Juri Rytchëu - Traum im Polarnebel

Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 2.921 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von yanni.

  • Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links


    Anfang des 20. Jahrhunderts sind große Teile des Nordpolarmeers noch kaum oder gar nicht erforscht und wecken den Tatendrang vieler wagemutiger Abenteurer und Wissenschaftler. Zu diesen gehört auch John McLennan, der im äußersten Nordosten Sibiriens unterwegs ist. Doch im Land der Tschuktschen widerfährt ihm ein Unfall, der sein Leben für immer verändert.


    Bei einer Sprengung werden ihm beide Hände zerfetzt, und er hat keine Wahl als sich von den Eingeborenen über Land ins nächste Krankenhaus transportieren zu lassen. Doch der Transport verläuft nicht wie gewünscht - zunächst leidet John an Wundbrand, so dass eine Schamanin ihm, um sein Leben zu retten, die Finger amputieren muss; und als er schließlich zur Küste zurückkommt, hat sich sein Schiff längst auf den Heimweg in die USA gemacht.


    Nun sitzt er im Tschuktschendorf Enmyn fest, schwer verletzt, zwischen “ungewaschenen, unzivilisierten Wilden”, ihrer Sprache nicht mächtig und ihrer Sitten nicht kundig, und muss sich darauf einrichten, hier den langen Polarwinter zu überstehen. Als Gestrandeter tut er sich erwartungsgemäß am Anfang schwer, sich mit dieser Situation abzufinden, aber bald siegt der Überlebensinstinkt über das Selbstmitleid. Er beginnt, am Leben des Dorfes teilzunehmen - und dieses Leben besteht in erster Linie aus dem Kampf ums Überleben, der nur in der Gemeinschaft zu gewinnen ist. So helfen ihm die Tschuktschen auch wo es nur geht - aus Freundlichkeit, aber auch weil es schwierig ist, ein völlig nutzloses Maul zu stopfen. Und John lernt, worauf es ankommt; er erhält Prothesen und fängt bald an, sich in seinem neuen Leben einzurichten.


    In den folgenden Jahren wird er langsam aber sicher zu einem “Lygorawetljan”, einem “echten Menschen”, wie sich die Tschuktschen selbst nennen. Er wird ein erfolgreicher Jäger, nimmt sich eine Frau und gründet eine Familie, findet Freunde, macht sich aber auch Feinde. Vor allem aber kann er dank seiner Erfahrung seine neuen Gefährten gegen die Übergriffe und Ausbeutungsversuche weißer Händler, Goldsucher und Abenteurer in Schutz nehmen. So wird aus einem verzweifelten Winter ein ganzes, erfülltes Leben…


    In wunderbarer poetischer Sprache und eindrucksvollen Bildern erzählt der Tschuktsche Rytchëu vom Leben seines Volkes und wie ein weißer Mann es erlebt. Voller Einfühlungsvermögen, aber dennoch unsentimental und in aller Deutlichkeit lässt er den Leser an der Fremdartigkeit, aber auch an den Werten, die alle Menschen verbinden und für das Überleben dieses Volkes überlebenswichtig sind, teilhaben. Der Autor selbst ist in beiden Welten zu Hause und damit wohl der berufenste Zeuge, um aus der dieser vom Untergang bedrohten Welt zu berichten.


    Seine Sprache ist einfach, aber eindrücklich; auch wenn sich die Erzählung um die Person des John McLennan kristallisiert, geht es doch nicht so sehr um einzelne Charaktere, sondern um das Miteinander in einer feindlichen Umwelt. Viele Weisheiten, wie man sie hierzulande vor allem in Selbsthilferatgebern für ein glücklicheres Leben findet, sind für die Existenz dieses Volkes unverzichtbar, und so nimmt man aus der unprätentiösen Beschreibung der Härten dieser Existenz vor allem eine Lehre mit: Dass sich bei genauerem Hinschauen die Grundlagen dieser faszinierenden, fremdartigen Kultur gar nicht so sehr von der unsrigen unterscheiden.


    Hier noch eine Karte von Tschukotka:
    rytcheu_tschukotka.jpg

    Viele Grüße aus dem Zwielicht<br />[size=9px]Rihla.info | blooks - Rezensionen und mehr<br />[b][url=http://www.librarythi

  • Danke für diesen wunderbaren Tipp. Ich habe das Buch gerade getauscht und freue mich schon darauf es zu lesen. Ich werde berichten.

    Einmal editiert, zuletzt von Klara ()

  • Meine Meinung:


    Mit dieser Lektüre habe ich mich wieder mal auf ein Leseexperiment eingelassen, denn "Traum im Polarnebel" passt nicht so wirklich in mein Beuteschema. Auf eine persönliche Empfehlung hin habe ich mich auf den Versuch eingelassen und wurde positiv überrascht.


    Die Geschichte erzählt von einem Kanadier, der durch unglückliche Umstände beim Volk der Tschuktschen strandet, zunächst zu einem Leben mit ihnen zusammen gezwungen ist und dann aber einer von ihnen wird, am Ende sogar bei ihnen bleibt, obwohl er wieder nach Hause könnte.


    Anfangs tat ich mich ein bisschen schwer, denn allzu deutlich wird zunächst der Unterschied zwischen dem "Weißen" und den "echten Menschen", den Tschuktschen, heraus gearbeitet. John erscheint völlig naiv, während die Tschuktschen ihm gönnerhaft das Leben retten und ihn durchfüttern. Mit der Zeit begriff ich aber, dass genau dieser Zustand der Ausgangspunkt war, von dem aus der Autor Johns Entwicklung aufzeigen wollte; am Ende sieht das Bild nämlich ganz anders aus.


    Dazu noch kommt, dass der Roman 1968 erschien und von einer Zeitspanne am Beginn des 20. Jahrhunderts erzählt; hier ist also ein erheblicher Zeitfilter, der beim Lesen berücksichtigt werden muss. Als ich mir dieser beiden Punkte bewusst war, konnte ich mich besser auf die Geschichte einlassen und endlich ganz tief darin eintauchen.


    Das Leben der Tschuktschen fand ich von Anfang an faszinierend. Ihr Leben war geprägt einerseits von der Auseinandersetzung mit der Natur und ihren Gewalten, aber auch vom Einklang mit der Natur. Die Bedingungen, unter denen sie lebten, sind für uns in unserer angepassten Welt unvorstellbar, und doch scheinten sie ein sehr erfülltes Dasein geführt zu haben. Glück und Unglück liegen sehr nahe beeinander, und der Autor lässt seine Leser an allen Belangen des tschuktschischen Lebens teilhaben, mit stellenweise auch sehr emotionalen Szenen. Die Polarstimmung in den verschiedenen Jahreszeiten dieser Region hat er wunderbar darzustellen vermocht, die Tierwelt und den Einfluss des Polarmeeres ebenso.


    Mir hat die Lektüre nach den beschriebenen Anfangsschwierigkeiten sehr gut gefallen und ich werde sicherlich weitere Bücher des Autors lesen, um noch mehr über das Leben der Tschuktschen zu erfahren.


    4ratten

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Zum Inhalt wurde ja schon genug geschrieben, daher erspare ich mir das.


    Traum im Polarnebel war mein erstes Buch von Juri Rytchëu und bleibt sicher nicht mein letztes. Der zweite Teil dieser interessanten Geschichte wartet schon.


    Erst einmal musste ich mich kundig machen, wer diese Tschuktschen eigentlich sind und wo sie leben. Dann begann die Geschichte mit einem dramatischen Ereignis, das jedoch nicht aufgebauscht oder anderweitig ausgeschlachtet wurde. Ein schrecklicher Unfall war geschehen und nun musste man damit fertig werden. Als sich drei der Dorfbewohner bereit erklärten den Verwundeten in die einen Monatsmarsch entfernte Siedlung zum Arzt zu bringen, kamen mir die Zurückhaltung und ihre Bedenken noch einartig vor. Hatten sie etwa schlechte Erfahrungen gemacht?


    Die Überheblichkeit mit der John von den Männer redete oder dachte, ärgerte mich. Gut, sie strömten nicht gerade über vor Hilfsbereitschaft, aber sie hatte ja auch nichts mit der Besatzung zu tun. Und so wie man schon auf den ersten Seiten lesen konnte, war der arktische Winter eine entbehrungsreiche Zeit. 2 Monate, in der die jeweiligen Familien keinen Ernährer an ihrer Seite hätten. Aber die Zivilisation hatte sich auch hier bereits breit gemacht und für ein, zwei oder sogar drei Gewehre war man doch dazu bereit.


    Durch die Verschlimmerung von Johns Zustand, erübrigte sich die Weiterreise und die Heilmethoden der Tschuktschen in Gestalt einer sehr fähigen Schamanin rettete ein Leben, dass in der heimatlichen Gesellschaft bestenfalls mit Mitleid betrachtet worden wäre. Was kann ein Mann ohne Finger denn schon groß leisten. Dass John überlebte grenzt schon an ein Wunder, aber dann musste er auch weiterhin bei den Tschuktschen leben.


    Durch seinen Integrationsprozess lernt auch der Leser das einfache, aber auch beschwerliche Leben der Küstenbewohner an der Beringstraße kennen. Man wird Stück für Stück in die Kultur eingeführt, und bald schon ändert sich das Denken Johns über diese Menschen. Aber wer essen will, muss arbeiten. Die Handwerkskunst eines Bewohners gibt ihm einen Teil seiner "Fingerfertigkeit" zurück, so dass er sich die tägliche Nahrung beschaffen kann. Ihm wird so das Überleben und sein Stolz bewahrt. Er wird weder bemitleidet noch ausgegrenzt. Auch wenn es in dieser Gemeinschaft Stimmen gibt, die gegen ihn sprechen. In ihm den Unzivilisierten sehen, der unfähig wäre in ihrer Welt zu überleben. So haben sich im Laufe der Geschichte die Sichtweisen verschoben.


    Die Schilderung des Alltags und der Kultur der Tschuktschen fand ich unheimlich spannend. Und das machte den Reiz dieses Buches aus. Diese Andersartigkeit, auf die sich John da einlässt, die (veränderten) Sichtweisen einzelner Personen und auch schon der Anbruch einer neuen Zeit. Die Begriffe aus der tschuktschischen Sprache waren auf das Nötigste beschränkt und in der Reihenfolge ihres Auftauchens im Anhang erklärt, was die Suche danach sehr erleichterte.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus: