Hallo,
dieser Thread ist einer, den ich stets gerne lese, weil das Buch auf mich eine nachhaltige Wirkung hat. Immer mal wieder fallen mir beim Lesen anderer Stellen aus diesem Buch ein oder aber ich stolpere bei irgendwelchen Dokus oder Artikel über diese Zeit über meine Erinnerungen an "Kind 44". Tom Rob Smith hat uns nichts neues, nichts sensationelles erzählt, aber dennoch hat er bei mir Eindruck hinterlassen. Er hat mir die normalen Menschen, die in dieser Diktatur zurechtkommen mussten, näher gebracht, hat Ängste und Oppurtunismus greifbar werden lassen...
Leo ist ein Überzeugungstäter. Solange er glaubt, für ein gutes Ziel zu arbeiten, rechtfertigt das Ziel praktisch sämtliche Mittel. Aber als er seinen Glauben ans System verliert, ist er genauso bereit, für ein anderes Ziel alles zu riskieren und zu opfern. Er ist von einer Konsequenz, die man in gewisser Weise nur bewundern kann und kann deswegen, trotz manchmal unsympathischer Handlungsweisen, die Sympathie des Lesers erringen.
Leo wirkt für mich als Person vor allem realistisch. Er ist kein Held (ausgenommen vom Großen Vaterländischen Krieg), sondern - wie Du schon sagst - ein Überzeugungstäter, der nicht über Folgen nachdenkt. Er denkt "an das große Ganze" und dafür kann er sich die Hände - ohne mit der Wimper zu zucken - schmutzig machen. Aber Leo ist nicht unbelehrbar, kein schlechter Mensch an sich. Als er begreift, was das System den Menschen abverlangt oder gar antut, wandelt er sich... Leo ist nicht schwarz und nicht weiß, das macht ihn in meinen Augen glaubhaft. Und es hat mich mehr als einmal nachdenklich gemacht - nachdenklich, wie ich mich in solch einem Regime verhalten hätte. Arrangieren? Widerstehen? Kämpfen? Mitmachen? Im Nachhinein ist man ja duchaus versucht zu denken, dass man natürlich auf der richtigen Seite gestanden hätte - aber das ist (jetzt) leichter gesagt und vor allem bloße Spekulation. Und Wunschdenken, natürlich.
ZitatDas Verbrechen, welches Leo auf eigene Faust untersucht, hat zwar einige Schwächen bezüglich der Motivation des Täters, ist aber gut geschildert und würde alleine bereits für jeden durchschnittlichen Thriller ausreichen. Es spielt aber trotzdem für mich nur eine Nebenrolle, neben der Darstellung eines unmenschlichen Systems. Ich wusste ja eigentlich schon, dass die Stalin-UdSSR eine miese Diktatur war und auch dass unzählige Personen in Lagern verschwanden, aber die Dimensionen, mit denen dieser Staat in das Leben der einzelnen, eigentlich unpolitischen Menschen eingegriffen hat, waren mir nicht so sehr bewusst.
Und hier bin ich immer wieder uneins mit dem Verlag: das Cover und der Klappentext deuten ja sehr auf einen Thriller hin - der Titel (mit dem Hinweis auf Kinder) lässt schon vielen potentiellen LeserInnen das Blut vorher in den Adern gefrieren... Ob man das Buch auch anders verpacken hätte können? Denn die Thriller-Handlung empfinde ich - ebenso wie Du - als Nebenhandlung. Auch wenn "Kind 44" durchaus erfolgreich war (Bestsellerliste, etc.) so würde ich ihm nach wie vor mehr LeserInnen wünschen, weil es durchaus nachhaltig ist.
Liebe Grüße
dubh