Wolf von Niebelschütz - Der blaue Kammerherr

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    Galanter Roman in vier Bänden


    Der Barock in all seiner Üppigkeit rinnt aus jeder der engbedruckten fast 800 Seiten dieses Meisterwerks. Vordergründig kämpft in diesem Roman die dekadente Adligkeit einer fiktiven Adria-Insel mitten im Zeitalter des Rokoko um ihr Überleben, hat sich mit Finanzhaien, Heiratsschwindlern, Revolutionen und Naturkatastrophen herumzuschlagen - es wäre allerdings allzu vermessen, dieses Buch auf seinen Inhalt zu reduzieren, auch wenn daran viel zu interpretieren, zu kritisieren und zu rechtfertigen wäre.


    Die fiktive Adriainsel Myrrha ist, vordergründig betrachtet, ein Naturparadies, das seinen Einwohnern im Prinzip alles bietet, was sie zum Leben brauchen. Ein gutmeinender, aber nicht besonders tatkräftiger Monarch regiert ein im Großen und Ganzen zufriedenes Volk, nach Kräften unterstützt von einem umso tatkräftigeren Berater, der auch gleichzeitig als Liebhaber der Königin fungiert. Die Beziehungen zu den Nachbarinseln ist freundschaftlich und zumeist von engen Verwandtschaftsverhältnissen diktiert.


    Die Tagespolitik fängt erst an, aus den gewohnten Bahnen zu laufen, als Kronprinzessin Danae mit 16 Jahren ins heiratsfähige Alter kommt. Dieser Teenager ist weit entfernt davon, sich ein standesgemäßes Auftreten anzueignen, reitet lieber nur mit einem Pantherfell bekleidet durch die Landschaft und lässt sich auch nicht einfach so verheiraten, schon gar nicht mit einem alternden Bräutigam, dessen Preis für das Brautbett in der Renovierung der Staatsfinanzen liegt.


    Das Mädchen verteidigt seine Freiheit mit allen Mitteln, und sie scheut auch nicht davor zurück, Zeus persönlich zurückzuweisen, der nach 2000 Jahren Schaffenspause dieser Danae die gleichen Avancen macht wie ihrer antiken Namensbase. Dessen Vergeltung ist allerdings um einiges wirksamer als die Drohungen benachbarter Potentaten; in einem Anfall von Rachsucht verwüstet er die Insel durch Vulkanausbrüche, Blitzschläge und Flutwellen. Danae jedoch nimmt es mit ihm auf, verweigert sich standhaft und zwingt ihn durch das Beharren auf Stil und Procedere zum Einlenken. Nichtsdestotrotz wird sie ihn nicht ganz los: Die gesamte restliche Handlung des Buches wird durch den geheimnisvollen “Blauen Kammerherr” begleitet und beeinflusst.


    Der nächste ernsthafte Bewerber um Danaes Hand ist der phrygische König Midas, der alle Macht seiner von Zeus verliehenen Fähigkeit zur Goldverwandlung ausspielt. Er saniert den Staatshaushalt und das königliche Schloss und erobert letztendlich sogar Danaes Herz. Schließlich und endlich bricht auch noch eine Revolution aus, aber auch diese kann gegen den Herrschaftsanspruch jener kunstvollen, das Leben als Frage des Stils und der Etikette begreifenden Monarchie nicht viel ausrichten.


    Ein Panoptikum unglaublich farbiger Gestalten aus Mythologie, Historie und Phantasie bevölkert diesen Roman. Dass sich dabei Phantastisches und Realistisches völlig selbstverständlich durchmischen, wird von Protagonisten und Autor billigend und als völlige Selbstverständlichkeit in Kauf genommen und muss auch vom Leser genauso akzeptiert werden. Die althergebrachte und unbestreitbar stilvolle Dekadenz des barocken höfischen Lebens erhebt das Leben zur Kunst, sie zelebriert sich nicht nur mit ungeheurem Aufwand selbst, sondern wird auch mit allen Mitteln gegen Revolutionen und sonstige Mitbestimmungswünsche des gemeinen Volkes verteidigt.


    Vor allem aber ist dieser Roman eine sprachliche und stilistische Preziose. Voller Manierismen und mehr als einmal hart am Kitsch vorbeischrammend entwirft Niebelschütz das Bild einer Epoche, die ganz im “mehr Schein als Sein” aufgeht. Der Stil im Repräsentieren, im Umgang der hohen Herrschaften untereinander und mit dem gemeinen Volk steht über allem, Wahrheiten haben sich dahinter zu verstecken oder werden je geschickter desto besser verbrämt. Wunderbar illustriert wird diese Attitüde zum Beispiel durch die Episode, in der Danae in einer Verkleidung als Magd mit dem macchiavellistischen Staatsminister Graf Godoitis zusammentrifft.


    Perfekt ins Bild passen auch die Protagonisten, allen voran Prinzessin Danae. Dieser Teenager, teils unzähmbarer, eigensinniger Wildfang, teils ganz Staatsfrau mit nichts im Sinn als dem Wohl von Reich und Volk, ist mir unglaublich ans Herz gewachsen. Aber auch die Heerscharen der sie begleitenden Charaktere, Bundesgenossen und Widersacher sind gleichzeitig prototypische Vertreter ihrer Rollen und ihres Standes und doch von Niebelschütz oft mit wenigen Sätzen als so ausgefeilte Persönlichkeiten skizziert, dass man immer wieder überrascht ist.


    So verwirrend überladen und symbolverhaftet Ambiente und Sitten, so kunstvoll verschnörkelt ist auch Niebelschütz’ Sprache. Grundkenntnisse in griechischer und römischer Mythologie sind nötig, um die mannigfaltigen Anspielungen auf antike Stoffe zu erkennen, solche des Französischen, Lateinischen und Italienischen sind von Vorteil, um alle Feinheiten genießen zu können. Dabei nimmt der Autor kein Blatt vor den Mund, geschweige denn dass er sich Zügel anlegen ließe; die Dialoge sind ausgefeilt bis ins Letzte, ganze Zwischenkapitel widmet er der Beschreibung der Landschaften, der Personen oder der politischen Verhältnisse. All das mag zwar in Verbindung mit der Vielzahl an Personen und vor allem zu Beginn des Romans für den unbedarften Leser zunächst ermüdend sein, wer sich auf dieses Leseabenteuer allerdings einlässt, findet letztendlich ein Gesamtkunstwerk, das seinesgleichen sucht.


    Viel kritisiert worden ist an der politischen Aussage dieses Romans. Geschrieben mitten im zweiten Weltkrieg, ist es erstmals 1949 erschienen, zu einer Zeit, als vor allem die “Gruppe 47″ mit ihrer Trümmerliteratur und dem Postulat eines neuen Realismus versuchte, nicht nur das Grauen des Krieges und des Holocaust künstlerisch fassbar zu machen und aufzuarbeiten, sondern auch mit früheren Literaturtraditionen zu brechen. Ein Werk wie “Der blaue Kammerherr”, das voller Pathos nicht nur vor Lebenslust strotzt, das die Kunst, die Schönheit und das Vergnügen verherrlicht, sondern auch - und dies vor allem im letzten Teil sehr offen und plakativ - den Absolutismus verteidigt gegen die Demokratie, gegen die Herrschaft der Massen, musste da wie ein Affront erscheinen und tut es teilweise heute noch. Es liegt mir fern, Niebelschütz’ diesbezügliche Attitüde (die aus seiner Biographie leicht erklärlich ist) zu entschuldigen oder zu verteidigen; allerdings denke ich, aus der Distanz der Spätgeborenen, dass sich niemand über dieses Werk aufgeregt hätte, wenn es einige Jahrzehnte früher oder später, in ideologisch weniger aufgeheizten Zeiten erschienen wäre.


    Außerdem ist es häufig nicht nur nicht nötig, um die Intentionen eines Autors zu wissen, um ein Werk zu beurteilen, es mag vielmehr sogar schädlich oder zumindest hinderlich sein. Oder, um Alban Nikolai Herbst zu zitieren:

    Zitat

    “Es gibt keinen Zusammenhang zwischen moralischen Qualitäten und der ästhetischen Potenz eines Menschen.” […]
    “Sie machen es sich leicht.”
    “Wer sich der Tatsache aussetzt, dass gute Künstler weder gute Menschen sein noch auch richtige Meinungen haben müssen, macht es sich wohl eher schwer. Da hat man Ambivalenzen auszuhalten. […]”


    Alban Nikolai Herbst: Der Blauen Blume lieblichster Spott (s. Links)


    Endgültig versöhnt sollte man allerdings sein, wenn man nach fast 800 Seiten bei den letzten Sätzen angekommen ist:

    Zitat

    Höre aber, oh Stier: wer für todwürdig erklärt, was ihm mißfällt; wer nicht bemerkt, was das Mißfällige aufhebt, und wie alles relativ ist; wer immer gleich Galle schnaubt, wo ein Kind nur sein Taschentuch zückt; und vollends, wer ein phantasmagorisches Zauberspiel ernst nimmt - der zahlt einen Taler.
    So widmet sich denn das kleine Werk
    Den Humorlosen beider Hemisphären


    Links:


    [li]Der Blauen Blume lieblichster Spott. Ein Hörstück über Wolf von Niebelschütz von Alban Nikolai Herbst (PDF, 200 KB)[/li]
    [li]Frühe postmoderne Fantasien im Werk von Wolf von Niebelschütz von Alban Nikolai Herbst (PDF, 208 KB)[/li]
    [li]Die Zeit: Der Olymp tanzt[/li]
    [li]Kurzportrait bei Bonaventura[/li]
    [li]Kurzbiographie von Wolf von Niebelschütz[/li]


    Und zum Schluss noch das Fazit: Für dieses Buch gibt es uneingeschränkt 5ratten



    EDIT
    Huhu, ich habe den Betreff angepasst. LG Seychella

    Viele Grüße aus dem Zwielicht<br />[size=9px]Rihla.info | blooks - Rezensionen und mehr<br />[b][url=http://www.librarythi

    Einmal editiert, zuletzt von Seychella ()

  • Danke für diese tolle Rezi, Twilight. Ich meine mich zu erinnern, daß ich die ersten paar Seiten auch gelesen hatte, als ich mir das Buch vor Jahren kaufte. Weitergelesen hatte ich es nicht, weil ich schon den Eindruck hatte, dafür etwas mehr Muße zu brauchen (die ich damals nicht hatte), und darin hast Du mich nun bestätigt. Was Du über die Querverbindungen zur Mythologie schreibst und die sprachlichen Aspekte schreibst, macht mich allerdings eher noch neugieriger darauf. Ich muß es definitiv höher im Lesestapel einsortieren, es scheint entschieden zu Unrecht auf dem SuB statt dem SwB zu liegen :smile:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Oh ja, das tut es! Und wenn Du schon dabei bist, schieb Die Kinder der Finsternis gleich hinterher! Es ist ein Jammer, dass der Mann nicht mehr geschrieben hat...


    :winken:


    Würde sich machen lassen, da es gleichfalls subt. Jetzt bleibt nur die Frage nach dem geeigneten Zeitfenster *seufz*