuppe (1. Ergänzung)[/li]
    [li]Eine Oktave tiefer, Fräulein von Meysenbug! Rede der ungehaltenen Christine Brückner an die Kollegin Meysenbug[/li]
    [li]Die Banalität des Bösen. Rede der Eva Hitler, geb. Braun, im Führerbunker (2. Ergänzung)[/li]
    [li]Kein Denkmal für Gudrun EnssKin. Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle[/li]
    [li]Die Liebe hat einen neuen Namen. Die Rede der pestkranken Donna Laurea an den entflohenen Petrarca[/li]
    [li]Wo hast du deine Sprache verloren, Maria? Gebet der Maria in der jüdischen Wüste[/li]
    [li]Die Reise nach Utrecht. Rede einer Ungeborenen (3. Ergänzung)[/li]
    [li]Bist du nun glücklich, toter Agamemnon? Die nicht überlieferte Rede der Klytämnestra an der Bahre des Königs von Mykene[/li]


    Wie sieht das bei Euch aus?


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Hallo Aldawen,


    die Reihenfolge ist bei mir gleich, nur die Ergänzungen fehlen in meiner Ausgabe. Gut, zu diesen Reden kann ich eben keinen Kommentar abgeben, aber du und die anderen Glücklichen, die sie haben, können sie ja vorstellen.


    Ansonsten würde ich vorschlagen, dass wir auf Spoiler verzichten; den Titel der entsprechenden Rede setzt man eh über sein Posting, so dass niemand einen Beitrag lesen muss, zu dem er die Rede noch nicht kennt. Oder was meint ihr dazu?


    Viele liebe Grüße
    Miramis (die natürlich auch gleich heute abend noch anfängt :zwinker:)

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Ich wär Goethes dickere Hälfte


    Dann mach ich mal den Anfang. Da ich manchmal mißtrauisch bin, wenn es um historische Daten geht, habe ich natürlich die Angaben aus der Rede mit meinem Lexikon abgeglichen und es gibt nur den Einwand, daß ich nicht auf 17 Jahre Differenz zwischen Johann und Christiane komme, sondern nur auf 16. Die Altersabstände ergeben sich aus folgenden Geburtstagen:


    Charlotte von Stein: 25.12.1742
    Johann Wolfgang von Goethe: 28.08.1749
    Christiane von Goethe: 01.06.1765


    Zu Charlotte von Stein verrät mein Lexikon noch, daß sie seit 1764 mit dem herzoglichen Stallmeister Friedrich Freiherr von Stein verheiratet war und ihr Freundschaftsverhältnis zu Goethe von 1775 bis zum Ende seiner ersten Italienreise 1788 andauerte. Da sie selbst Schriftstellerin war, verarbeitete sie die Trennung in einer Tragödie namens »Dido«, die aber erst 1867 herausgegeben wurde. Ihre Briefe an Goethe forderte sie von ihm zurück und verbrannte sie.


    Über Christiane von Goethe, geb. Vulpius, heißt es, sie stammte aus bürgerlichen Verhältnissen und hätte sich »durch ihr natürliches Wesen, schlichte Lebensformen und die Kraft ihres Gefühls« ausgezeichnet. Ab 1788 lebte sie mit Goethe als dessen Haushälterin zusammen. Die Trauung erfolgte 1806, nachdem Christiane das Haus bei der Eroberung Weimars gegen französische Marodeure verteidigt hatte.


    Die äußeren Umstände dieser »Dreiecksbeziehung« passen also. Zunächst hat mich irritiert, daß es von Christiane heißt, sie stamme aus bürgerlichen Verhältnissen, und Brückner sie hier von ihrer Arbeit als Seidenblumenmacherin sprechen läßt. Bürgerliches Ideal war ja eigentlich die Hausfrau und Mutter, aber das kann sich auch erst später durchgesetzt haben. Je nachdem, wo die Familie Vulpius im bürgerlichen Spektrum angesiedelt war, kann es auch finanzielle Notwendigkeit gewesen sein.


    Der Bruder, für den Christiane wie sie hier sagt, eine Bittschrift an Goethe überreicht, ist übrigens Christian August Vulpius, selbst Schriftsteller (Ritter- und Schauerromane, Bühnenstücke und volksnahe Lieder) und drei Jahre älter als seine Schwester. Er wurde 1797 durch Goethes Vermittlung Theater- und Bibliothekssekretär in Weimar.


    Interessant finde ich hier vor allem das Zusammenspiel von Formulierung und Inhalt, das Brückner aufzieht. Sie läßt Christiane ja durchaus herzhaft (vulgär will ich gar nicht sagen) sprechen, offenbart aber gleichzeitig durch das, was gesagt wird, daß die Kluft zu Charlotte gar nicht so groß ist, wenn sie z. B. die Einrichtung betrachtet. Im Steinschen Haus wird zwar noch versucht, den äußeren Schein zu wahren (Portwein, Visitenkarteschale usw.), aber der Geruch, die Dielen und anderes zeigen den (kriegsbedingten) Abstieg. Die sexuellen Aussagen wären sicher zur damaligen Zeit für eine Frau aus der Gesellschaftsschicht Charlottes schockierend gewesen, ich halte sie aber für eine frühere Manufakturarbeiterin nicht für abwegig. Zumal Goethe durchaus auch einen Ruf als Frauenheld hat(te) und bestimmt nichts dagegen einzuwenden hatte.


    Ob Charlotte wirklich Verleumdungen und/oder abwertende Bemerkungen über Christiane in Umlauf gebracht hat, dürfte sich kaum mehr nachollziehen lassen, ich weiß darüber auch nichts. Angesichts ihrer Reaktion auf die Trennung von Goethe halte ich es aber nicht für völlig abwegig.


    Insgesamt schafft es Brückner für meinen Geschmack sehr gut, die Unterschiede zwischen den beiden Frauen herauszustellen, die sich im wesentlichen aus gesellschafter Herkunft und Erziehung ergeben. Und Goethe kommt auch ganz anders vor, als die Gipsbüsten in Museen vermitteln :breitgrins:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Ich wär Goethes dickere Hälfte


    Zunächst mal:
    @Aldawen: toll wie du schon recherchiert hast - das finde ich enorm hilfreich für die Lektüre. :klatschen:


    Ergänzen kann ich deine Ausführung vielleicht noch mit dem Todestag von Christiane von Goethe, das war am 6.6.1816. Ich schätze mal, die fiktive Rede könnte zwischen 1815 (da hatte sie einen Schlaganfall) und dem Todesdatum angesiedelt werden. Krank ist sie jedenfalls schon.


    Die ganze Rede hat eine gewissen bittere Ironie zum Inhalt. Christiane weiss, dass sie zwar die Ehefrau, Geliebte und der häusliche Anker des Johann Wolfgang von Goethe ist, aber geistig kann sie ihm nicht das Wasser reichen. Daher gibt es noch diese andere Frau, die Seelengefährtin, auf die sie natürlich ganz schön eifersüchtig ist.


    Und immer wieder versucht sie, ihre Stellung zur rechtfertigen: "Ich hab Ihnen doch nichts weggenommen. Was ich ihm gab, wollten Sie doch nicht hergeben, hattens ja auch gar nicht." Naja, andersrum war es wohl genauso. :zwinker:


    Auf der einen Seite betont Christiane sehr deutlich, dass sie ein bürgerliches Leben führt und ihren Vergnügungen wie Tanz, Theater und Kartenspiel nachgeht; andererseits ist ihr die gesellschaftliche Anerkennung nicht völlig egal - wie ihre Hinweise auf die Herzogin und Madame Schopenhauer beweisen. Und jetzt wird sie nicht mal von der Frau Oberstallmeisterin von Stein empfangen - kein Wunder, dass sie ihrem Ärger Luft macht und dabei noch nebenbei eine Karaffe Portwein niedermacht. :zwinker:


    Mir hat dieses fiktive Eigenportrait der Christiane von Goethe recht gut gefallen - ob diese Rede tatsächlich so oder ähnlich hätte entstehen können, kann ich nicht beurteilen. Amüsant zu lesen war es jedenfalls, und auch die Sprache, die teilweise ziemlich deftig ist und an manchen Stellen auch den thüringischen Dialekt durchblicken lässt, hat mir Spaß gemacht.



    Insgesamt schafft es Brückner für meinen Geschmack sehr gut, die Unterschiede zwischen den beiden Frauen herauszustellen, die sich im wesentlichen aus gesellschafter Herkunft und Erziehung ergeben.


    Die beiden Frauen sind sehr schön gegenübergestellt, da gebe ich dir recht.



    Und Goethe kommt auch ganz anders vor, als die Gipsbüsten in Museen vermitteln :breitgrins:


    Hihi, er war eben außer einem Dichter auch noch ein Mann... :breitgrins: Übrigens war er bei der Beerdigung seiner Ehefrau nicht zugegen. Wie Christiane schon sagt: "Er geht dem Tod aus dem Wege..."
    Aber vielleicht tue ich ihm gerade unrecht und er war auf einer Reise.... :schulterzuck:

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Hallo allerseits :winken: ,


    ich besitze auch eine erweiterte Ausgabe, deren Inhalt mit Aldawens übereinstimmt.


    Ich wäre Goethes dickere Hälfte
    Die erste Rede habe ich heute abend in der U-Bahn gelesen. Leider musste ich feststellen, dass es mir an Hintergrundwissen fehlt. Den Namen Christiane Vulpius hatte ich zwar im Zusammenhang mit Goethe schon mal gehört, hatte aber gedacht, dass die beiden nur kurz vor Goethes Tod zusammen gewesen wären, dass er im hohen Alter seine junge Haushälterin geheiratet hätte. Aus dem Text (und Aldawens Beitrag) geht hingegen hervor, dass er ja erst knapp 40 war, als die beiden sich trafen und dass die Beziehung sich über viele Jahre bis zu Christianes Tod hin erstreckte.


    Sprachlich gefällt mir Christianes Rede hervorragend. Ihre offenherzige, ungekünstelte Ausdrucksweise, die wohl einen Kontrast zu der gepflegten Redeweise des Adels darstellt, lässt sie mir als sympathische. lebensfrohe Person erscheinen, die sich über ihre "niedere Herkunft" und die Missbilligung der feinen Leute durchaus bewusst ist, die aber nicht darunter leidet, sondern zu sich, zu Goethe und ihrer gesamten Lebenssituation steht. Leicht hat sie es aber nicht immer gehabt - auch dies wird aus ihrer Rede deutlich. Als Frau aus einfachen Verhältnissen war sie den Launen des Schicksals (und der Männer bzw. des Mannes) ausgesetzt, ohne viel darüber bestimmen zu können . Was hatte ich denn für eine Wahl? fragt sie rhetorisch. Sie hatte das Glück, an einen einigermaßen anständigen Mann zu geraten, verfügte aber auch über die Fähigkeit, diesen Mann "zu halten", etwas, das nicht allen Frauen gelungen wäre (oder ist).
    Schön dargestellt ist die Doppelmoral der damaligen Gesellschaft: Verliert eine Christiane Vulpius ein Kind, ist das eine Strafe Gottes, geschähe das einer Frau von Stein, so wäre es Gottes unerforschlicher Wille.
    Kein leichtes Leben hatte sie, aber dennoch - es hätte schlechter kommen können. Aber trotzdem - ein bisschen mehr gesellschaftliche Anerkennung hätte ihr sicher gut getan, auch das wird in ihrer Rede deutlich. Immer nur verachtet zu werden tut niemandem gut, auch wenn man (frau) versucht, sich davon nicht unterkriegen zu lassen.


    Ach ja, von einer "Venus Kallipigos" hatte ich noch nie gehört, Wikipedia hilft auch hier weiter.


    Jetzt werde ich erst mal ein bisschen mehr über die drei lesen und morgen ist dann Desdemona an der Reihe.

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Wenn du geredet hättest, Desdemona


    Jetzt geht es also um Othello und Desdemona, und nachdem Aldawen gestern so tolle Einstiegsinfos geliefert hat, werde ich mal versuchen, den Inhalt der Oper "Othello" von Guiseppe Verdi zusammenzufassen. Behilflich ist mir dabei mein Harenberg-Opernführer, den ich sehr gern mag. Die Oper selbst habe ich noch nicht gesehen; von Verdi kenne ich nur "Aida" (das dafür so richtig in der Arena zu Verona).


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    Othello und Desdemona sind ein Paar; er ist ein Befehlshaber der venezianischen Streitkräfte und auf Zypern stationiert, sie ist die Tochter eines venezianischen Senators und ist Othello gegen den Willen ihres Vaters nach Zypern gefolgt.


    Eine weitere wichtige Hauptfigur ist Jago, der ein heimlicher Feind Othellos ist, weil dieser in bei einer Beförderung übergangen hat und stattdessen einen gewissen Cassio zum Hauptmann ernannt hat. Jago, der Intrigant, macht Cassio betrunken und stiftet ihn zu einem Aufruhr an, in dessen Folge Cassio bei Othello in Ungnade fällt. Anschliessend rät Jago Cassio, bei Desdemona vorzusprechen und sie als Fürsprecherin bei Othello einzusetzen. Hintergedanke: er will Othello eifersüchtig machen und impft ihn entsprechend. Jago schwindelt Othello vor, dass Desdemona im Traum Cassios Namen genannt habe und Cassio außerdem ein Taschentuch von Desdemona besitze. In Wirklichkeit hat Jago selbst das Taschentuch, er hat es seiner Gattin Emilia abgeknöpft.


    Nachdem Desdemona ein zweites Mal für Cassio bittet, beschliesst Othello, überzeugt von ihrer Untreue, ihren Tod. Unglücklicherweise kommt auch noch ein Abgesandter Venedigs dazu und teilt ihm mit, dass er von seinem Posten abberufen wird. Als Desdemona dazukommt und ihren Landsmann freudig begrüßt, schlägt Othello sie zu Boden; er denkt, sie ist an der Intrige gegen ihn beteiligt. Jago triumphiert.


    Othello macht sein Vorhaben wahr; er geht in Desdemonas Schlafgemach, wirft ihr ihre vermeintliche Untreue vor und erwürgt sie. Ihre Bitte zuvor, Cassio zu befragen, verneint er mit der Begründung, dass Cassio in einem Duell gefallen sei. Zum Schluss stellt sich heraus, dass Cassion nicht tot ist, sondern das Duell gewohnen hat. Er hätte bezeugen können, dass er und Desdemona nicht ineinander verliebt sind, und zum Schluss erklärt auch Emilia die Sache mit dem Taschentuch. Aber es ist zu spät! Desdemona ist tot, weil sie nicht mehr reden durfte, und Othello sieht als einzigen Ausweg, sich im Schlafgemach seiner Geliebten das Leben zu nehmen. *seufz*


    So. Kommen wir nun zu der Rede, die Christine Brückner ihrer Desdemona in den Mund legt. Ich fand sie sehr eindringlich und aussagekräftig. Nur ein Viertelstunde! Mehr will Desdemona gar nicht, und länger braucht sie auch nicht, um alles zu sagen, was gesagt werden muss. Sie konfrontiert Othello mit seiner Eifersucht, die alles zerstört; nicht nur ihre gemeinsame Liebe, sondern auch ihr Leben. Dabei liebt sie ihn wirklich - hätte sie sich sonst mit ihrem Vater überworfen und wäre Othello in ein fremdes Land gefolgt? Sie appelliert an seinen Verstand, der angesichts der verfahrenen Situation völlig ausgesetzt hat. Sie versucht, ihm die Augen hinsichtlich seines Untergebenen Jago zu öffnen.


    Interessant finde ich auch, dass sie, als sie sich erstmal in Fahrt geredet hat, den Spieß umdreht und ihn fragt, wo denn seine ganzen Taschentücher hingekommen seien. Einfach genial!


    Hihi, und zum Schluss, bevor alle Stricke reissen, setzt sie dann doch auf ihre weiblichen Reize. Das funktioniert immer! Ich kann mir vorstellen, dass es zwischen den beiden eine recht lebhafte Versöhnungsnacht gegeben hätte.


    Nun gut - wir wissen, es kommt alles ganz anders. Einfach wunderbar ist die Idee von Christine Brückner, es diese eine Mal anders enden zu lassen. Mir hat diese Rede wieder viel Spaß gemacht und der Sprachstil ist bei Desdemona natürlich ganz anders als zuvor bei Christiane von Goethe. Ich bin gespannt, ob diese Verwandlungsfähigkeit hinsichtlich der Sprache durch das ganze Buch durch erhalten bleibt.


    Viele liebe Grüße :winken:
    Miramis

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

    Einmal editiert, zuletzt von Miramis ()

  • Wenn du geredet hättest, Desdemona


    Ich erinnere mich noch gut an meine erste Konfrontation mit Othello: Mit ca 13 hatte ich eine Verfilmung im Fernsehen gesehen und war entsetzt. Ja hat der denn noch alle Tassen im Schrank? Was regt der sich über ein jämmerliches Taschentuch so auf? Und dann bringt er sie auch noch um! Also so was :vogelzeigen: !
    Verständnis für Othellos Handeln fehlte mir damals total und wenn ich auch jetzt, 30 Jahre später, in gewisser Hinsicht verstehen kann, welche Motive Othello getrieben haben, hat meine damalige Reaktion doch ihre Berechtigung. Wie kann man einem Taschentuch (oder falschen Freunden) mehr vertrauen als seiner geliebten Frau? Auch mir hat es gut gefallen, wie Brückner gerade das Taschentuch verwendet, um Othello seine Idiotie vorzuführen: "Und wo ist DEIN Taschentuch, das ich dir gab?" Eigentlich simpel, aber in der Einfachkeit genial und sehr deutlich.
    Nachdem ich heute morgen in der U-Bahn Desdemonas Rede gelesen hatte, nahm ich mir vor dem Schlafengehen (Nachtarbeit, ihr wisst schon) die entsprechende Szene (5. Akt, Beginn der 2. Szene) bei Shakespeare noch einmal vor. Anfangs war ich enttäuscht, da mir schien, dass Brückners Sprache nicht an Shakespeares angelehnt sei, aber beim 2. Lesen heute abend fiel mir auf, dass man auch Brückners Text schön deklamieren kann. Man könnte auch ihn gut in Versen drucken, wodurch die Ähnlichkeit mit Shakespeare deutlicher würde.
    Dass Brückner gerade Desdemona sprechen ließ, finde ich sehr passend. Denn bei Shakespeare sagt sie in ihrer Todesszene sehr wenig. Sie bittet noch um einem (kurzen) Aufschub (der ihr nicht gewährt wird), aber im Großen und Ganzen ergibt sie sich ihrem Schicksal. Auf Othellos "Ich werde dich töten" antwortet sie einfach "Dann möge sich der Himmel meiner erbarmen". Eine sonderbare Reaktion, meiner Meinung nach. Wo sind der Schock, die Empörung, das Unverständnis? Brückners Desdemona fragt an einer Stelle, ob sie vielleicht sterben muss, weil sie dem weiblichen Verhaltensregeln zu sehr gefolgt sei, und das scheint mir bei Shakespeare in ihrer sofortigen Akzeptanz ihres Todes bestätigt zu werden. Sie versucht noch nicht einmal, sich zu wehren, nicht einmal mit Worten, sondern ergibt sich (als "gute", "richtige" :rollen: Frau) in ihr Schicksal. Ihr fehlt es definitiv an "Frauenpower" und die bekommt sie hier nachträglich von Brückner. Schön!


    Jetzt werde ich erstmal das gesammte Shakespeare'sche Stück lesen und dann mit Katharina weiter machen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Tja, Not macht erfinderisch... :breitgrins:


    Da ich, wie ihr wisst, mit den Klassikern nicht auf gutem Fuß stehe und hier großen Nachholbedarf habe, ist mir glatt entgangen, dass der eigentliche geistige Urheber des Othello niemand anders als Shakespeare war. Mir ist Othello nur als Oper ein Begriff, deswegen mein Griff nach dem Harenberg. :redface:
    Shakespeare und die Leserundenteilnehmer mögen mir meine unzureichendes Wissen verzeihen. :unschuldig:


    Jetzt bin ich wieder ein Stück schlauer und bin schon gespannt, ob Saltanahs Lektüre uns noch weitere Erkenntnisse hinsichtlich der armen Desdemona bringt.


    Und wende mich ebenfalls der Katharina zu... :zwinker:

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Hallo,


    der guten Desdemona werde ich mich jetzt gleich zuwenden, aber schon mal vorab:



    Da ich, wie ihr wisst, mit den Klassikern nicht auf gutem Fuß stehe und hier großen Nachholbedarf habe, ist mir glatt entgangen, dass der eigentliche geistige Urheber des Othello niemand anders als Shakespeare war.


    Nein, das war er nicht, er hat nur gut »geklaut« und sich auf eine Novelle von Giambattista Giraldi (geb. 1504 in Ferrara, gest. ebd. 1573) bezogen. Mein Lexikon sagt zu Giraldi in diesem Zusammenhang, daß er mit insgesamt 113 Novellen stark moralisierender Tendenz (italienischer Titel: »Gli hecatommithi«) an Boccaccio anknüpfte. Übrigens hat Shakespeare auch seinen Stoff für »Measure for measure« von einer Giraldi-Tragödie (»Epitia«). Nichts gegen Shakespeare, aber so einfach machen wir's ihm ja auch nicht :breitgrins:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Wenn du geredet hättest, Desdemona


    Das schöne an diesen Texten ist, daß man immer mal einen zwischendurch lesen kann ...


    War mir hier besonders aufgefallen ist und auch gut gefallen hat: Desdemona schafft es immer wieder, ihre Vorwürfe gegen Othello nicht direkt als solche zu formulieren, sondern als Fragen bzw. Aussagen, die ihm die Armseligkeit seines eigenen Verhaltens deutlich machen (können), sofern sie nicht gar kurz vor der Beleidigung sind. Ersteres z. B. noch ziemlich am Anfang: Wenn du behauptest, Desdemona war untreu, dann belieidigst du den, den sie liebt. Da muß ein wütender Othello sicher erst mal einen Moment drüber nachdenken, im Gegensatz zu den deutlicher formulierten Fragen: Sitzt denn in diesem großen schönen Kopf so wenig Verstand? (Eine Frage, die ich auf Grund der Gesamtsituation eindeutig mit "Ja!" beantworten würde :breitgrins:) oder Kennst du deinen Wert nicht, Othello? Zumindest drängt sie ihn damit erst einmal in bißchen in Defensive, um weitersprechen zu können. Erst danach versucht sie, Othello Jagos Hinterlist vor Augen zu führen. Sie schätzt Jago nämlich durchaus richtig ein, wie wir wissen, wenn sie sagt, daß dieser klüger als Othello sei, wenn Verschlagenheit Klugheit bedeute. Hui, das ist für einen erfolgreichen Feldherrn bestimmt auch kein Zuckerschlecken, sich so etwas von seiner Frau sagen lassen zu müssen. Danach schlägt sie den Bogen zurück zum Anfang ihrer Rede, wenn sie Othello die Konsequenzen seiner geplanten Tat vor Augen führt (Mörder zu sein, von Venedig verfolgt, vor Gericht gestellt usw.) Und obwohl Verweise auf die Hautfarbe die ganze Rede über immer mal aufblitzen, kommt sie erst kurz vor Ende auf eine vielleicht auch kulturelle Differenz zu sprechen, die sich in den Gebetsgewohnheiten spiegelt. Das ist schon raffiniert aufgebaut!



    Interessant finde ich auch, dass sie, als sie sich erstmal in Fahrt geredet hat, den Spieß umdreht und ihn fragt, wo denn seine ganzen Taschentücher hingekommen seien. Einfach genial!


    Dieser Schachzug ist toll, funktioniert aber erst bei einem »abgekühlten« Othello. Hätte sie mit diesen Gegenvorwürfen begonnen, wäre aus der Viertelstunde sicher nur eine Minute geworden.



    Hihi, und zum Schluss, bevor alle Stricke reissen, setzt sie dann doch auf ihre weiblichen Reize. Das funktioniert immer! Ich kann mir vorstellen, dass es zwischen den beiden eine recht lebhafte Versöhnungsnacht gegeben hätte.


    *zustimm*


    Dieser Text war für mich eigentlich immer eines der überzeugendsten Beispiele für den Untertitel des Buchs und darin speziell die »ungehaltenen Reden«. Da deckt sich mein Empfinden mit Saltanah:



    Dass Brückner gerade Desdemona sprechen ließ, finde ich sehr passend. Denn bei Shakespeare sagt sie in ihrer Todesszene sehr wenig. Sie bittet noch um einem (kurzen) Aufschub (der ihr nicht gewährt wird), aber im Großen und Ganzen ergibt sie sich ihrem Schicksal. Auf Othellos "Ich werde dich töten" antwortet sie einfach "Dann möge sich der Himmel meiner erbarmen". Eine sonderbare Reaktion, meiner Meinung nach. Wo sind der Schock, die Empörung, das Unverständnis? Brückners Desdemona fragt an einer Stelle, ob sie vielleicht sterben muss, weil sie dem weiblichen Verhaltensregeln zu sehr gefolgt sei, und das scheint mir bei Shakespeare in ihrer sofortigen Akzeptanz ihres Todes bestätigt zu werden. Sie versucht noch nicht einmal, sich zu wehren, nicht einmal mit Worten, sondern ergibt sich (als "gute", "richtige" :rollen: Frau) in ihr Schicksal. Ihr fehlt es definitiv an "Frauenpower" und die bekommt sie hier nachträglich von Brückner. Schön!


    Zum schwarzen Othello noch eine Anmerkung. Vielfach wird er ja auch als »Mohr« bezeichnet, was im Deutschen schon eher auf Schwarzafrikaner verweist. Allerdings wäre das in der Konstellation eher ungewöhnlich, als Feldherr wäre er dann wohl nicht in Frage gekommen. Wahrscheinlicher ist es, daß es sich um eine ungenaue Übertragung des italienischen Wortes »moro« handelt, das tatsächlich unserem »Mauren«, also den Arabern (speziell auf der iberischen Halbinsel) und Berbern Nordafrikas, entspricht.




    Anfangs war ich enttäuscht, da mir schien, dass Brückners Sprache nicht an Shakespeares angelehnt sei, aber beim 2. Lesen heute abend fiel mir auf, dass man auch Brückners Text schön deklamieren kann. Man könnte auch ihn gut in Versen drucken, wodurch die Ähnlichkeit mit Shakespeare deutlicher würde.


    Diese Rede läßt sich hervorragend auf eine Bühne bringen und präsentieren, ich hab es schon mal gesehen, in einem kleinen, freien Theater. Eine Schauspielerin brachte mit minimaler Kulisse und sonstigen Hilfsmitteln Desdemona, Christiane von Goethe, Megara, Gudrun Ensslin, Maria und Klytemnästra vor. Es war ein genialer Abend!


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Nein, das war er nicht, er hat nur gut »geklaut« und sich auf eine Novelle von Giambattista Giraldi (geb. 1504 in Ferrara, gest. ebd. 1573) bezogen. Mein Lexikon sagt zu Giraldi in diesem Zusammenhang, daß er mit insgesamt 113 Novellen stark moralisierender Tendenz (italienischer Titel: »Gli hecatommithi«) an Boccaccio anknüpfte. Übrigens hat Shakespeare auch seinen Stoff für »Measure for measure« von einer Giraldi-Tragödie (»Epitia«). Nichts gegen Shakespeare, aber so einfach machen wir's ihm ja auch nicht :breitgrins:


    Das ist ja noch viel verzwickter als ich dachte.... :ohnmacht:
    Ok, dann ist meine geklaute Oper vielleicht doch nicht das Verkehrteste, um sich eine Grundlage für Christine Brückners Text zu verschaffen. :breitgrins:



    Das ist schon raffiniert aufgebaut!


    @Aldawen: toll, wie du den Text auseinandernimmst; ich werde ihn unter den von dir vorgebrachten Gesichtspunkten gleich nochmal lesen. :zwinker:



    Dieser Schachzug ist toll, funktioniert aber erst bei einem »abgekühlten« Othello. Hätte sie mit diesen Gegenvorwürfen begonnen, wäre aus der Viertelstunde sicher nur eine Minute geworden.


    *zustimm* :zwinker:



    Diese Rede läßt sich hervorragend auf eine Bühne bringen und präsentieren, ich hab es schon mal gesehen, in einem kleinen, freien Theater. Eine Schauspielerin brachte mit minimaler Kulisse und sonstigen Hilfsmitteln Desdemona, Christiane von Goethe, Megara, Gudrun Ensslin, Maria und Klytemnästra vor. Es war ein genialer Abend!


    Das kann ich mir gut vorstellen! Auch eine Herausforderung für die Schauspielerin, weil sie sich in so viele verschieden Rollen einfinden muss.

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Guten Morgen!


    Die Wieholek von Shakespeares Othello hat länger gedauert als erwartet, aber jetzt habe ich sie beendet. Es fällt mir immer noch schwer, Othellos Eifersucht ("das grünäugige Ungeheuer") wirklich nachzuvollziehen. Zwar ist Jago ein sehr geschickter Manipulator, aber seine "Beweisführung" von Desdemonas Untreue ist so löcherig, dass sie mit ein bisschen kritischem Nachdenken doch durchschaut werden könnte. Andererseits gehen auch alle anderen Figuren Jago auf den Leim und selbst seine Ehefrau versteht erst ganz am Ende des Dramas, welch ein Mensch Jago eigentlich ist. Von daher widerspricht Brückners Desdemona der Shakespeare'schen, wenn sie Jago verdächtigt, seine Hand im Spiel zu haben. Auch sie vertraute ihm und bat ihn darum, zwischen ihr und Othello zu vermitteln. Aber da ja die gesamte Rede Desdemonas dem Shakespeare'schen "Original" (der die Idee ja ebenfalls geklaut hatte :breitgrins: ) widerspricht, stört mich diese Diskrepanz nicht. Brückners Desdemona ist eben unabhängiger, klüger, selbstbewusster als ihr Vorbild.


    Bist du sicher Martinus?
    Auch hier bei Katharina Luther fehlt es mir an Vorkenntnissen. Einziges Wissensfragment war die Tatsache, dass sie eine dem Kloster entflohene Nonne war. Weitere (aber noch viel zu oberflächliche) Informationen lieferte mir Wikipedia, wo man sich auch das angesprochene Bild von Lucas Cranach (das mit den schrägen Augen und den hochstehenden Backenknochen) angucken kann.
    Immerhin zeigt der Artikel einige Parallelen zu Brückners Text. Der riesige Haushalt, dem Katharina vorsteht, die Studenten, die sie verköstigt, um die Haushaltsfinanzen aufzubessern, das selbstgebraute Bier und anderes ist also nicht Brückners Phantasie entsprungen. Das hatte ich allerdings auch nicht erwartet. Schon in den anderen Reden zeigt sich ja, dass sie sich an die "äußeren" Tatsachen hält.
    Leider weiß ich nichts über das persönliche Verhältnis zwischen Katharina und Martin; dazu müsste man wohl Biographien der beiden lesen. Könnt ihr gute Werke empfehlen?


    Gut gefallen hat mir die Parallele zwischen Katharinas weltlichem Leben und den Verhältnissen im Kloster. Auch nach ihrer Flucht entkommt sie "Armut, Gehorsam und Keuschheit" nicht. Für die Armut sorgt Luthers Freigiebigkeit, Gehorsam fordert er ganz selbstverständlich von seiner Frau - die Machtverhältnisse sind auch in diesem Haushalt die üblichen - und was die Keuschheit angeht, so spukt weiterhin die christliche Sexualfeindlichkeit, der sich auch Luther nicht entziehen kann (oder will?).
    Nicht ganz zustimmen kann ich Katharinas Aussage Ich habe keine Wahl gehabt, Martinus. Du warst der erste und bist der beste erst geworden. Ihre große Lebenswahl traf sie ja mit der Flucht aus dem Kloster (worüber ich sehr gerne mehr wissen würde). Was für ein Schritt! Darin zeigt sich eine Stärke, die ich bewundere und die auch in Brückners Text ihren Widerhall findet. Trotzdem aber: "die Frau sei dem Manne (und Katharina ihrem Martinus) untertan". Dies ist die eigentliche Tragik von Katharinas Leben.
    Wunderbar ist Katharinas Aussage zu Martins Gebrauch der besitzanzeigenden Fürwörter :breitgrins: . Hier würde ich gerne wissen, ob Brückner in ihren Quellen irgendwelche Hinweise dazu gefunden, oder ob sie es sich ausgedacht hat.
    Einen Augenöffner, der nun gar nichts mit den Luthers zu tun hat, bescherten mir Katharinas Ausführungen zu der Fastenzeit. Vor leeren Tischen ist gut fasten. Natürlich! Es ist kein Zufall, dass die Fastenzeit im Spätwinter/frühen Frühling liegt, zu der Zeit also, wo die Vorratskammern leer, neue Nahrungsmittel aber noch nicht vorhanden sind. Durch Romane, die im Nordschweden des beginnenden 20. Jahrhunderts spielen, wurde mir klar, wie schwer gerade die Zeit war, in der sich der Frühling ankündigt. Wie sehr gerade dann gehungert wurde, aber an die zeitliche Parallele zur Fastenzeit hatte ich noch nie gedacht.


    Also wieder eine lesenswerte Rede aus Brückners Feder. Heute abend oder morgen geht es dann weiter mit Sappho (von der ich leider auch nichts weiß :rollen: ).



    Eine Schauspielerin brachte mit minimaler Kulisse und sonstigen Hilfsmitteln Desdemona, Christiane von Goethe, Megara, Gudrun Ensslin, Maria und Klytemnästra vor. Es war ein genialer Abend!


    Ach, was werde ich neidisch. Die Aufführung hätte ich auch gerne gesehen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Noch ein Nachtrag zur ersten Rede, der von Christiane Vulpius/Goethe:
    Gerade habe ich hier im Forum die Rezension einer Christiane-Biographie entdeckt. Klingt vielversprechend!

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Bis du sicher, Martinus?


    Und wieder eine ungehaltene Frau, diesmal ist es Kathrina Luther, geborene von Bora.


    Ich habe auch erst einmal den wikipedia-Text gelesen (danke fürs Verlinken, Saltanah!), bevor ich mich an die Tischrede gemacht habe.


    Gleich von Anfang an redet sie sich richtig in Rage. Neudeutsch würde ich sagen: sie ist mit der Gesamtsituation unzufrieden. :breitgrins:


    Nach ihrer Flucht aus dem Kloster hatte sie gehofft, sämtliche Fesseln endlich abstreifen zu können, und nun ist sie in einer ganz ähnlichen Lage wie zuvor, nur dass sie umso härter arbeiten muss. "Zwanzig brave Nönnlein, die wenig essen und viel beten, wären eine Kleinigkeit." Stattdessen führt sie ihrem Martinus den Haushalt, der ein wahres Sammelsurium an gestrandeten Existenzen darstellt. Und alle wollen verköstigt werden....


    Aus Katharina spricht eindeutig der typische Hausfrauenfrust; ihr Mann macht "Karriere" als Reformator, und sie, die den ganzen Haushalt beisammen hält und sich abrackert, damit der gnädige Herr und sein Anhang nie zu kurz kommen, sie findet keine Anerkennung. Vor allem nicht bei ihm, das wäre ihr das Allerwichtigste. "Du hast ein gutes Werk an mir getan. Das weiß ich. Aber habe ich nicht im Laufe der Jahre auch manch gutes Werk an dir getan?" Nicht einmal der Cranach malt sie so, dass sie neben ihrem Luther bestehen kann. Was für ein Frust!


    Dann kommt noch ein weiter Punkt dazu: auch in geistiger Hinsicht ist Luther der absolute Hausherr und das Maß der Dinge. Dabei hat sie auch ein nicht geringes Wissen, nur eben auf anderen Gebieten als in der Religion. Sie weiß, welche Kräuter gegen welche Gebrechen helfen, sie hat Lebensweisheiten parat, sie denkt vorausschauend. "Frauen sind anders. Sie blicken voraus und weniger zurück. Gott hat uns die Augen vorn angebracht, damit wir nach vorn blicken und nicht nach hinten. Du wirst aus Schaden klüger und ich aus Vorsicht. Was sind wir beide doch für kluge Leute!" Nur findet ihre spezielle Klugheit unter Luthers Augen keine besondere Beachtung, er hält das alles vermutlich für selbstverständlich.


    Gegen die vielen Studenten am Esstisch hegt Katharina auch einen gewissen Groll; sie hängen an Luthers Lippen und schreiben seine Worte sofort nieder, um sie alsbald drucken und verlegen zu lassen, womit sie ein gutes Geld verdienen. Katharina dagegen muss sich immer neue Tricks einfallen lassen, um die ganze Bande satt zu bekommen, und gerade jetzt ist die von Saltanah bereits erwähnte Fastenzeit - freiwillig oder unfreiwillig, das weiss man nicht so genau... :zwinker: Aber da kann man schon mal einen Groll bekommen an Stelle der armen Katharina.


    Je weiter sie sich in ihren Zorn redet, desto tiefer blicken wir in ihre Seele. Da ist plötzlich das verstorbene Kind, das sie zum Weinen bringt; eine Wunde, die wohl immer wieder aufreisst. "Ich beuge mich, und ich richte mich auch wieder auf. Wenn nur der Kummer, den ich im Herbst eingrabe, mir nicht im Frühling aufgeht." Da sind noch mehr unverdaute Päckchen, die sie mit sich herumträgt: die wohlgeformte Magd, der Luther so gerne nachschaut; die Schönfeld-Schwester, die er eigentlich heiraten wollte und nicht bekommen hat.


    Und zum Schluss seine Aufforderung, sie müsse mehr beten und in der Bibel lesen. Ja wie denn, wenn sie die ganze Zeit arbeiten muss und nicht zur Ruhe kommt. "Bete du nur! Bete für mich, und ich arbeite für dich. Ora et labora, wie wir's gelernt haben, du in deinem Kloster, ich in meinem." Außerdem empfindet sie ihr Wirken als gleichwertig mit einem Gebet und versucht ihm das zu erklären.


    Aber es stellt sich heraus, dass ihre Rede ganz umsonst war - Martinus schläft den Schlaf der Gerechten und hat daher überhaupt nicht zuhören können... :rollen:


    Dafür haben wir Katharina Luther in diesem Kapitel unsere ganze Aufmerksamkeit geschenkt. Das hat sie sich wahrlich verdient. :zwinker:

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Bist du sicher, Martinus?


    Nachdem bei Desdemona besonders deutlich wurde, warum im Untertitel des Buches „ungehaltenen Reden“ auftauchen, ist es hier der Beleg für die „ungehaltenen Frauen“. Katharina haut ihrem Martinus ja einiges an Vorwürfen um die Ohren, und das völlig zurecht. Sie rackert sich mit dem Riesenhaushalt ab, damit der große Herr Reformator in seinem Studierzimmer sitzen kann und schöne Weisheiten zum Predigen aufschreibt, an die er sich dann selbst nicht hält, wie Katharina uns verrät: Ich mag's nicht leiden, daß mein Gemahl was anderes lebt, als er schreibt. Könnte man das nicht Bigotterie nennen? :zunge:


    Schön finde ich auch, wie Katharina Martin immer wieder an seine Stellung in der Gesellschaft erinnert. Er ist eben kein einfacher, unbekannter Mönch mehr. Er ist Teil der Obrigkeit geworden, über die er wohl gerne mal klagt. Gut, die Wittenberger danken es ihm vielleicht wenig, aber seine Worte werden gehört und deshalb muß er sie sorgfältig wägen. Katharina versucht in Brückners Rede, Martin ein paar Zugeständnisse an die Rolle der Frau in einer Ehe aus den Rippen zu leiern. In dieser Form einer Vorkämpferin für Frauenrechte gefällt mir Katharina sehr gut! Auch aus dem von Saltanah verlinkten Wikipedia-Artikel ergibt sich für mich das Bild einer selbstbewußten, tatkräftigen Frau, ich nehme ihr ihre deutlichen Worte in dieser Rede daher durchaus ab.


    Bei Martins Gebrauch der Possessivpronomen habe ich genauso geschmunzelt wie Saltanah. Ich kann es förmlich hören, wie die Sätze aus Luthers Mund kommen. Die Aussagen zur Fastenzeit muß ich beim letzten Lesen irgendwie überlesen haben, aber natürlich ist es naheliegend, daß diese in der Zeit des größten materiellen Mangels im Jahr stattfindet. Das Einkaufen in ständig gefüllten Supermärkten entfernt einen doch ziemlich von der jahreszeitabhängigen Lebensmittelproduktion ...



    Je weiter sie sich in ihren Zorn redet, desto tiefer blicken wir in ihre Seele. Da ist plötzlich das verstorbene Kind, das sie zum Weinen bringt; eine Wunde, die wohl immer wieder aufreisst. (...) Da sind noch mehr unverdaute Päckchen, die sie mit sich herumträgt: die wohlgeformte Magd, der Luther so gerne nachschaut; die Schönfeld-Schwester, die er eigentlich heiraten wollte und nicht bekommen hat.


    Ja, das fand ich auch eine gelungene Steigerungsform. Bis dahin konnte man davon ausgehen, daß es tatsächlich eher eine ausgeprägte Form von „Hausfrauenfrust“ ist, wie Du das weiter oben genannt hast. Aber hier zeigt sich, daß es an Luther noch mehr zu kritisieren gibt. Als Kirchenkritiker und Reformator mag er ja ein „großer Mann“ gewesen sein, als Ehemann aber – zumindest in diesem Text – nicht gerade ein Prachtexemplar, im Gegenteil. Da verstehe ich dann auch Katharinas Bitte am Anfang: Ich brauche eine weitere Bitte im Vaterunser. Ich bete jeden Morgen, meinen täglichen guten Willen gib mir heute! Aber er reicht nicht jeden Tag bis zum Abend. Das kann ich unter diesen Umständen nachvollziehen.


    Wieder eine sehr gelungene Darstellung einer außergewöhnlichen Frau, der ich hier gerne zugehört habe.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Hallo ihr zwei,


    tut mir leid, dass ich mich seit Tagen nicht gemeldet habe, aber nachdem mein Internetzugang endlich wieder funktioniert, spinnt jetzt der Computer. Keine Ahnung, wann (ob) ich den wieder zum Laufen bringe. Ich melde mich, sobald ich kann.


    Tschüß, Saltanah

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Huhu Saltanah,


    so ein Mist... :grmpf:, aber mach dir keinen Kopf, es fehlen sowieso noch einige Gesichter in dieser Leserunde. Wir brauchen uns also nicht zu hetzen. :zwinker:


    Ich drücke mal fest die Daumen, dass du deine technischen Probleme in den Griff bekommst. :smile:


    Viele liebe Grüße
    Miramis

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Hallo ihr zwei :winken: ,
    Computer läuft wie 'ne eins, Wikipedia zu Sappho ist gelesen, Brückners Sappho-Rede werde ich heute nachmittag wielen und heute abend (oder morgen) gebe ich meinen Senf dazu ab.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Huhu, :winken:


    ich habe Sapphos Rede schon zweimal gelesen und kann immer noch nichts damit anfangen... :schulterzuck:
    Vielleicht ein drittes Mal lesen? :zwinker:


    Vergeßt den Namen des Eisvogels nicht!


    So richtig ungehalten ist sie ja nicht, eher schwermütig und fast schon depressiv. Vordergründig trauert sie ihren Mädchen nach, die sie auf der Insel Lesbos mit Tanz, Kunst und Gedichten erzogen hat und die nun ins "richtige" Leben, sprich ins Eheleben versetzt werden.


    In Wirklichkeit ist es aber doch ihre eigene vergangene Jugend, um die es Sappho geht; sie ist schon lange vorbei und lässt sich nicht mehr zurückholen. Die Angst vor dem Alter und dem Verfall macht ihr zu schaffen, aber damit steht sie doch nicht alleine da, diese Phase erlebt jeder Mensch irgendwann einmal (außer er stirbt schon jung). Für mich ist das ein vorübergehender Anfall von Weltschmerz, den die gute Sappho da erleidet und in ihrer Rede zur Sprache bringt. Ob sie darüber hinaus Grund hat, ihr Leben zu beklagen, das wage ich zu bezweifeln.


    Also so richtig kann ich mich in ihre Lage nicht hineinversetzen, vielleicht könnt ihr mir ein bisschen auf die Sprünge helfen? Vielleicht brauchen große Dichter und Dichterinnen solche Tiefs, um kreativ zu sein?

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

    Einmal editiert, zuletzt von Miramis ()