Eshkol Nevo - Vier Häuser und eine Sehnsucht

Es gibt 6 Antworten in diesem Thema, welches 3.417 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • So, jetzt setze ich mich hin und mache endlich mal die Rezension fertig. Wird ja auch Zeit! Ich versuche mich zusammenzureißen, aber ich befürchte, sie wird ausgesprochen subjektiv und schwärmerisch ausfallen. :zwinker:


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    Klappentext
    In der Wand ist ein Loch, damit man von beiden Seiten an den Schalter fürs warme Wasser kommt. Auf der einen Seite wohnt das Studentenpaar Noa und Amir, auf der anderen Seite Mosche und Sima. Im Haus gegenüber eine Familie, deren Sohn Gidi gerade im Libanon gefallen ist. Dessen kleinem Bruder Jotam gehört eine der verschiedenen Erzählstimmen: unterschiedliche Perspektiven, Tonlagen, Seelenlagen, und so viel wirkliches berührendes Leben. Noa, die die Welt durch eine Linse betrachtet, Amir, der sich besser mit Abschiednehmen als mit Bleiben auskennt, Mosche, der zum Missfallen von Sima immer religiöser wird, Sima, die sich ihrer Versäumnisse bewusst wird, wenn sie hört, wie Noa und Amir sich lieben.


    Schließlich Ssadeq, der arabische Bauarbeiter, dessen Mutter von Rückkehr träumt und noch den Schlüssel zu jenem Haus besitzt, aus dem sie 1948 geflohen ist. Der Ort: ein Vorort von Jerusalem, in dem heute vor allem Kurden leben. Die Zeit: Jene Spanne nach der Ermordung Jitzchak Rabins, als Terroranschläge das Land erschüttern, die Hoffnung auf Frieden zunichte und der Friedensprozeß eingefroren wird.


    Meine Meinung
    Eigentlich weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Es steckt so vieles in diesem Buch, es ist ungeheuer dicht und vielschichtig und dabei feinsinnig und mit gutem Gespür für die einzelnen Figuren, melancholisch, stellenweise poetisch und witzig – teilweise sogar zum Schreien komisch. (Besonders eine ganz bestimmte Szene – fast schon Slapstick – bei der mir am Ende allerdings das Lachen gewaltig im Halse stecken blieb.)


    Der Einstieg ist mir zwar nicht ganz einfach gefallen, durch den ständigen Perspektivwechsel und weil die Handlung zunächst ein wenig dahinplätschert, aber dann hat mich das Buch von Seite zu Seite mehr in seinen Bann gezogen. Den Schreibstil habe ich als wunderschön und poetisch empfunden. Vor allem weil der Autor so einen Sinn hat für Kleinigkeiten.


    Ich weiß, Buchrückseiten versprechen meist das Blaue vom Himmel, aber selten konnte ich aus so vollem Herzen zustimmen wie hier, wenn es heißt:


    „Das ganze Israel in eine kleine überfüllte, pulsierende Blase gepresst. Dabei ein feinsinniges Buch über Gefühle, Beziehungen und Liebe. Alle zentralen Konflikte dieses Landes – zwischen Juden und Arabern, europäischen und orientalischen Juden, Frommen und Ungläubigen – kommen hier zum Tragen.“

    Das spricht mir geradewegs aus der Seele, genauso habe ich es auch empfunden: Eine kleine, überfüllte Blase, die vor Leben überschäumt.


    Das ganze Besondere für mich ist aber das Gefühl, das ich beim Lesen hatte. Ich glaube, noch kein anderes Buch vorher hat bei mir ein so starkes Glücksgefühl ausgelöst; ich hatte die ganze Zeit einen riesigen Ball von Glück im Bauch. Für mich ein unvergessliches Buch!


    5ratten


    Ich hoffe inständig, dass Eshkol Nevo noch viele weitere Bücher schreibt, die auch alle ins Deutsche übersetzt werden.

    Einmal editiert, zuletzt von Thanquola ()


  • Ich hoffe inständig, dass Eshkol Nevo noch viele weitere Bücher schreibt, die auch alle ins Deutsche übersetzt werden.


    Hallo Thanquola,


    Deine schöne Rezension ist zwar schon ein paar Tage her, aber ich habe sie zu Erinnerungszwecken immer noch als Lesezeichen hinterlegt. Leider habe ich das Buch zwar in meinem Regal, aber immer noch ungelesen... :redface:
    Kürzlich habe ich allerdings entdeckt, dass im Mai ein neues Buch von Eshkol Nevo auf deutsch erscheint:


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    "Als unser Leben begann"


    Das könnte mein Sommerbuch werden! Obwohl es eigentlich ein bißchen wie ein Jungs-Buch klingt, stellt sich beim Thema Fußball sofort Interesse ein... Na, was meinst Du?


    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea


  • Kürzlich habe ich allerdings entdeckt, dass im Mai ein neues Buch von Eshkol Nevo auf deutsch erscheint:


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    "Als unser Leben begann"


    Das könnte mein Sommerbuch werden! Obwohl es eigentlich ein bißchen wie ein Jungs-Buch klingt, stellt sich beim Thema Fußball sofort Interesse ein... Na, was meinst Du?


    Dubh, das ist großartig! Du ahnst gar nicht, wie glücklich du mich machst! :tanzen: (Als ich deinen Beitrag vor ein paar Tagen gelesen habe, bin ich erstmal eine Viertelstunde kreischend durch die Wohnung gehüpft und jetzt hab ich auch schon wieder ein dickes Grinsen im Gesicht. :breitgrins: )


    Das MUSS ich natürlich unbedingt haben. Ich werd's gleich vorbestellen. Jetzt muss ich bis zum 1. Mai bloss noch meine Erwartungen runterschrauben. (Das wird schwer!)

  • Gut, dass Du diesen Thread nach oben geschubst hast, es ist bei mir direkt auf meinen Wunschzettel gelandet.


    Vielen Dank dafür.


    LG Murkxsi

    Mein Lebensmotto: Leben und leben lassen!


  • Dubh, das ist großartig! Du ahnst gar nicht, wie glücklich du mich machst! :tanzen: (Als ich deinen Beitrag vor ein paar Tagen gelesen habe, bin ich erstmal eine Viertelstunde kreischend durch die Wohnung gehüpft und jetzt hab ich auch schon wieder ein dickes Grinsen im Gesicht. :breitgrins: )


    Das MUSS ich natürlich unbedingt haben. Ich werd's gleich vorbestellen. Jetzt muss ich bis zum 1. Mai bloss noch meine Erwartungen runterschrauben. (Das wird schwer!)


    Oh, das freut mich sehr, dass Du Dich nun so gefreut hast! Und natürlich hoffe ich ebenso, dass "Als unser Leben begann" Deine Erwartungen dann auch erfüllen kann...
    Übrigens habe ich das Buch auch vorbestellt - israelischer Autor (für meine Sammlung) und das Thema Fußball: da schlägt mein Herz gleich höher. Dementsprechend sind meine Erwartungen auch groß! Aber nach Deiner Rezension zu "Vier Häuser und eine Sehnsucht" bin ich wirklich guter Dinge.


    Hach, ich wünsche Dir jetzt schon viel Lesevergnügen, Thanquola! :winken:



    Murkxsi: Welches Buch ist denn nun auf Deinem Wunschzettel gelandet? Das hier rezensierte oder die Neuerscheinung?



    Liebe Grüße
    dubh

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Eshkol Nevo – Vier Häuser und eine Sehnsucht

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    OT: Arba'a batim wega'agua / ארבאה בתים וגעגוע
    OA: 2004
    436 Seiten
    ISBN: 978-3423245647



    Klappentext:
    In der Wand zwischen den beiden Wohnungen ist ein Loch, damit man von beiden Seiten an den Schalter fürs warme Wasser kommt. Auf der einen Seite wohnen Noa, angehende Photographin, und Amir, Psychologiestudent, auf der anderen Seite ihre Vermieter, Moshe und Sima, er ist Busfahrer, sie hat Buchhaltung gelernt, bleibt aber jetzt zu Hause »wegen der Kinder«. Im Haus gegenüber eine Familie, deren Sohn Gidi gerade im Libanon gefallen ist.


    Dessen kleinem Bruder Yotam gehört eine der Erzählstimmen, die Nevo seinen Protagonisten leiht: Unterschiedliche Perspektiven, Tonfälle, Seelenlagen. Noa, die die Welt durch eine Linse betrachtet, Amir, der sich besser mit Abschiednehmen als mit Bleiben auskennt, Moshe, der zum Missfallen von Sima immer religiöser wird, Sima, die sich ihrer Versäumnisse bewusst wird, wenn sie hört, wie Noa und Amir sich lieben. Schließlich Ssadeq, der arabische Bauarbeiter, dessen Mutter von Rückkehr träumt und noch immer den Schlüssel zu jenem Haus besitzt, aus dem sie 1948 vertrieben wurde und in dem jetzt Moshes Eltern wohnen.


    Eigene Meinung:
    Es ist das erste Buch, welches ich von Eshkol Nevo las und ich muss gestehen, dass ich zwei Anläufe brauchte um es zu lesen. Ich bin mir allerdings nicht so ganz im Klaren darüber, warum das so war. Vielleicht liegt es an dem, zu Beginn für den Leser anstrengenden, Stil dieses Romans.
    Eskol Nevo lässt die Menschen, welche in diesem kleinen Ort eng zusammenleben, zu Wort kommen und zwar jeden Einzelnen. Egal ob jung, alt, verheiratet, Student, Mutter oder palästinensischer Arbeiter. Es ist eine wirklich intensive Begegnung mit den Protagonisten, aber es ist auch ein wenig anstrengend, da man zu Beginn ein wenig Zeit braucht um zu erkennen, wer da jetzt gerade spricht zumal der Wechsel sehr oft sehr abrupt kommt. Es ist fast ein wenig so, als hätte man es mit einer multiplen Persönlichkeit zu tun.
    Die Menschen in diesem Ort leben in einer einzigartigen Symbiose miteinander, ohne dass ihnen das selbst so richtig bewusst wird, aber der aufmerksame Leser wird es erkennen.
    In dieser Symbiose findet man wiederum kleinere Symbiosen und das sind die einzelnen Menschen, welche in Familien zusammenleben und beide Lebensräume brauchen einander. Sie sind voneinander abhängig und sie beeinflussen einander auf extreme Art und Weise. Die Dinge welche die Menschen dort beschäftigen sind Liebe, Tod, Familie, Freundschaft, berufliche Frustration, verlorener Lebenssinn, Heimweh und Mitmenschlichkeit.
    Sie alle, die Protagonisten mit samt ihren Problemen haben aber eine Gemeinsamkeit und das ist eine quälende und zum Teil unstillbare Sehnsucht. Nach was? Nach allem, wonach ein Mensch sich sehen kann; von weltbewegenden Hoffnungen bis hin zu trivialsten Wünschen.
    Auch wenn diese Themen Menschen auf der ganzen Welt beschäftigen, so hätte dieser Roman dennoch von keinem anderen Ort der Welt außer Israel handeln können. Nevo versteht es auf faszinierende Weise, in diese kleine Welt, ganz Israel zu packen mit all seinen Macken, Problemen, Krankheiten, dem Leid und seiner einzigartigen Schönheit.
    Überallem schwebt immer wieder, wie in allen israelischen Romanen, HaMazav – Die Lage.
    Man könnte Eshkol Nevo zum Vorwurf machen, sich keinem Thema intensiv gewidmet zu haben, aber ich denke, das war hier auch gar nicht Sinn der Sache. Dafür gibt es noch genügend andere Literatur, die diese Themen behandelt.
    Ich denke eher, dass es dem Autor darum ging einen Querschnitt durch die Israelische Gesellschaft aufzuzeigen und zwar durch wirklich alle Bereiche, egal ob es das Liebesleben betrifft, den Tod, die Armee, die Politik, die Religion, der palästinensische Konflikt oder einfach nur die Liebe zu diesem unglaublich komplizierten und wundervollen Land.
    Interessant ist, dass ausgerechnet die Person, welche am weitesten entfernt ist, die größte Sehnsucht, nach der Heimat Israel vermittelt.


    Ich bin mir nicht sicher, wie der Roman auf Menschen wirken wird, die keine Beziehung zu Israel haben. Ich denke, es wird schwer sein, die feinen Anspielungen, Nuancen und die Liebe zu erkennen.


    Meine Seele und meine Sehnsüchte hat Eshko Nevo mit diesem Buch jedoch erreicht.


    5ratten

  • Noa und Amir, Mitte 20, sie angehende Fotografin, er Psychologiestudent, wagen das Experiment Zusammenleben und ziehen in eine kleine Mietwohnung in einer Siedlung unweit von Tel Aviv. Schnell merken sie, dass der gemeinsame Alltag seine Tücken hat. Sie fühlt sich eingeengt und fürchtet, ihre Kreativität einzubüßen, weil es ihr an persönlichem Freiraum fehlt, während er immer stärker an seiner Eignung für sein gewähltes Fachgebiet zu zweifeln beginnt und es wehtut, dass sich Noa immer wieder von ihm zurückzieht.


    Ihre Vermieter, Mosche und Sima, sind nur unwesentlich älter, aber schon ein gesetztes Ehepaar mit zwei kleinen Kindern. Sima liebt ihre Kinder, wünscht sich insgeheim aber manchmal auch mehr Freiheit und Ungebundenheit und ist überdies ziemlich genervt von Mosches strenggläubiger Verwandtschaft, die für sie immer nur Kritik übrig hat. Mosche sitzt zwischen den Stühlen, einerseits will er zu seiner Frau halten, spürt aber auch die Ansprüche seiner Herkunftsfamilie und ist hin- und hergerissen zwischen seiner Erziehung im Glauben und seinem viel weltlicher orientierten Leben mit Sima und den Kindern.


    In der Nachbarschaft lebt Jotam, dessen Bruder kürzlich bei einem Einsatz getötet wurde. Seine Eltern können den Verlust nicht verwinden und haben sich durch ihre sehr unterschiedliche Art zu trauern auseinandergelebt - der Vater vergräbt sich in Arbeit, die Mutter baut indessen zu Hause für den Toten einen Gedenkschrein und kann den Alltag nicht mehr bewältigen. Jotam kapselt sich von seinen Mitschülern ab und streift ziellos umher, wirkt mürrisch und wird verhaltensauffällig und will doch eigentlich nur verstanden und getröstet werden.


    Der Palästinenser Ssadeq arbeitet ein paar Häuser weiter auf der Baustelle, als ihm nach und nach aufgeht, dass er die Gegend kennt - er ist dort aufgewachsen, bevor der Staat Israel gegründet wurde und seine Familie ihr Haus verlor.


    Rund um das Haus von Mosche und Sima spielt sich die Handlung dieses faszinierenden Buches ab. Fast könnte man sagen, das Haus sei ein wichtiger Protagonist in dem Roman, der sich unter anderem damit beschäftigt, was ein Haus, ein Zuhause, ein Heim für seine Bewohner bedeutet und wie sehr wir ein geliebtes Zuhause auch noch Jahrzehnte später im Herzen tragen können.


    Es geht aber um noch mehr als nur das physische Zuhause: Wie kann Zusammenleben funktionieren? (Als Yitzhak Rabin erschossen wird, dringt auch das politische und gesellschaftliche Gewicht dieser Frage in die Handlung hinein - gerade in Israel nicht unwesentlich.) Was braucht es, um sich geborgen und heimisch zu fühlen? Kann man immer Kompromisse finden, die für beide Seiten taugen? Was, wenn Liebe allein nicht ausreicht, um einen gemeinsamen Alltag dauerhaft zu bewältigen?


    Mit viel Einfühlungsvermögen lässt uns Eshkol Nevo in die Welten seiner Protagonisten eintauchen. Dabei ist nicht gekennzeichnet, wer gerade erzählt, so dass der Einstieg zunächst ein wenig verworren wirkt (zumal manche Passagen auch in einer besonders poetischen Sprache, fast gedichtartig, verfasst sind, was mich anfangs leicht befremdet hat). Doch hat man sich erst einmal eingelesen und orientiert, entwickelt das Buch einen regelrechten Sog mit all den Fragen, die es aufwirft und all den so oft ungesagt bleibenden Dingen, die hier mit manchmal fast schmerzhafter Klarheit und Ehrlichkeit angesprochen werden. Hier ist nichts nur schwarz oder weiß, Nevo ist ein Meister der Zwischentöne und der Widersprüchlichkeiten, aus denen das Leben nun einmal besteht, und weiß sie wunderbar zu formulieren.


    Eine Empfehlung!


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen