Eric-Emmanuel Schmitt - Adolf H. Zwei Leben

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    8. Oktober 1908: "Adolf Hitler durchgefallen." Ein einzelner Satz steht am Anfang der Katastrophe, die ein Jahrhundert erschüttert hat. Was aber, wenn die Aufnahmekommission der Wiener Kunstakademie damals anders entschieden hätte? Was, wenn der zwanzigjährige Aspirant, der sich prächtig aufs Kollorieren von Architekturpostkarten verstand, tatsächlich Maler geworden wäre? Könnte es sein, daß dieser junge Mann etwas mit uns zu tun hätte? Rückhaltlos und ohne Scheuklappen wirft Eric-Emmanuel Schmitt in seinem neuen, bislang umfangreichsten Roman die verstörende Frage nach den Bedingungen auf, die einen Menschen zu dem machen, was er ist. Parallel zu der Geschichte des Diktators Adolf Hitler erzählt der Erfolgsautor eine Lebensgeschichte im Konjunktiv, die Biographie des Kunstmalers Adolf H., in der ein Mensch sich unter der humanen Gewalt der Kunst zu einem uns Unbekannten entwickelt. Adolf H. Zwei Leben ist nicht nur eine tiefsinnige Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Politik, Genie und Wahnsinn, es lädt uns auch dazu ein, über das Ungeheuer nachzudenken, das in jedem von uns selbst wohnt.


    Die Idee der Story finde ich sehr gut - "was wäre wenn ...." ist ein guter Aufhänger, der neugierig macht und den eigenen Gedanken natürlich auch freien Lauf lässt. Und die These bezieht sich nicht nur auf die Person des Adolf Hitler, sondern auf das gesamte 20. Jahrhundert.


    Hitlers "wahre" Geschichte fand ich sehr beeindruckend, sehr gut erzählt. Hitler wird nicht NUR als grausam und böse beschrieben, Hitler "menschelt" in der einen oder anderen Form, und v.a. ist Hitler zutiefst einsam und voller Komplexe. Verharmlosend finde ich das nicht, diesen Teil (jedes 2. Kapitel) habe ich mit großem Interesse und großer Spannung gelesen.


    Anders erging es mir leider mit der Geschichte des Adolf H. Dieser ist "normal", ein bedeutender Künstler, ein Freund der Juden (er heiratet sogar eine Jüdin), hat 2 Kinder, muss Schicksalsschläge einstecken, doch geht seinen Weg.


    Ich zweifle zutiefst daran, dass sich die Geschichte auch nur annähernd so hätte zutragen können. Schmitt suggeriert mir indirekt, dass Hitler nur aufgrund der "widrigen Umstände (sprich: böser Vater, zu früh verstorbene Mutter, Misserfolg in der Kunstakademie, sexuelle Komplexe, usw) zu dem geworden ist, was er wurde. Dem muss ich doch zutiefst widersprechen, denn es bedeutet einen Freibrief für alle, die "Pech" im Leben hatten.


    Zudem fand ich die Story des Künstlers Adolf H. sehr langatmig, uninteressant, farblos. Etwas gekürzt, etwas prägnanter hätte dem Buch meiner Meinung nach gut getan. Alleine die wirklich gut geschriebenen und sehr gehaltvollen letzten Kapitel (rund um Heinrich, Israel etc.) werten diese Geschichte auf.


    Dass "in jedem von uns" ein kleiner Hitler steckt, diese These vermittelt Schmitt recht glaubwürdig, ebenso interessant fand ich die These vom altruistischen und vom egozentrischen Diktator.


    Sehr interessant zu lesen fand ich das angehängte "Arbeitstagebuch", in dem E.E.Schmitt seine Gedanken, Motivationen und auch seinen "persönlichen Leidensweg" während des Schreibens rund um das Buch niederschrieb.


    Meine Beurteilung schwankte während des Lesens zwischen 2 Sternen n (für den langweiligen/-atmigen Mittelteil in Sachen Adolf H.) und 4 Sternen für den absolut gelungenen Schluss.


    3ratten


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  • Hi creative,


    danke für deine Rezension. Ich hatte das Buch kürzlich auf meine Wunschliste gesetzt, weil mich das Thema sehr interessierte. Deine Eindrücke lassen es nun aber doch ein wenig weiter herunterrutschen auf der Liste. Meine Bedenken waren nämlich genau diejenigen, die du jetzt beschreibst: das bei der Dicke des Buchs einige Stellen doch sehr langatmig werden.


    Schade!


    Oder lohnt sich das Lesen allein wegen des Schlusses?


    Viele Grüße
    Muertia

    :lesen: Rebecca Gablé - Der dunkle Thron<br />SuB: 6 (+16 bereits bestellte Bücher, um den SuB mal ein wenig aufzuwerten)

  • Ich bereue die Lektüre keineswegs! E.-E. Schmitt KANN schreiben, das hat er ja auch bereits in vielen anderen Büchern bewiesen. Die Thematik ist sehr interessant, meine Kritik bezieht sich eigentlich eher auf jenen Teil, in dem das Leben des Adolf H. beschrieben wird. Hier hätte ich mehr etwas mehr erwartet. Ansonsten ist das Buch jedenfalls empfehlenswert!!

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Wieder mal ein äußerst gelungenes Werk von Eric-Emmanuel Schmitt. :tipp:


    Die Geschichte Hitlers zeigt viele neue Aspekte auf, die (zumindest mir) nicht so bekannt sind und man merkt (nicht nur durch sein Arbeitstagebuch am Ende), dass Schmitt sehr gut recherchiert hat. Und es ist ihm gelungen Hitler teilweise "zu verstehen" bzw. besser nachvollziehen zu können, wie aus einem Menschen ein solches Monster werden konnte. Schmitt zeigt dem Leser, auch wenn man es nicht gern hören will, dass in jedem von uns etwas böses steckt und schafft es so auch, dass man wider Willen beim Lesen, an Hitlers Leben Anteil nimmt.


    Zum anderen Teil: Adolf H.s Leben finde ich unglaublich schön beschrieben und ich habe mich immer auf jeden zweiten Teil gefreut, wenn wieder über Adolf H. berichtet wurde. Ich konnte mich sehr gut in den von Schicksalschlägen geplagten Künstler einfühlen und fand vorallem Elf-Uhr-dreißig sehr berührend. Muss da also vollkommen der ersten Rezension widersprechen: ich fand diesen Teil sogar viel besser als 'nur' das tatsächliche Leben Hitlers. Ob es sich tatsächlich so hätte zutragen können, ist natürlich fraglich, denn das wird man nie wissen. Aber warum denn eigentlich nicht? Wer weiß wie Hitler geworden wäre, wenn ihm ein Psychiater ihm frühzeitig geholfen hätte und er echt Freunde, wie sich Adolf H. hat, gehabt hätte? Who knows? Besonders interessant fand ich dabei übrigens wie sich die deutsche Geschichte ohne den Diktator Hitler weiterentwickelt. Es wird zwar immer nur angedeutet, doch das fand ich hochspannend.


    Sehr schön war auch, wie schon von creative genannt, das Arbeitstagebuch am Ende, das mich stark beeindruckt hat. Vor allem sein Wille trotz der Widerstände und Kritiken fortzufahren.


    5ratten

    If the world weren&#39;t such a beautiful place we might all turn into cynics<br />(Paul Auster)

  • Wenn auch spät, nun bin ich auch neugierig. An sich wollte ich nichts mehr von diesem Autor lesen, war übersättigt. Aber das ist ein sehr interessantes Thema, danke für die Anregung.
    Klara

  • Was meinst du mit übersättigt? Also ich lechze nach seinen Büchern, finde die echt klasse und hätte gern mehr. Allerdings habe ich bisher auch erst 4 von ihm gelesen.

    If the world weren&#39;t such a beautiful place we might all turn into cynics<br />(Paul Auster)

  • "Oscar und die Dame in Rosa" hat mich total begeistert, dann habe ich "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran" gelesen. Ein sehr schönes Buch mit großer Aussage, auch die Verfilmung mit Omar Sharif fand ich gelungen. "Das Kind von Noah" ging so und nach dem Lesen von "Die Schule der Egoisten" war ich übersättigt. Der Roman hat mich verwirrt, ich fand ihn streckenweise langweilig oder verkrampft. Ich habe auch nur 4 Bücher des Autors gelesen, alle sehr unterschiedlich von der Thematik. Nun habe ich eine lange Pause gemacht und werde mit dem hier beschriebenen Buch wieder anfangen.
    Klara

  • Also bei den ersten zwei stimme ich dir gern zu, allerdings fand ich auch "Das Kind von Noah" klasse. "Die Schule der Egoisten" kenne ich (bisher) noch nicht. Als Nächstes würde ich gerne "Das Evangelium nach Pilatus" lesen! Davon schon gehört?

    If the world weren&#39;t such a beautiful place we might all turn into cynics<br />(Paul Auster)

  • "Das Evangelium nach Pilatus" hat mir sehr, sehr gut gefallen! Nach "Oskar und die Dame in Rosa" meiner Meinung nach sein bestes Buch.
    "Monsieur Ibrahim..." hat mir auch sehr gut gefallen, überhaupt haben mir in diesen Büchern die philosophischen Ansätze sehr gut gefallen. Allerdings hat er das in "Die Schule der Egoisten" meiner Meinung nach "übertrieben". "Milarepa" hat mir persönlich dann den Rest gegeben, mit dem konnte ich gar nichts anfangen und brauchte dann mal eine Pause von Schmitt. :rollen:

    :blume:&nbsp; Herzliche Grüße!&nbsp; :blume: <br />creative

  • Na dann werde ich mir wohl demnächst mal das nächste Buch von ihm bestellen, wobei mein Bücherregal eigentlich noch einige Dutzend ungelesener Bücher bietet *lach* Man man man :zwinker:

    If the world weren&#39;t such a beautiful place we might all turn into cynics<br />(Paul Auster)

  • Von "Das Evangelium nach Pilatus" habe ich noch nichts gehört. Vielleicht bekomme ich mal wieder Lust auf mehr "EE-Schmitt". Aber erst mal versuche ich es mit den zwei Leben. Das hört sich interessant an und hat vielleicht nicht zuviel Philosophie. Ein bischen ist ja ganz schön, aber zuviel davon gepaart mit Glaubensfragen, mag ich nicht.
    Klara

  • Das klingt ja wirklich sehr interessant.


    Danke für die Vorstellung,


    liebe Grüße, Sue.

  • "Adolf Hitler: durchgefallen." Zum zweiten Mal ist Hitler am 8. Oktober 1908 durch die Aufnahmeprüfung der Kunstakademie gerasselt. Seine weitere Lebensgeschichte ist leider nur zu bekannt.


    Wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn er die Prüfung bestanden hätte? Dieser Frage versucht Schmitt hier nachzugehen und entwirft ein zweites, ganz anderes Leben, in dem Adolf H. zwar auch mit Startschwierigkeiten zu kämpfen hat, aber seinen Weg auf ganz andere Weise findet.


    Abwechselnd schildert Schmitt diese beiden Lebenswege, wobei auf den ersten 100 Seiten keiner der beiden Adolfs wirklich sympathisch wird und es für meinen Geschmack viel zu häufig um Sex und damit verbundene Neurosen ging. Doch dann zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Figuren: während der spätere Diktator immer verbohrter und verblendeter wird und schließlich seine eigenen Schwächen zu Stärken erhebt, bemerkt der andere rechtzeitig, wo seine großen Probleme liegen, ergreift Gegenmaßnahmen, versucht an sich zu arbeiten und wird dem Leser so endlich sympathisch.


    Hatte ich am Anfang noch große Zweifel, ob ich wirklich 500 Seiten lang über den echten und einen fiktiven Hitler lesen möchte, so hat es Schmitt in zunehmendem Maße geschafft, mich mit seinem Gedankenexperiment zu fesseln.


    Mindestens so spannend wie diese ungewöhnliche "Alternate History" ist der Anhang, in dem er über die Entstehung des Romans schreibt, über seine Beweggründe zum Buch, über seine Zweifel, ob man ein solches Buch überhaupt schreiben kann und darf und über seine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen