[Sudan] Tajjib Salich - Zeit der Nordwanderung

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    Kurzbeschreibung laut Amazon:

    Mit diesem Roman wurde der sudanesische Autor Tajjib Salich weltberühmt.
    Mit grosser Sprachkraft und formaler Raffinesse beschreibt Tajjib Salich in Zeit der Nordwanderung das Aufeinanderprallen zweier Kulturen.
    Schauplatz des Romans ist ein kleines Dorf am Nil, eine archaische Welt mit Jahrtausende alten überlieferten Werten. Dort lebt Mustafa Said, der gutaussehende 50jährige "Fremde", dessen Geschichte keiner kennt. Eines Tages jedoch holt ihn seine Vergangenheit ein, und er gibt einem jungen Mann, der soeben seine Studien in England beendet hat, sein Geheimnis preis. Im Vertrauen erzählt er ihm von seiner "Nordwanderung", die ihn über Kairo nach London führte, von seiner glänzenden akademischen Karriere, von seinen erotischen Abenteuern, die allesamt tragisch endeten.



    Aldawen, Nikki und ich haben beschlossen, dieses Buch in einer spontanen Minileserunde zu lesen. Eine absolute Besonderheit stellt die Tatsache dar, dass wir drei das Buch in drei verschiedenen Übersetzungen lesen: Aldawen liest es auf deutsch, Nikki auf englisch und ich auf schwedisch (wobei ich auch die englische Übersetzung hier liegen habe). Mal schauen, ob uns die unterschiedlichen Übersetzungen zu unterschiedlichen Auffassungen des Buches bringen. Möglich wäre dies, da jede Übersetzung ja gleichzeitig auch eine Interpretation des Werkes ist, schon.


    Das 1. Kapitel/den ersten Abschnitt habe ich schon gelesen. (In meinem schwedischen Buch sind die einzelnen Abschnitte durchnummeriert, in der englischen beginnen sie jeweils auf einer neuen Seite und sind dadurch markiert, dass die erste Zeile kursiv und in größeren Buchstaben gedruckt ist.) Wie ist das im Deutschen, Aldawen?


    Der Ich-Erzähler (noch namenlos) ist nach 7 Jahren, in denen er in London studiert hat, in sein sudanisches Heimatdorf zurückgekehrt. Wunderschön finde ich es beschrieben, wie "das Eis in seiner Brust schmilzt", als er endlich wieder in die Geborgenheit seiner Familie und der Dorfgemeinschaft zurückgekehrt ist. Der psychische Stress, den ein Aufenthalt in der Fremde mit sich bringt, wird so deutlich. Nun schmilzt er weg, der Erzähler findet zu seinen Wurzeln zurück und stellt befriedigt fest, dass "die Welt sich nicht verändert hat".
    Hierbei frage ich mich allerdings, ob das so ohne weiteres stimmt, oder ob er in der Freude über seine Rückkehr nicht etwas übersehen hat. Hat sich wirklich nichts im Dorf verändert, und, vor allem, hat er sich nicht geändert? Mal schauen, ob diese Problematik im Buch noch thematisiert wird.
    Alles ist aber nicht beim Alten im Dorf: ein Fremder, Mustafa, ist vor 5 Jahren dorthin gezogen, niemand weiß genaueres darüber, woher oder wieso. Der Erzähler möchte mehr über ihn in Erfahrung bringen, umso mehr, als er plötzlich merkt, dass auch Mustafa englisch spricht. Die Reaktion des Erzählers auf diese Erkenntnis kommt mir arg übertrieben vor: er ist "entsetzt", empfindet es als "Alptraum". Versteht ihr, wieso?


    Ich frage mich auch, wie alt der Erzähler jetzt ist; an einer Stelle scheint mir deutlich zu werden, dass er die ganze Geschichte mit einem gewissen zeitlichen Abstand erzählt. Das ist die Stelle, an der Mustafa ihn fragt, was er denn studiert habe und er pikiert über diese Frage ist. "Ich war der Meinung, alle 10 Millionen Einwohner dieses Landes hätten von meiner Leistung gehört" und "Ich hatte damals eine ganz schön hohe Meinung von mir selbst". Diese Sätze zeigen zu viel Reflexion über sein früheres Ich, als dass die Ereignisse gerade erst geschehen wären.


    Das erste Kapitel gibt noch einiges her, über das man nachdenken könnte, aber jetzt will ich mich erstmal ein wenig über den Sudan informieren.


    Aldawen, könntest du vielleicht die ersten Sätze des Buches zitieren, vielleicht bis zu "ein Land, in dem selbst die Fische erfrieren"? Ich würde gerne die drei Übersetzungen miteinander vergleichen.



    [size=1]Land im Betreff eingefügt. LG, Aldawen[/size]

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Aldawen ()

  • Hier bin ich!


    Wie Saltanah schon schrieb, wird das hier nicht nur eine Mini-Leserunde, sondern auch ein Experiment in Übersetzungsvergleich. Schade, daß keiner von uns das arabische Original lesen kann, das wäre natürlich noch viel besser :smile:


    Zu Deinen Fragen, Saltanah. Die Abschnitte sind in der deutschen Fassung auch numeriert und beginnen jeweils auf einer neuen Seite. Innerhalb der Kapitel werden einzelne Abschnitte jeweils noch durch zusätzliche Leerzeilen getrennt. Ich hoffe, das ist in Euren Ausgaben auch so, dann lassen sich vielleicht bestimmte Stellen leichter lokalisieren, weil es mit Seitenzahlen ja ganz schlecht gehen dürfte. Die deutsche Fassung hat übrigens 191 Seiten inkl. Nachwort.


    Und hier der Anfang des Romans in der deutschen Übersetzung:


    Nach langer Abwesenheit, meine Herren – nach genau sieben Jahren, die ich in Europa studierte – kehrte ich heim zu meinen Angehörigen. Vieles hatte ich gelernt, und vieles nicht begriffen, aber das ist eine andere Geschichte. Wichtig ist: Ich kehrte zurück, mit grossem Heimweh nach meiner Familie in jenem kleinen Dorf an der Nilbiegung. Sieben Jahre hatte ich mich nach ihnen gesehnt, von ihnen geträumt, und als ich zu ihnen kam, war es schon ein seltsames Gefühl, mich tatsächlich mitten unter ihnen zu befinden. Sie freuten sich, mich zu sehen, und lärmten um mich herum, und es dauerte gar nicht lange, da war mir zumute, als schmelze ein Eisblock in meinem Innern, als sei ich am Erfrieren gewesen und die Sonne schiene warm auf mich herab. Es war die Lebenswärme in der Sippe, die ich so lange Zeit in Ländern vermisst hatte, „wo die Fische vor Kälte sterben“.


    Jetzt hätte ich aber auch gerne mindestens die englische Fassung zum Vergleich :breitgrins:


    Dieses erste Kapitel bringt eine wunderbare Stimmung herauf. Als der Erzähler von seiner Kindheit und Jugend spricht, macht das einen sehr idyllischen und glücklichen Eindruck, die Freude an den kleinen Dingen, wie einem vorbeifahrenden Dampfer, wird sehr deutlich. Der ganze Tonfall hat etwas leicht Träges, so stelle ich mir den vorbeifließenden Nil vor. Überhaupt faszinieren mich gerade die Natur-Vergleiche. Schon ganz am Anfang, als er über den Wind spricht, der in den Palmen so anders klingt als im Weizenfeld. Ich weiß genau, was er damit meint, weil ich dieses Gefühl auch immer habe, wenn ich z. B. im Winter in Ostfriesland bin. Oder wenn ich auf den Kanarischen Inseln den Wind in den Bananenplantagen rauschen höre ... Und mit in diese Kategorie gehört auch dieser von Saltanah schon angesprochene Punkt:



    Wunderschön finde ich es beschrieben, wie "das Eis in seiner Brust schmilzt", als er endlich wieder in die Geborgenheit seiner Familie und der Dorfgemeinschaft zurückgekehrt ist. Der psychische Stress, den ein Aufenthalt in der Fremde mit sich bringt, wird so deutlich. Nun schmilzt er weg, der Erzähler findet zu seinen Wurzeln zurück



    sudanisches


    Ähem, psssst: [size=6pt]Das Adjektiv heißt sudanesisch.[/size]



    Hierbei frage ich mich allerdings, ob das so ohne weiteres stimmt, oder ob er in der Freude über seine Rückkehr nicht etwas übersehen hat. Hat sich wirklich nichts im Dorf verändert, und, vor allem, hat er sich nicht geändert? Mal schauen, ob diese Problematik im Buch noch thematisiert wird.


    Mit Sicherheit hat sich im Dorf einiges verändert, allein Mustafa ist ja schon ein deutliches Beispiel dafür. Und für ihn wird es auch gelten. Sieben Jahre in einem gänzlich anderen Land gehen doch nicht spurlos an einem Menschen vorbei. Ich denke auch, daß dies noch Thema wird, sobald Mustafa sein Leben enthüllt. Sie dürften Erfahrungen teilen, die die anderen Dorfbewohner nie gemacht haben – da waren ihre Fragen an den Heimkehrer ja schon sehr bezeichnend.



    (...) umso mehr, als er plötzlich merkt, dass auch Mustafa englisch spricht. Die Reaktion des Erzählers auf diese Erkenntnis kommt mir arg übertrieben vor: er ist "entsetzt", empfindet es als "Alptraum". Versteht ihr, wieso?


    In der deutschen Übersetzung ist er nicht entsetzt, sondern erschrocken, was einen qualitativen Unterschied macht und mir auch als Reaktion passend erscheint. Er konnte wirklich nicht damit rechnen, an diesem Ort mit einem englischen Gedicht überrascht zu werden. Es heißt allerdings auch hier: „Mit einem Mal befiel mich ein beklemmendes Gefühl, etwas wie ein Alptraum, als ob wir Männer, die in diesem Zimmer versammelt waren, nichts Reales, sondern nur irgendein Wahn wären.“ Vielleicht hat das etwas mit seinen Erlebnissen in England zu tun. So ohne weiteres kann ich jedenfalls auch keinen Grund für diese Reaktion erkennen.



    Ich frage mich auch, wie alt der Erzähler jetzt ist; an einer Stelle scheint mir deutlich zu werden, dass er die ganze Geschichte mit einem gewissen zeitlichen Abstand erzählt. Das ist die Stelle, an der Mustafa ihn fragt, was er denn studiert habe und er pikiert über diese Frage ist.


    Nicht nur dort. Als er von den Fragen berichtet, die die Dorfbewohner im stellen, spricht er von dem, was er Machdschûb nicht gesagt habe. Er bedauert das: „(...) hätte ich es doch getan, er war gescheit genug.“ Mit Machdschûb ist also seit der Erzählung offensichtlich etwas geschehen, was auch immer (tot? weggegangen?), und es klingt nicht nach etwas gerade eben Geschehenen, eher scheint der Erzähler sich schon einige Zeit Vorwürfe wegen des Nichtgesagten zu machen. Vielleicht gibt es auch einen Bezug zwischen dem, was er nicht gesagt hat und was Machdschûb passiert ist.


    Was mir beim ersten Gespräch zwischen dem Erzähler und Mustafa aufgefallen ist: ersterer muß sich manches Mal beherrschen und seine Neugier zügeln. Der Respekt des Jüngeren gegenüber dem Älteren scheint also noch eingeprägt zu sein. Insgesamt ist mir der Erzähler durchaus nicht unsympathisch, er hat mich mit seiner Lebenseinstellung überzeugt, die er nach der Schilderung seiner Kindheitsfreuden vor uns ausbreitet: Es sind vor allem immaterielle Dinge, die ihm hier wichtig sind!


    Bislang ist dies kein Buch zum schnellen Herunterlesen, es lohnt sich, die Sätze genau zu betrachten und den Fluß der Worte auf sich wirken zu lassen. So darf es bleiben.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

    Einmal editiert, zuletzt von Aldawen ()

  • Hallo!


    O, das Buch auf arabisch zu lesen, wäre wunderbar. Aber dafür muss ich wahrscheinlich noch mindestens 10 Jahre arabisch lernen, wenn nicht länger. Momentan beschäftige ich mich noch mit Buchstaben und grundlegendsten Phrasen. Es ist aber eine wunderschöne Sprache.


    Zum zeitlichen Ablauf: Ich glaube auch, dass die Erzählung nicht zeitlich linear verläuft, sondern vielmehr verschachtelt und dadurch ein wenig komplexer zu lesen ist.


    @Aldawen - hier die englische Version:
    It was, gentlemen, after a long absence - seven years to be exact, during which time I was studying in Europe - that I returned to my people. I learnt much and much passed me by - but that's another story. The important thing is that I returned with a great yearning for my people in that small village at the bend of the Nile. For seven years I had longed for them, had dreamed of them, and it was extraordinary moment when I at last found myself standing amongst them. They rejoiced at having me back and made a great fuss, and it was not long before I felt as though a piece of ice were melting inside of me, as though I were some frozen substance on which the sun had shone - that life warmth of the tribe which I had lost for a time in a land 'whose fishes die of the cold'.


    Wie er hier beschreibt, hatte sich in seinem Kopf ein Bild der Menschen verfestigt und sich sieben Jahre lang nicht verändert. Daher hatte er zuerst auch das Gefühl, die Menschen wie durch einen Nebel zu sehen. Sie waren da, sie waren real, aber sie waren doch nicht diejenigen, die er bei seinem Abschied sah. Das ist glaube ich, die Situation, mit der sich viele - nennen wir sie mal - Rückkehrer auseinander zu setzen haben. Man bewahrt sich ein Bild des Dorfes, der Straße, des Hauses etc., schafft sich eine Illusion, die einen in der Fremde begleitet und hilft. Bei der Rückkehr stellt man auf den ersten Blick dann vielleicht befriedigt fest, dass sich nichts verändert hat. Aber ich glaube es dem Protagonisten nicht; aus den gleichen Gründen wie ihr. Er war sieben Jahre lang weg, hat in Europa studiert - das muss ihn geprägt haben. Und genauso entwickelt sich ein Dorf weiter; Menschen sterben, andere werden geboren, neue Häuser entstehen... Er stellt dann doch Veränderungen fest: es gibt keine Wasserräder mehr am Nil, sondern Pumpen und er entdeckt Mustafa.
    Ich glaube, die Rezitation hat ihn deshalb erschrocken, weil er sie gar nicht erwartet hat - noch dazu in einem perfekten Englisch. Und einen oder zwei Tage davor hat sich ja Mustafa auch ein bisschen abschätzig über sein Studium der Poesie geäußert und ihn gefragt, warum er nicht Medizin, Ingineurwesen oder etwas ähnliches studiert hat; also etwas was dem Land mehr bringen würde.


    Es würde mich interessieren, wie es dem Ich-Erzähler in Europa gegangen ist, wenn er sich so sehr nach seinem Dorf gesehnt hat. Die Figur des Mustafa ist bereits am Anfang sehr mysteriös, ich bin gespannt, was da noch kommen wird.
    Bis jetzt gefällt mir das Buch, obwohl ich persönlich immer Schwierigkeiten damit habe, die Baummetapher (Verwurzelung) auf Menschen umzusetzen.


    Liebe Grüße
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Danke für die deutsche Übersetzung, Aldawen. Weißt du, ob sie direkt aus dem Arabischen kommt, oder über eine andere Sprache?
    Ich bin noch am überlegen, ob ich das Buch auf englisch oder schwedisch lesen soll. Die schwedische ist mir leichter zugänglich, einfach deshalb, weil mein Schwedisch nuancierter als mein Englisch ist. Ich habe aber festgestellt, dass sich die Übersetzungen in einigem unterscheiden, und leider das Gefühl, dass der schwedische Übersetzer manches missverstanden hat. Z. B. raschelt bei ihm der sudanesische ( :redface: ) Wind sowohl in den Palmen als auch im Weizenfeld. Der Gegensatz zwischen afrikanischen Palmen und europäischem Getreide ist da weggefallen :grmpf: .


    Dafür ist der englische Erzähler "terrified", als er Mustafa englisch sprechen hört, was ja mehr in die Richtung "entsetzt" geht. Das mit dem Alptraum hatte ich falsch im Gedächtnis; ich dachte, da ich ja sowieso meine Lektüre nicht direkt zitieren kann, es sei nicht notwendig, nochmal genau im Buch nachzugucken (nochmal :redface: ).


    Ich habe im Netz nach dem zitierten Gedicht gesucht, dabei aber nur einen Aufsatz über das Buch gefunden. Gelesen habe ich ihn noch nicht, damit warte ich, bis ich das Buch durch habe.


    EDIT: Ganz vergessen:


    Machdschûb

    :ohnmacht: Mahjoub heißt der bei mir und Nikki.

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Moin,


    ja, die deutsche Übersetzung ist direkt aus dem Arabischen. Lenos verrät vorne über die Übersetzerin u. a., daß sie sie Arabistik und Kulturwissenschaften in Leipzig studiert sowie über Dramatik und Theater in Syrien promoviert hat. Sie hat auch andere (teils angeführte) Autoren übersetzt.



    Ich habe aber festgestellt, dass sich die Übersetzungen in einigem unterscheiden, und leider das Gefühl, dass der schwedische Übersetzer manches missverstanden hat. Z. B. raschelt bei ihm der sudanesische ( :redface: ) Wind sowohl in den Palmen als auch im Weizenfeld. Der Gegensatz zwischen afrikanischen Palmen und europäischem Getreide ist da weggefallen :grmpf: .


    Daraus schließe ich aber, daß der Unterschied in der englischen Fassung auch enthalten ist, es also zwei zu eins für diese Übersetzung steht :zwinker: Aber Du hast natürlich recht: Ob sich etwas unterscheidet oder nicht sollte aus einem Satz schon so weit klar hervorgehen, daß ein Übersetzer da keinen Interpretationsspielraum hat, das spräche dann wirklich gegen den schwedischen Vertreter. Ganz genau heißt es übrigens in der deutschen Fassung: „(...) in unserem Dorf klingt es [das Geräusch des Windes; A.] wie fröhliches Geflüster. Wind, der durch die Palmen fährt, säuselt eben anders als Wind, der durch die Weizenfelder streift.“ Er hat ja so recht :smile:



    EDIT: Ganz vergessen:

    :ohnmacht: Mahjoub heißt der bei mir und Nikki.


    Naja, eine gewisse Ähnlichkeit ist ja vorhanden :breitgrins:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Hallo!


    Ich bin heute gut vorangekommen mit dem Lesen;aber nun zum zweiten Kapitel. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich das mit den Spoilern regeln sollte, falls ich viel zu viel verrate, sagt es mir und ich werde mich dann bemühen. :smile:


    Im zweiten Kapitel wird die Geschichte von Mustafa Sa’eed erzählt. Er erzählt sie dem Ich-Erzähler. Was glaubt ihr, warum gerade ihm? Weil auch er in England war und das Leben dort kennt? Oder weil anscheinend allein der Ich-Erzähler auf Mustafa's Rezitation reagiert hat? Auf alle Fälle erfahren wir, dass Mustafa Sa’eed ein außerordentlich intelligenter Mann ist, der aus Khartum nach Kairo in die Schule geschickt wurde und von dort weiter nach London ging. Auf der Universität wurde er äußerst erfolgreich (Dozent mit 24!) und seine Freizeit verbrachte er am liebsten mit der Jagd nach westlichen Frauen. Er liebte es, sie zu erobern, zu unterwerfen und dann fallen zu lassen (als Rache für die Kolonialisierung und Ausbeutung des Sudan?). Als Dozent war er der selbstsichere, scharf denkende und den Kolonialismus und Kapitalismus kritisierende Mann der Wissenschaften. Sein Schlafzimmer hingegen konnte aus einer der Geschichten aus 1001 Nacht stammen. Orientalische Stoffe, Düfte (Sandelholz und Weihrauch), Skulpturen... all diese Sachen dienten der Verführung der Frauen. Am Ende verließ er sie, denn er war nicht auf der Suche nach Liebe, sondern nach Macht und der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse. Bis er Jean Morris traf. „Everything which happened before my meeting her was a premonition; everything I did after I killed her was an apology, not for killing her, but for the lie that was my life.“ Was war die Lüge in seinem Leben? War es das Leben des schwarzen englischen Intelektuellen oder das des exotischen Orientalen? Im Gegensatz zu dem Ich-Erzähler scheint Mustafa noch nicht zu wissen, wo seine Wurzeln sind. Er bleibt für mich noch ein Rätsel, ich kann ihn noch nicht durschauen, obwohl ich viel über ihn erfahren habe.


    Die Geschichte wird aber immer interessanter, ich freue mich auf das Weiterlesen; v.a. interessiert es mich, was der Ich-Erzähler noch mit der ganzen Geschichte machen wird.


    Liebe Grüße
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Ich komme nur langsam voran, teils weil ich alles zweimal (schwedisch und englisch) lese, teils weil man Salichs Text aufmerksam lesen muss, wenn man ihm folgen will, teils weil ich an akuter Herbstmüdigkeit a045.gif leide. Das 2. Kapitel habe ich jedenfalls beendet, das 3. ist in Arbeit.


    Zum 2. Kapitel:
    Ich war ein bisschen enttäuscht darüber, dass der Ich-Erzähler das Wort an Mustafa Sa'id abgibt, der mich weniger interessierte. Spannend wurde es dann aber trotzdem.
    Beim zweiten Lesen ist mir deutlich geworden, wieso Mustafas Erzählung nicht ganz einfach zugänglich ist: teils erzählt er aus dem "Nachhinein", als reifer Mann und deutet seine Erlebnisse mit dem Fazit in der Hand. Dann wieder berichtet er, wie er damals gedacht hat, und die verschiedenen Ebenen vermischen sich.


    Mustafa erscheint mir einerseits als "arme Socke"; er empfindet sich selbst ja als innerlich "tot", ist unfähig zu Gefühlen. Andererseits ist er ein richtiger Stinkstiefel, der Frauen nur als Beute ansieht, und dessen einziges Ziel es ist, sie ins Bett zu bekommen. Was aus ihnen wird, ist ihm völlig egal. Wieso er so (geworden) ist, darüber kann ich bisher nur Spekulationen anstellen. Mir kam allerdings durch die Art und Weise, wie er seine Kindheit ohne wirkliche Freunde und auch weitgehend ohne Verwandtschaft schildert, der Eindruck, dass es ihm an "Wurzeln" fehlt, gerade den Wurzeln, die für den Erzähler eine so große Rolle spielen. Mustafa dagegen schwebt schon als Kind in der Luft, gehört nirgends dazu, zwischen ihm und seinen Mitmenschen, selbst seiner Mutter besteht eine große Distanz. Er bezeichnet sich als "frei", niemand bindet ihn, nichts hält ihn "zu Hause" und so macht es ihm auch nichts aus, als 12-jähriger alleine nach Kairo und 3 Jahre später nach London zu fahren.
    An seinen Mitmenschen liegt ihm auch dort nichts, er manipuliert sie äußerst geschickt. Wie er mit den englischen Männern umgeht, davon erfahren wir nichts, dafür um so mehr über sein Verhältnis zu den Frauen, die er, wie gesagt, nur als Objekte wahrnimmt, die er in fast wissenschaftlicher Art verführt. Nicht umsonst vergleicht er sein Schlafzimmer mit einem Operationssaal und sich selbst mit einem Chirurgen. Er führt sich wie der geborene Mistkerl auf, was er im Nachhinein auch so sieht.


    Ein Satz auf S. 39 (engl. Ausgabe) kurz nach " 'Der Nil?' 'Ja, der Nil.' " hat mich zum Nachdenken gebracht: Da heißt es "Mr Mustafa, the bird has fallen into the snare." Heißt der Erzähler etwa auch Mustafa? Das ist zwar wohl kein ungewöhnlicher arabischer Name, aber trotzdem bedeuten Namen in Romanen ja oft viel. Soll mit der Namensgleichheit der beiden Ausgewanderten die Ähnlichkeit der beiden noch hervorgehoben werden? Soll Mustafa Sa'ids Schicksal vielleicht als mögliches Schicksal auch für den Ich-Erzähler stehen?



    Er erzählt sie dem Ich-Erzähler. Was glaubt ihr, warum gerade ihm?


    Ich denke, weil der Erzähler der Einzige ist, der den notwendigen Erfahrungshintergrund hat, um ihn verstehen zu können. Die Dorfbewohner hätten da keine Chance.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Mustafas Lebensgeschichte ist wirklich interessant. Mich hat sie ziemlich irritiert, weil sie gar nicht zu dem Bild zu passen scheint, das ich mir nach dem ersten Kapitel von ihm gemacht hatte – auch wenn das nicht besonders detailliert war. Der Kontrast zum Erzähler ist jedenfalls deutlich, gerade was die Bedeutung von Familie bzw. einer größeren (Dorf-)Gemeinschaft angeht. Angesichts des Wertes, den Familie in vielen Gesellschaften – und eigentlich wohl auch in der islamisch-sudanesischen – hat, wundert es mich sehr, daß es überhaupt keine sorgenden Verwandten gab und daher zweifle ich diesen Part von Mustafas Geschichte an. Nicht, daß er als Halbwaise aufwuchs, aber den frühen Tod des Vaters. Könnte dieser nicht auch die Frau mit ein bißchen Geld abgefunden und sitzengelassen haben? In Khartoum fällt das sicher weniger auf als auf dem Land in den kleinen Dörfern.


    Sein Verhalten Frauen gegenüber ist wirklich widerlich. Die Tatsache, daß er sich selbst dessen inzwischen bewußt ist, hilft da auch nicht. Ob die Gefängnisstrafe den Läuterungsprozeß angestoßen hatte? Er ist ja intelligent genug, sein eigenes Verhalten zu reflektieren.



    Er liebte es, sie zu erobern, zu unterwerfen und dann fallen zu lassen (als Rache für die Kolonialisierung und Ausbeutung des Sudan?).


    Durchaus möglich, dann wäre die Auswahl seiner Opfer, die er explizit nennt (nämlich Mädchen aus der Heilsarmee, von den Quäkern und aus den Fabian-Gesllschaften) vielleicht Ausdruck dafür, daß er diesen ihre moralischen Prinzipien nicht abnimmt. Zum Zeitpunkt von Mustafas Aufenthalt in England ist gerade der Erste Weltkrieg vorbei und der Sudan de iure ägyptisch-britisches Kondominion, de facto britische Kolonie. Ärger über die Kolonisation wäre also ein Motiv. Allerdings ist zu bezweifeln, daß er im Sudan viele britische Kolonialbeamte u. ä. gesehen hat, die eine entsprechende Haltung hätten auslösen können. Viel interessanter als diese Frage scheint mir zu sein, daß ausgerechnet die Frau, von der wir mitbekommen, daß sie weder hohe moralische Ansprüche an sich selbst noch romantisch verklärte Vorstellungen des Orients hat, diejenige ist, an der Mustafa mit seinen „Künsten“ scheitert. In dieser Beziehung ist er der Unterlegene und rächt sich dafür mit, laut eigenem Geständnis, vorsätzlichem Mord. Als er über seinen „Kampf“ gegen Jean spricht, vergleicht er sich mit Scherijâr und sie mit Schehresâd. Durch seine Tat kehrt er das Ergebnis von 1001 Nacht um, wo der König Scherijâr schließlich durch deren Erzählungen geläutert wird. Statt einer politischen Interpretation ist eine soziale vielleicht die naheliegendere ... ?



    Ein Satz auf S. 39 (engl. Ausgabe) kurz nach " 'Der Nil?' 'Ja, der Nil.' " hat mich zum Nachdenken gebracht: Da heißt es "Mr Mustafa, the bird has fallen into the snare." Heißt der Erzähler etwa auch Mustafa? Das ist zwar wohl kein ungewöhnlicher arabischer Name, aber trotzdem bedeuten Namen in Romanen ja oft viel. Soll mit der Namensgleichheit der beiden Ausgewanderten die Ähnlichkeit der beiden noch hervorgehoben werden? Soll Mustafa Sa'ids Schicksal vielleicht als mögliches Schicksal auch für den Ich-Erzähler stehen?


    Über den Namen an dieser Stelle bin ich auch gestolpert. Würde Mustafa sonst in seiner Erzählung irgendwo von sich selbst in der dritten Person reden, dann könnte es hier auch sein. Aber das tut er nicht. Über den Zweck einer Namensgleichheit, wenn es so sein sollte, kann ich im Moment auch noch keine sinnvollen Vermutungen anstellen.



    Er erzählt sie dem Ich-Erzähler. Was glaubt ihr, warum gerade ihm?


    Es dürfte sicher eine Rolle spielen, daß der Erzähler auch in England war und Mustafa deshalb davon ausgehen kann, daß dieser ihm besser folgen kann als die übrigen Dorfbewohner. Ich bin nur nicht sicher, daß das allein stichhaltig genug wäre, ihn zu dieser Erzählung zu verleiten, wo er zuvor seine Geheimnisse doch so gut gehütet hat. Sein Verhalten in England dürfte auch nach sudanesischen Maßstäben nicht moralisch sein und die Verurteilung ist schließlich auch kein Ruhmesblatt. Vielleicht will er dem Erzähler zeigen, wieviel Glück dieser hatte, einen Ort zur Rückkehr und eine Verwurzelung zu haben? Als Beispiel dafür, was einem völlig „freien“ Menschen passieren kann und wie schwierig es ist, unter solchen Bedingungen Mensch zu bleiben?



    Beim zweiten Lesen ist mir deutlich geworden, wieso Mustafas Erzählung nicht ganz einfach zugänglich ist: teils erzählt er aus dem "Nachhinein", als reifer Mann und deutet seine Erlebnisse mit dem Fazit in der Hand. Dann wieder berichtet er, wie er damals gedacht hat, und die verschiedenen Ebenen vermischen sich.


    Zum einen das, zum anderen erzählt er auch nicht linear, ein Effekt, den ich bei afrikanischer Literatur und in afrikanischen Filmen jetzt schon mehrfach bemerkt habe. Mustafa greift immer wieder mal vor und dann wieder zurück, immer um den Punkt seiner toten Ehefrau kreisend. Obwohl ich diese Konstruktionen recht anstrengend zu lesen finde, haben sie für mich einen hohen Reiz, weil es mehrere Perspektiven aus Sicht der gleichen Person vermittelt, je nachdem, wieviel vom Kontext dieses Erzählmittelpunktes bekannt ist.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Heute habe ich die Kapitel 3 und 4 gelesen.


    Zunächst hören wir von Mustafa Saîds Tod, den der Erzähler auch nicht selbst miterlebt hat, sondern seinerseits nur aus Erzählungen der Dorfbewohner kennt. Bemerkenswert ist aber vor allem, wie er immer wieder mit Mustafa konfrontiert wird, und zwar jenseits des Auftrages, den dieser dem Erzähler hinsichtlich seiner Familie erteilt hat. Ich denke, daß Mustafas Brief ein starkes Indiz wenn nicht für Selbstmord so doch mindestens für ein aus-dem-Staub-machen ist. Der Erzähler hält einen Selbstmord ja wohl auch für die wahrscheinlichste Variante. Im übrigen stellt er sich, will mir scheinen, die gleiche Frage wie wir:



    Was war die Lüge in seinem Leben? War es das Leben des schwarzen englischen Intelektuellen oder das des exotischen Orientalen?


    Eine Antwort darauf haben wir noch nicht, und vielleicht werden wir auch keine endgültige bekommen, mal sehen ...


    Aufschlußreich fand ich zunächst das Gespräch mit dem pensionierten Beamten und früheren Klassenkameraden Mustafas. Dieser bestätigt indirekt meine zum vorigen Kapitel gemachte Vermutung, daß die Geschichte vom früh verstorbenen Vater eine Erfindung ist. Alles andere hätte mich auch wirklich gewundert. Die nächste Sicht auf Mustafa eröffnen uns Mansûr und Richard. Während der erste nichts Genaues weiß und daher eine Idealvorstellung konstruiert (aus dem Wunsch, es dem anderen nachtun zu können?), stutzt der zweite das Bild des Akademikers zurecht, das wir von Mustafa selbst gehört haben.


    Aus Mustafas Brief an den Erzähler beantwortet sich aber m. E. die Frage, warum er ausgerechnet diesem sein Leben offengelegt hat. Unsere Vermutung war richtig, denn er glaubte einfach nicht, daß die Dorfbewohner ihn verstünden. Er wollte ein unauffälliges Leben unter ihnen und hat deshalb die Vergangenheit verborgen. Und er beneidete offensichtlich den Erzähler um seine Bindung an diese Dorfgemeinschaft, sonst würde er nicht so viel Wert darauf legen, daß seine Söhne eine solche entwickeln statt es ihrem rastlosen Vater nachzutun. Er hat darin wohl eine Leerstelle in seinem eigenen Leben erkannt, was ihn für mich zu einer ziemlich tragischen Figur macht.


    Ich bin schon gespannt, welche weiteren Details über Mustafas Leben (weitere Aufenthaltsorte wurden ja schon erwähnt) und Berührungspunkte mit dem Erzähler noch folgen werden.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Ich habe gestern das 3. Kapitel gelesen und muss nun sagen: Da stimmt was nicht!
    Irgend etwas stimmt nicht mit Sa'id. Wenn ich ihn als "wirklichen" Menschen nehme (ich bezweifle ein wenig seine Existenz), erscheint es mir unglaubwürdig, dass zwar viele Leute von ihm gehört haben, aber nichts von dem Mord an seiner Frau wissen. Gerade das ist doch ein so saftiges Stück Klatsch, das man auf einer Party nicht verschweigen kann. Wenn bekannt ist, dass er wirklich der erste Sudanese ist, der jemals eine europäische Frau geheiratet hat, dann müsste doch auch bekannt sein, dass er diese umgebracht hat. Dies müssten zumindest alle in London studierenden Sudanesen gehört haben, selbst wenn es einige Jahre zurückliegt. Eine so kleine Gemeinschaft wie die England-Sudanesen sind doch garantiert voll informiert, was ihre einzelnen Mitglieder angeht. Hat Sa'id da nur eine Lüge erzählt, aus welchem Grund auch immer?


    Aber davon abgesehen finde ich es faszinierend, andere Stimmen über ihn zu hören, und so ein umfassenderes Bild von ihm zu bekommen. Allerdings muss man meiner Meinung nach vorsichtig sein, was den Wahrheitsgehalt der Aussagen der anderen angeht, genauso wie man seine eigene Selbstdarstellung bezweifeln kann. Wieviel beruht nur auf Hörensagen, auf Phantasien der anderen? Stimmt wirklich, was man sich über seine Eltern erzählte? Oder war das nicht eher der Versuch, einem Unbekannten einen Hintergrund (und zwar mit der Sklavenmutter und dem Verrätervater einen negativen - aus Rache dafür, dass er so viel intelligenter als die anderen ist) zu verschaffen?


    Mittlerweile bin ich am Überlegen, ob es Mustafa Sa'id wirklich gibt (gegeben hat), oder ob er nicht nur ein "Gespenst", ein "Phantom" ist. Ob er nicht die Vorstellung des "verwestlichten Sudanesen" verkörpert, ein Schreckgespenst (oder eine Idealvorstellung) davon ist, was mit einem Sudanesen passieren kann, wenn er sich von den Engländern "einfangen" lässt.



    Was war die Lüge in seinem Leben? War es das Leben des schwarzen englischen Intelektuellen oder das des exotischen Orientalen?


    Beides ist möglich, es könnte aber auch das Leben des einfachen Bauern am Nil sein. Oder alles gleichzeitig, wenn man ihn als Menschen ohne "Kern" sieht, einen Menschen, der versucht, verschiedene Rollen anzunehmen (u.a. auch die des Eroberers), ohne dass irgendetwas davon wirklich "wahr" ist, wirklich seinem "Selbst" entspringt. - Irgendwie komme ich immer wieder auf die Frage zurück, ob er eigentlich wirklich existiert. Vielleicht ist ja seine gesamte Existenz eine Lüge, sei es, dass eine Person namens Sa'id nie gelebt hat, oder dass es dieser Person an wahrer Menschlichkeit fehlt, sie innerlich verkrüppelt ist.


    Richtig gut an dem Buch (am Ich-Erzähler) gefällt mir, dass er kein "Briten-Bashing" betreibt; dass die Engländer nicht zu weißen Teufeln verkommen, die die armen, unschuldigen Sudanesen brutalst verknechtet hatten. Ich hatte da gewisse Befürchtungen. Statt dessen hat er jetzt schon an mehreren Stellen darauf hingewiesen, wie ähnlich Briten und Sudanesen sich im Innersten sind. Sie sind eben alle Menschen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Gerade habe ich Kapitel 5 gelesen und die Erzählung nimmt eine ganz neue Wendung.


    Wir sind jetzt drei Jahre nach Mustafa Saîds Tod, wie am Ende klar wird. Der Erzähler macht uns besser mit seinem Großvater und dessen Freunden vertraut, die alle siebzig und älter sind. Aber sie haben etwas sehr Wertvolles: Würde und eine Menge Spaß daran, sich gegenseitig „durch den Kakao zu ziehen“. Obwohl das Gespräch recht deftig aufgeladen ist, ist keiner beleidigt, auch das jeweilige Opfer lacht mit. Das zeigt doch, daß sich diese Menschen untereinander schon lange und gut kennen. Irriitert hatte mich am Anfang, daß in Zusammenhang mit Bint Madschsûb von einem „dröhnenden Männerlachen“ die Rede war. Nachdem der Name so schon im ersten Kapitel gefallen war, hätte ich nämlich auch geschworen, daß es sich um eine Frau handelt. Bint heißt schließlich Mädchen :smile:


    Aber dieses Kapitel zeigt auch, wie stark der Erzähler sich während seines Europa-Aufenthaltes verändert hat. Während alle anderen im Dorf es völlig normal finden, daß Wadd ar-Rajjis die Witwe von Mustafa Saîd heiraten will, obwohl er 40 Jahre älter ist als sie, ist genau das für den Erzähler eine völlig absurde, wenn nicht widerliche Vorstellung. Inwieweit eigene Interessen (eingestanden oder auch nicht) dabei mitspielen ist – mir zumindest – nicht klar, aber angesichts der S.e.x.uellen Bilder, die er mit dieser Heirat verbindet, halte ich sie nicht für ausgeschlossen.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

    Einmal editiert, zuletzt von Aldawen ()

  • Saltanah: Ich halte Mustafa Saîd durchaus für einen „realen“ Menschen, jedenfalls im Rahmen dieses Romans. Zwar hast Du nicht ganz unrecht, daß über einen Auslandssudanesen wie ihn in der Gemeinschaft einiges mehr bekannt sein müßte, aber offensichtlich ist es entweder zu lange her, als das es die nachfolgenden Sudanesen noch erreicht hat, oder es ist einfach gut unter den Teppich gekehrt worden, von wem auch immer.


    In Kapitel 6 bekommen wir wiederum neue Einsichten in Mustafa Saîds Leben – durch Ergänzungen des Erzählers, aber auch durch Saîds Witwe Husna und Machdschûb – und das des Erzählers.


    Der Erzähler nimmt es auf sich, mit Husna über den Heiratswunsch von Wadd ar-Rajjis zu sprechen. Die Szene hat mir ausnehmend gut gefallen, aus mehreren Gründen. Zum einen fand ich die Beschreibung der äußeren Umstände vom Nachmittag über den kurzen Sonnenuntergang zur tiefen Dunkelheit sehr plastisch. Letztere paßt vor allem auch gut zu der Entwicklung des Gesprächs. Über Mustafa nähern sich Husna und der Erzähler dem Thema Heirat, Husna hat sicher gewußt, warum der Erzähler sie aufsucht. Die Annäherung daran erfolgt fast zaghaft. Und sehr schön sind auch die Beschreibungen Salichs über die Wirkung von Husnas Stimme auf den Erzähler, wie sie auf verschiedene Arten aus der Dunkelheit zu ihm dringt. Großartig!


    Wadd ar-Rajjis kann ich nicht einschätzen. Ich glaube nicht, daß er die Frau wirklich liebt, es ist wohl eher das Bedürfnis nach Besitz. Das paßt auch besser zu seiner deutlich geäußerten Ansicht, daß die Männer über die Frauen gebieten. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang war dann auch des Erzählers Gespräch mit Machdschûb. Dieser hält ar-Rajjis zwar für einen Schwätzer, gibt ihm in der Sache aber Recht. Er versteht die Bedenken des Erzählers nicht, womit der Bogen zurück zum vorigen Kapitel geschlagen und erneut deutlich gemacht wird, wie weit sich der Erzähler von den Traditionen des Dorfes doch gelöst hat.


    Und in einem fühle ich mich sowohl durch die Szene zwischen Husna und dem Erzähler als auch durch Machdschûb bestätigt: Der Erzähler hegt besondere Gefühle Husna gegenüber. Ob es sich dabei um Liebe handelt, wage ich (noch) nicht zu entscheiden. Ich würde Husna aber zutrauen, ihre Drohung wahrzumachen.


    Wunderbar formuliert fand ich übrigens auch am Anfang des Kapitels die Feststellung des Erzählers, warum er Mustafa Saîds Söhne nicht vom Reisen abhalten würde:
    „Erspare ihnen die Mühsal des Reisens“, hatte er geschrieben. Nichts dergleichen werde ich tun. Wenn sie einmal gross sind und reisen wollen, mögen sie es tun. Jeder fängt wieder von vorn an, [i]in der Kindheit ist die Welt unendlich[/i]. (Hervorhebung von mir)


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Mittlerweile bin ich auch zu der Auffassung gelangt, dass Mustafa Sa'id eine wirkliche Person ist - muss er wohl sein, wenn jemand seine Witwe heiraten will :zwinker: .


    Das 5. Kapitel war wirklich überraschend. Es schien überhaupt nichts mit Sa'id zu tun zu haben und erst ganz am Ende wird die Verbindung hergestellt. Vorher bin ich hin und hergeschwankt zwischen Abscheu und Amüsiertheit über die alten Leute mit ihren Sexgeschichten. Die Lebensfreude der Alten ist schön zu lesen, ihre Freundschaft, die wohl die Jahrzehnte überdauert hat, ist beneidenswert und ich mag ihnen den Spaß an ihren Geschichten nicht verdenken. Trotzdem kann ich über eine Vergewaltigung einfach nicht lachen, auch wenn die Beschreibung zu 75% ausgedacht und der Rest maßlos übertrieben ist.
    Meine Abscheu Wad Rayyes gegenüber wurde nicht geringer durch seine Beschreibung als ein Mann, dem "die Eigenschaften seiner Frau gleichgültig waren, außer eben ihrer Eigenschaft als Frau", und bei dem Ende, dass der alte Bock eine 40 Jahre jüngere Frau heiraten (und sich vermutlich in ein paar Jahren wieder von ihr scheiden lassen) will, ging es mir ähnlich wie dem Ich-Erzähler, obwohl ich im Gegensatz zu ihm nun überhaupt kein Interesse an Sa'ids Witwe habe, ja sie noch nie "getroffen" habe (sie ist im Buch ja bisher noch nie selbst aufgetaucht ). Ekelig!
    Trotzdem - die Lebensfreude der alten Männer und der einen alten Frau, die sich, "unweiblich" wie sie mit ihrer freizügigen Sprache und ihrem männlichen Lachen ist, in männlicher Gesellschaft behaupten kann, hat was. Da wird aus Leibeskräften gelebt und geliebt. Allerdings schimmert auch immer wieder die andere Seite der Medaille durch, zumindest für aufmerksame Leserinnen: "Wir haben das Recht zu heiraten und uns zu scheiden" - aber das zweite haben wohlgemerkt nur die Männer, für die Frauen gilt das nicht. Nicht erwähnt wird, welchen Stellenwert geschiedene (verstoßene) Frauen haben, ob sie auf dem Heiratsmarkt noch attraktiv sind, oder ob sie zu ihren Eltern zurückkehren müssen, ob sie von denen überhaupt wieder aufgenommen werden, oder ob sie sich irgendwie (wie wohl?) selbst durchschlagen müssen. Was z. B. ist aus Wad Rayyes' nigerianischer Ehefrau geworden? Dieser fehlte im Dorf ja jede verwandtschaftliche Unterstützung, und ob sie jemals wieder (eine Frau alleine) in ihre Heimat zurückreisen konnte... vielleicht besser, nichts genaues darüber zu wissen.
    Es freute mich jedenfalls zu lesen, dass der Ich-Erzähler einen etwas anderen Standpunkt einnimmt, und hoffe, dass es nicht nur an seinem persönlichen Interesse an der Frau liegt. Ob dieser Standpunkt nun an seinem Aufenthalt in Europa liegt, ob er von fremden Ideen "angesteckt" worden ist, oder ob sich eine allgemeine Änderung bei der jüngeren Bevölkerung breit macht, ist mir nicht ganz klar.
    Klar ist mir jedenfalls, dass ich unter diesen Bedingungen im Sudan keine Frau sein möchte - ganz abgesehen von der Beschneidungsfrage.


    Für welches Publikum meint ihr eigentlich hat Sajjib diesen Roman geschrieben? Für seine arabischen "Brüder" oder für eine europäische Leserschaft?

    Wir sind irre, also lesen wir!


  • Für welches Publikum meint ihr eigentlich hat Sajjib diesen Roman geschrieben? Für seine arabischen "Brüder" oder für eine europäische Leserschaft?


    Wohl schon in erster Linie für ein arabisches. Meine deutsche Übersetzung enthält ein kurzes Nachwort, das ich wegen Deiner Frage gerade schnell gelesen habe. Darin heißt es, daß Salich keinen „inneren Drang“ zum Schreiben verspürt habe. Die erste beendete Kurzgeschichte stammt von 1953 als, wie es im Nachwort heißt, „Frucht seines Heimwehs im ersten, bitterkalten Londoner Winter“. Erst sieben Jahre später schrieb er weitere Kurzgeschichten. Britische Arabisten haben ihn zum Weiterschreiben ermuntert, was 1964 in einem längeren Prosawerk und 1969 in dem uns vorliegenden Roman mündete. Zeit der Nordwanderung erschien zunächst als Fortsetzungsroman in einer Beiruter Literaturzeitschrift. 1996 wurde das Werk im Sudan übrigens verboten, wohl weniger wegen des Stils und Inhalts, sondern wegen der Kritik des Autors an den Verhältnissen im Land.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Hallo!


    Inzwischen habe ich auch das 6. Kapitel fertig gelesen.


    Wie Saltanah hat sich der Erzähler im Kapitel 3 auch gefragt, ob Mustafa real ist oder nicht. Und die noch interessantere Frage die er sich stellt, ist ob ihm das Gleiche auch hätte passieren können. Mit dieser Frage greift er das Thema auf, um welches meine Gedanken die ganze Zeit herum kreisen: Wurzeln, das Zuhause, Identität.
    He said that he was a lie, so was I also a lie? I am from here is not this real enough? I too had lived with them. But I had lived with them superficially, neither loving nor hating them. I used to treasure with me the image of this little village, seeing it wherever I went, with the eye of my imagination. (S. 49)
    Die Frage, die sich mir aufdrängt, ist muss ein Mensch seine Wurzeln kennen, wissen wo er hingehört, um ein glückliches, zufriedenes Leben führen zu können? Auf der einen Seite steht Mustafa, "frei", "wurzellos" und gescheitert; auf der anderen Seite Mahjoub, der im Dorf geblieben ist, das traditionelle Leben weiter führt und zu einer wichtigen lokalen Persönlichkeit aufgestiegen ist. Und in der Mitte der Ich-Erzähler; zwar wissend wo er hingehört, aber langsam doch anerkennend, dass er nicht mehr derjenige ist, der er vor der Abreise nach England war.


    Durchaus möglich, dann wäre die Auswahl seiner Opfer, die er explizit nennt (nämlich Mädchen aus der Heilsarmee, von den Quäkern und aus den Fabian-Gesllschaften) vielleicht Ausdruck dafür, daß er diesen ihre moralischen Prinzipien nicht abnimmt. Zum Zeitpunkt von Mustafas Aufenthalt in England ist gerade der Erste Weltkrieg vorbei und der Sudan de iure ägyptisch-britisches Kondominion, de facto britische Kolonie. Ärger über die Kolonisation wäre also ein Motiv. Allerdings ist zu bezweifeln, daß er im Sudan viele britische Kolonialbeamte u. ä. gesehen hat, die eine entsprechende Haltung hätten auslösen können. Viel interessanter als diese Frage scheint mir zu sein, daß ausgerechnet die Frau, von der wir mitbekommen, daß sie weder hohe moralische Ansprüche an sich selbst noch romantisch verklärte Vorstellungen des Orients hat, diejenige ist, an der Mustafa mit seinen „Künsten“ scheitert. In dieser Beziehung ist er der Unterlegene und rächt sich dafür mit, laut eigenem Geständnis, vorsätzlichem Mord. Als er über seinen „Kampf“ gegen Jean spricht, vergleicht er sich mit Scherijâr und sie mit Schehresâd. Durch seine Tat kehrt er das Ergebnis von 1001 Nacht um, wo der König Scherijâr schließlich durch deren Erzählungen geläutert wird. Statt einer politischen Interpretation ist eine soziale vielleicht die naheliegendere ... ?


    Ich bin in meiner Annahme noch einmal bestärkt worden, Mustafa handele aus Rache. Im Kapitel 6, beim Gespräch mit Hosna, gehen dem Erzähler noch ein paar Gedanken über Mustafa durch den Kopf, als dieser vor Gericht stand. Dort behauptete Mustafa, er sei jetzt der Eindringling und Kolonialherr. Weiters heißt es: The ships at first sailed down the Nile carrying guns not bread, and the railways were originally set up to transport troops; the schools were started so as to teach us how to say Yes in their language. They imported to us the germ of the greatest European violence, as seen on the Somme and at Verdun, the like of which the world has never previously known, the germ of a deadly disease that struck them more than thousand years ago. Yes, my dear sirs, I came as an invader into your very homes: a drop of the poison which you have injected into the veins of history. I am no Othello. Othello was a lie. (S. 95)


    Wad Rayyes ist ein habsüchtiger alter Mann. Er will Hosna nur besitzen, weil sie einem anderen angehört hat. Gefallen hat mir aber, dass er als das Gespräch in der Runde der alten Freunde auf die weibliche Beschneidung gekommen ist (besser gesagt, Genitalverstümmelung) darauf hingewiesen hat, dass dies kein islamisches Phänomen ist und dass die Männer die Frauen so lassen sollten, wie Allah sie erschaffen hat. Andererseits räumt er den Frauen keinerlei Rechte ein. Die Frau ist der Besitz des Mannes, Hosna hat nichts zu sagen. Sie wird zwangsverheiratet und niemand außer dem Ich-Erzähler findet es schlimm. Eine Frage hat sich aber trotzdem aufgetan. Es heißt, Hosna hat einige junge Männer abgelehnt; d.h. sie hatte in diesen Fällen Mitspracherecht. Warum gelingt ihr das nicht bei Wad Rayyes? Spielt da das Gebot des Alters eine Rolle? Sein Ansehen im Dorf?
    Ich glaube schon, dass der Erzähler etwas für Hosna empfindet; und ich glaube nicht, dass seine Abscheu gegenüber ihrer Zwangsverheiratung nur auf seinen Gefühlen beruht. Er scheint die traditionelle Lebensweise seines Dorfes weit mehr abzulehnen, als ihm am Anfang vielleicht bewusst war. Denn wenn er wollte, könnte er Hosna heiraten - Polygynie scheint ja üblich zu sein.


    Die Frage nach dem Publikum ist interessant. Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht, aber er kritisiert beide Seiten. Am Rande habe ich aber mitbekommen, dass das Buch im Sudan verboten worden ist.


    Jetzt gehe ich noch ein bisschen weiter lesen :winken:


    Liebe Grüße
    nikki

    Ich lese gerade:<br />Lion Feuchtwanger - Der jüdische Krieg

  • Ich habe heute auch das 6. Kapitel gelesen und muss sagen, dass mir das Buch immer besser gefällt. Es ist um einiges vielschichtiger und differenzierter, als ich es erwartet hatte.


    Es fehlt in überraschendem Ausmaß an wirklich "Guten" und "Bösen". Wad Rayyes steht zwar an erster Stelle für den Part des Romanbösewichts, aber wie Nikki schrieb, war gerade er es, der sich gegen die Beschneidung der Frauen aussprach. Das bildet immerhin ein gewisses Gegengewicht zu seinem "sie muss mich als Ehegatte akzeptieren, ob sie nun will oder nicht".
    Hier drängte sich mir übrigens der Vergleich mit Mustafa Sa'ids beharrlicher Verfolgung von Jean auf. Auch er kann es einfach nicht akzeptieren, dass eine Frau zu ihm "nein" sagt.


    Nikki fragt, wieso Husna ausgerechnet Wad Rayyes nicht ablehnen darf? Ich denke, dass es weder ihrem Vater noch ihren Brüdern noch dem Rest des Dorfes darum geht, dass sie ausgerechnet ihn nimmt. Auch er will sie ja schon seit 2 Jahren (sagt Mahjoub) zur Frau haben, aber Husna hatte ihn abgelehnt, was wohl anfangs auch von der Gemeinschaft akzeptiert worden war, ebenso wie ihre Ablehnung anderer Bewerber. Aber nach nunmehr 3 Jahren geht ihnen allen die Geduld aus. Es wird ihrer Meinung nach Zeit, dass Husna wieder den einer Frau zustehenden Platz, nämlich den an der Seite eines Mannes (oder besser unter einem Mann), einnimmt. Eine über sich selbst verfügende junge Frau ist ein Unding, das auf Dauer nicht geduldet werden kann. (Das ist übrigens mMn auch der Grund für die 8 Männer der Bint Majzoub. Erst als alte Frau ist es ihr gestattet, Witwe zu bleiben.) Ein Indiz dafür, dass es weniger um Wad Rayyes als zukünftigen Ehemann geht, als um einen Mann überhaupt, nehme ich Mahjoubs Vorschlag, der Ich-Erzähler möge Husna doch als Zweitfrau nehmen.
    Meine Hoffnung, dass die Haltung des Erzählers stellvertretend für die der jüngeren Generation stehen könnte, starb leider an dieser Stelle. Mahjoub, der ein wirklich "guter" Kerl zu sein scheint, scheint es zwar etwas zu bedauern, dass Husna zu etwas gezwungen wird, das sie nicht will, steht aber trotzdem auf der Seite der Tradition. "Die Frau gehört dem Mann", so war es und so ist es auch weiterhin, trotz leichter oberflächlicher Veränderungen. Tragisch.


    Noch tragischer erscheint mir diese Szene, wenn ich bedenke, dass der Roman 30 Jahre nach Erscheinung im Sudan verboten wurde. So viel zum Fortschritt. :sauer: Danke für diese Information, Aldawen. Ich habe das Nachwort meiner schwedischen Ausgabe noch nicht gelesen, hoffe aber, dass dies auch dort eraähnt wird.


    Mustafa als "Eroberer". *Seufz*. Was soll ich davon halten? Einerseits finde ich die Vorstellung schön; der Spieß wird umgedreht und der Eroberte fällt in das Land der Invasoren ein. Ausgleichende Gerechtigkeit also. Andererseits ist es so typisch, dass gerade Frauen die Hauptopfer seines Rachefeldzuges werden. Auch dies kommt mir sehr bekannt vor - ich (im Moment gerade mal männlich) räche mich an einem Mann, indem ich seine Frau vergewaltige. Die Frau selbst ist nur das Hilfsmittel für meine Rache. Ich erniedrige meinen Gegner, indem ich mich an seinem Eigentum vergreife - auch Soldaten im Feindesland haben seit jeher diese Taktik gewählt. Tja.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • In Kapitel 7 und 8 geht's ja richtig rund, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Die Beschreibung der Fahrt durch die Wüste fand ich sehr beeindruckend, ich habe mitgeschwitzt und gedürstet unter dieser glühenden Sonne. Und ich hatte den Eindruck, daß auch mein Gehirn beim Lesen langsamer wurde :zwinker: Leider konnte ich mit den eingestreuten Zitaten aus der arabischen Literatur nichts anfangen, aber ich notiere mir auf jeden Fall mal die Namen, vielleicht kann man da irgendwie in Übersetzung drankommen. Als der Erzähler und sein Fahrer das Polizeifahrzeug treffen und von deren Aufgabe hören, dachte ich erst: „Wie, jetzt schon? So lange ist der Erzähler doch noch nicht aus dem Dorf weg?“ Aber es ging dann ja wohl um ein ganz anderes Dorf. Und immer wieder kehren die Gedanken des Erzählers zu Mustafa Saîd zurück. Weitere Bruchstücke aus der Gerichtsverhandlung und aus dem nächtlichen Gespräch werden uns offenbar, so auch, daß Mrs Robinson noch lebt und der Erzähler Kontakt zu ihr aufnehmen will. Sehr schön auch, wie quasi aus dem Nichts die nächtliche Feier in der Wüste entsteht. Dergleichen ist wahrscheinlich nur in einer so extremen Landschaft möglich, die den Menschen vieles abverlangt. Da muß einfach jede Gelegenheit zum guten Leben und zur Freude ausgenutzt werden. Hier in Deutschland kann ich mir so etwas nicht vorstellen :breitgrins:


    Nur einen guten Monat später ist der Erzähler wieder in seinem Dorf zurück, viel schneller als gewöhnlich. Machdschûb hat ihm ein Telegramm geschickt, weil etwas Dramatisches im Dorf passiert ist. Machdschûb will zwar nicht darüber reden, aber daß zumindest Husna tot ist, wird sehr schnell deutlich. Niemand will aber dem Erzähler die genauen Umstände berichten. Husna wurde von ihrem Vater doch zur Ehe mit ar-Rajjis gezwungen, obwohl sie ihn ausdrücklich darum bat, den Erzähler zu ihrem Ehemann zu machen. Das ist zunächst alles was wir erfahren. Etwas Whisky hilft dann aber bei Bint Madschsûb, was mich nicht gewundert hat. Husna hat – wie angekündigt – zunächst ar-Rajjis und dann sich selbst erstochen. Die Beschreibung fand ich schon einigermaßen eklig. Und niemand im Dorf versteht ihre Beweggründe. Alle halten sie für durchgedreht – bis auf den Erzähler, den ja auch keiner mehr richtig versteht. Nicht einmal Machdschûb war ihr eine Hilfe (da nutzt es auch nichts, daß er versucht hat, ar-Rajjis und den Vater von ihren Plänen bzgl. Husna abzubringen), denn auch er hat sie abgewiesen, als sie ihn bat, den Erzähler zu verständigen. Damit hat Machdschûb sich mitschuldig an der Tragödie gemacht (auch wenn er keinen Fehler seinerseits sieht) und löst bei dem Erzähler einen Blackout aus. Zwar ist am Ende dieses Kapitels nicht klar, ob der Erzähler seinen besten Freund wirklich erwürgt hat, aber mit Blick auf das erste Kapitel, wo er von diesem schon in der Vergangenheit sprach, nehme ich das an. Hier wird der Unterschied zwischen den traditionell ausgerichteten Dorfbewohnern und dem doch europäisch geprägten Erzähler besonders deutlich. Für die Dorfbewohner ist das Geschehen eine Strafe Gottes, des Erzählers Großvater nennt es gar „die Heimsuchungen am Ende der Zeit“. Genau, eine Frau hat eben keine eigene Meinung zu haben, sondern sich still unterzuordnen. Und wo kämen wir überhaupt hin, wenn sich irgendetwas in Hunderten von Jahren änderte :grmpf: Ich kann Husna schon verstehen.



    Nikki fragt, wieso Husna ausgerechnet Wad Rayyes nicht ablehnen darf? Ich denke, dass es weder ihrem Vater noch ihren Brüdern noch dem Rest des Dorfes darum geht, dass sie ausgerechnet ihn nimmt. Auch er will sie ja schon seit 2 Jahren (sagt Mahjoub) zur Frau haben, aber Husna hatte ihn abgelehnt, was wohl anfangs auch von der Gemeinschaft akzeptiert worden war, ebenso wie ihre Ablehnung anderer Bewerber. Aber nach nunmehr 3 Jahren geht ihnen allen die Geduld aus. Es wird ihrer Meinung nach Zeit, dass Husna wieder den einer Frau zustehenden Platz, nämlich den an der Seite eines Mannes (oder besser unter einem Mann), einnimmt. Eine über sich selbst verfügende junge Frau ist ein Unding, das auf Dauer nicht geduldet werden kann. (Das ist übrigens mMn auch der Grund für die 8 Männer der Bint Majzoub. Erst als alte Frau ist es ihr gestattet, Witwe zu bleiben.) Ein Indiz dafür, dass es weniger um Wad Rayyes als zukünftigen Ehemann geht, als um einen Mann überhaupt, nehme ich Mahjoubs Vorschlag, der Ich-Erzähler möge Husna doch als Zweitfrau nehmen.


    Ja, so habe ich das auch empfunden. Es ging wohl wirklich nicht um die Ehe mit genau diesem, sondern irgendeinem Mann, was das Ganze aber noch entwürdigender macht.


    Mustafa als Rächer? Ja, möglicherweise spielt das auch eine Rolle, da habt Ihr wahrscheinlich recht. Aber ich glaube nicht, daß das der einzige Grund ist. Vielleicht ist „Rache“ auch nicht ganz das richtige Wort in diesem Zusammenhang. Könnte es nicht viel mehr um ein Überlegenheitsgefühl gehen? Auch das paßte gut zu der Wahl von Frauen als Opfer, würde aber auch seinen akademischen Ehrgeiz erklären.


    Insgesamt muß ich Saltanah bei der bisherigen Bewertung des Romans recht geben:



    Ich habe heute auch das 6. Kapitel gelesen und muss sagen, dass mir das Buch immer besser gefällt. Es ist um einiges vielschichtiger und differenzierter, als ich es erwartet hatte.


    Es fehlt in überraschendem Ausmaß an wirklich "Guten" und "Bösen".


    Das wird immer deutlicher. Jeder, aber wirklich jeder in dieser Geschichte hat helle und dunkle Momente. Innerhalb ihrer jeweiligen Sozialisation handeln sie auch alle glaubwürdig und das macht die Entwicklung so besonders tragisch. Ich habe bislang nicht den Eindruck, daß irgendetwas grundsätzlich anders hätte verlaufen können, höchstens in Nuancen. Ich denke, dieses Buch wird mich auch nach dem Zuklappen am Ende, was wahrscheinlich morgen der Fall sein wird, noch einige Zeit beschäftigen.


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • So, ich bin durch und im Moment zugegebenermaßen ein bißchen ratlos. Das Kapitel 9 bringt endlich die Aufklärung, was sich in diesem geheimnisvollen Raum unter dem Giebeldach hinter der Metalltür verbirgt und die Überraschung war durchaus gelungen. Es gibt weitere Puzzleteile aus Mustafa Saîds Leben, auch die Aufklärung seiner Ehe und des Mordes. Das war schon ziemlich harter Tobak. Die Abhängigkeit war aber wohl beidseitig, nur das keiner von beiden charakterstark genug war, die Beziehung auf eine vernünftige Basis zu stellen. So was soll's ja geben. Trotzdem fehlt mir, wie dem Erzähler auch, der Zusammenhang zwischen den Schnipseln, daher unterstelle ich Salich hier Absicht. Vielleicht steckt hinter der Zeitung und den Notizen gar nichts? Oder soll Saîd so indifferent bleiben? Und wenn ja: warum? Was bezweckt Salich damit? :confused:


    Wenigstens gibt der Erzähler noch zu, daß Husna die einzige Frau sei, die er je geliebt habe, weshalb er selbst den toten Mustafa Saîd noch als Widersacher bezeichnet. So weit, so gut. Und was haltet Ihr von dem Ende in Kapitel 10? Ist es der Versuch, sich aus dem Leben und der Verantwortung zu stehlen, bevor er dann endlich einmal bewußt eine Entscheidung trifft? Ich schätze diese Entscheidung sehr, weil sie für den Erzähler sicher der schwierigere Weg ist, der ihm mehr abverlangt, deshalb bekommt er meinen Respekt. Aber wie er zu dieser Wahl gelangt, das entzieht sich meinem Verständnis. Mußte es der Nil sein wegen Mustafas Abgang?


    Grübelnde Grüße,
    Aldawen

  • 7. Kap.:
    Die Beschreibung der sengenden Sonne war wirklich grandios. Überhaupt liebe ich extreme Naturschilderungen, ob es sich nun um ewiges Eis oder Sandwüste handelt. Hier wird auch deutlich, wieso die jüdisch/christlich/islamische Hölle heiß ist. "The day here is [...] a mere Torment. [...] Night is deliverance." Und auch die Beschreibung der Nacht, in der die Menschen aufatmen können, die Lebensgeister wieder erwachen, ist sehr gut gelungen. Das spontane Fest am Wegesrand hat mich in eine so positive, hoffnungsvolle Stimmung versetzt, hat mich so eingelullt, dass das


    8. Kapitel
    dann als umso schlimmerer Schock kam. Durch Salihs Hinhaltetaktik wirkt das Kapitel noch stärker. Was kann nur geschehen sein, wenn alle darüber schweigen? Die schlimmsten Vermutungen müssen übertroffen worden sein. Und so war es dann auch.
    Aber vorher kommt noch ein kleiner Exkurs über die heuchlerischen, raffgierigen, bestechlichen Politiker, der mir sehr gut erklärt, wieso das Buch im Sudan verboten wurde. 10 Jahre nach der Unabhängigkeit, von der sich die Sudanesen vermutlich eine große Verbesserung ihrer Lebensumstände erwarteten (im Buch hieß es an einer Stelle, der Armut würde dann ein Ende gemacht), stellt der Erzähler enttäuscht fest, dass seine Landsmänner genauso ausbeuterisch veranlagt sind wie die Engländer. "Die Menschen sind überall gleich", sagt er ja am Anfang des Buches, als er über die Briten befragt wird, und hier bestätigt sich das in der anderen Richtung auch.
    Schließlich erfährt er dann von Bint Majzoub, was wirklich vorgefallen war. Ich weiß nicht, was das Schlimmste an der Schilderung war. Die abgebissene Brustwarze, die mir durchaus Alpträume verursachen könnte, die Tatsache, dass die Dorfbewohner Husnas Schreie mit dem Hinweis, sie solle sich "doch nicht so anstellen", ignoriert haben (Wad Rayyes tat doch nur, worauf er ein gutes, gesetzliches Recht hatte), oder die völlig einseitige Schuldzuschreibung für Husna, die getan hat, was eine Frau absolut nicht tun darf, und wofür es überhaupt keinen erkennbaren Anlass gab. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich unter der Oberfläche auch bei einigen Dorfbewohnern Zweifel rühren, ein schlechtes Gewissen sich vielleicht zu erkennen gibt, das aber schleunigst unterdrückt werden muss. Das Unter-den-Teppich-kehren der ganzen Angelegenheit deutet doch stark darauf hin, dass niemand genauer darüber nachdenken will, was eigentlich geschehen ist, was die Ursachen waren. Offiziell wird so Husna zur "Bösen" erklärt, die durch ihr unangemessenes Verhalten die Ruhe des Dorfes gestört hat.
    Noch schlimmer als das alles ist für mich aber die Reaktion von Wad Rayyes alter Frau, die auf die Information hin, ihr Mann wäre umgebracht worden, auf englisch nur "Good riddance" (auf schwedisch "Schön, ihn los zu sein") antwortet, und am nächsten Tag jubelt, Husna segnet und sagt, Rayyes habe sich sein eigenes Grab gegraben. Schon wahr, aber was muss diese Frau durchgemacht haben, um auf diese schockierende, untraditionelle Art und Weise zu reagieren. Da tut sich ein Abgrund an Entsetzlichkeiten auf!


    Ich frage mich allerdings, was Husna zu ihrem "extremen" Handeln gebracht hat, wie sie es auch nur in Erwägung ziehen konnte, so undenkbar zu handeln. Wann und wie hat sie einen anderen Blick auf ihr Leben bekommen? Der Erzähler war für 7 Jahre im Ausland, sie aber hat ihr gesamtes Leben im Dorf verbracht. Hat Mustafa sie "erzogen", sie auf neue Gedanken gebracht, ihr Alternativen aufgezeigt? Hoffentlich erfahren wir mehr darüber.


    Glaubst du wirklich, Aldawen, der Erzähler hätte Mahjoub umgebracht? Auf den Gedanken war ich gar nicht gekommen, ich war davon ausgegengen, jemand anders hätte rechtzeitig eingegriffen. Aber denkbar ist es schon.

    Wir sind irre, also lesen wir!


  • Noch schlimmer als das alles ist für mich aber die Reaktion von Wad Rayyes alter Frau, die auf die Information hin, ihr Mann wäre umgebracht worden, auf englisch nur "Good riddance" (auf schwedisch "Schön, ihn los zu sein") antwortet, und am nächsten Tag jubelt, Husna segnet und sagt, Rayyes habe sich sein eigenes Grab gegraben. Schon wahr, aber was muss diese Frau durchgemacht haben, um auf diese schockierende, untraditionelle Art und Weise zu reagieren. Da tut sich ein Abgrund an Entsetzlichkeiten auf!


    Ja, das habe ich allerdings auch gedacht, als ich ihre Reaktion las. In der deutschen Übersetzung ruft sie übrigens, so aus dem Schlaf gerissen. „Ach, zum Teufel!“ aus. Ihr Problem wird sicher weniger die Vielzahl an Heiraten ihres Mannes gewesen sein, sondern der Grund für ihre Reaktion dürfte eher in seinem sonstigen Verhalten ihr gegenüber liegen. Und das wirft auf den, sich zwar gegen FGM aussprechenden, aber ansonsten doch machomäßigen ar-Rajjid kein gutes Licht.



    Glaubst du wirklich, Aldawen, der Erzähler hätte Mahjoub umgebracht? Auf den Gedanken war ich gar nicht gekommen, ich war davon ausgegengen, jemand anders hätte rechtzeitig eingegriffen. Aber denkbar ist es schon.


    Ich vermute es einfach nur wegen der Szene ganz am Anfang nach seiner Rückkehr ins Dorf. Machdschûb fragte ihn da, ob es in Europa auch Landwirte gäbe und der Erzähler geht in Gedanken die vielen anderen Parallelen durch. Und dann hieß es: „All das habe ich Machdschûb nicht gesagt; hätte ich es doch getan, er war gescheit genug. In meinem Dünkel fürchtete ich, er würde es nicht verstehen.“ Daß Machdschûb also zum Zeitpunkt des Erzählens nicht mehr anwesend war, war damit klar. Es klang für mich auch nach einem lange mit sich herumgetragenen Selbstvorwurf, den ich mir nicht erklären konnte, und deshalb ich hatte schon spekuliert, ob Machdschûb wohl einfach weggegangen oder tot sei. Nach dieser Szene am Ende von Kapitel 8 bin ich mir sicher, daß Machdschûb tot ist und zwar – wenngleich ungewollt – durch die Hand des Erzählers.


    Schönen Gruß,
    Aldawen