Jewgenij Samjatin ~ WIR
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Seiten: 224
Format: Taschenbuch
Sprache: deutsch
Erscheinungsjahr: 1925 (England), 1920 fertiggestellt
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
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"Wir" spielt im "Einzigen Staat", welcher sich nach einem 200-jährigen Krieg und einer "letzten" Revolution herausbildete. Oberhaupt dieses Staates ist der "Wohltäter", der seinen Menschen - diese tragen keine Namen mehr, sondern Nummern - eine bedingungslose "Fürsorge" angedeihen lässt. Und wer sich wehrt, wird hingerichtet.
Der Staat, das ist eine Stadt, umgeben von einer "Grünen Mauer", hinter der die letzten "Wilden" leben. Die Straßen sind schnurgerade, die Wohnblocks kubisch und gläsern, denn im "Einzigen Staat" haben die Menschen nichts voreinander zu verbergen. Die "Gesetzestafel" bestimmt das Leben der Nummern im Staat bis ins kleinste Detail: Millionen Nummern stehen zur gleichen Minute, besser: zur gleichen Sekunde auf, nehmen zur gleichen Sekunde die künstliche Naphtha-Nahrung zu sich, zur gleichen Sekunde nehmen sie ihre Arbeit auf, zur gleichen Sekunde legen sie sie nieder, zur gleichen Sekunde gehen sie spazieren, zur gleichen Sekunde - punkt 22.30 Uhr - legen sich alle schlafen. Bei Nacht wach zu sein ist ein Verbrechen, denn die Nacht ist dazu da, ausgeschlafen für einen Tag voller systematischer Arbeit zu sein. Sogar das Liebesleben ist mathematisch geregelt: anhand von Hormonanalysen wird der "Bedarf" einer jeden Nummer berechnet, nach diesem Bedarf werden "rosa Billets" für sexuelle Momente ausgeteilt.
Auf diese Weise hat die Menschheit es geschafft, die Wurzel allen Übels - Hunger und Liebe - zu beseitigen. Doch um diesen Zustand des Glücks zu erreichen, mussten die Menschen ihre Freiheit opfern.
"Glück ohne Freiheit oder Freiheit ohne Glück - eine andere Möglichkeit gibt es nicht."
Geschrieben ist der Roman in Form eines Tagebuchs von D-503, dem ersten Konstrukteur der Rakete INTEGRAL. Er soll die Revolution in andere Welten tragen und dafür Traktate und Manifeste verfassen. Das ist auch der Grund, warum er ein Tagebuch beginnt. D-503 ist 32 Jahre alt, hat stark behaarte Hände, die ihn abstoßen, und ist durch und durch Wissenschaftler und Mathematiker. Doch dann lernt er I-330 kennen. Sie zeigt ihm, dass der "Einzige Staat" die endgültige Formel für das kollektive Glück noch nicht gefunden hat und dass es Menschen gibt, die gegen den Staat aufbegehren und ihn stürzen wollen. Fasziniert von der Andersartigkeit von I-330, entwickelt sich D-503 zu einem, der sich immer mehr vom Kollektiv abkapselt, er beginnt zu träumen und fühlt sich nicht mehr wie vorher. Der Arzt diagnostiziert:
"Es steht schlecht um Sie! Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet."
Aus Liebe zu I will D sein eigenes Projekt, nämlich die INTEGRAL in den Weltraum zu senden, sabotieren. Doch wird es gelingen? Werden die Menschen aufbegehren und den Staat vernichten?
Samjatins "Wir" diente sozusagen als Vorlage für folgende Dystopien à la "Brave New World" (Aldus Huxley) und "1984" (George Orwell). Wenn man letztere gelesen hat, so betrachtet man sie nach der Lektüre von "Wir" mit anderen Augen. Die Parallelen zwischen den Romanen sind nicht von der Hand zu weisen: bei Samjatin herrscht der Wohltäter über den Einzigen Staat, bei Huxley der Weltaufsichtsrat, bei Orwell der Große Bruder. Die primitiven, behaarten Menschen hinter der "Grünen Mauer" Samjatins kehren bei Huxley als die Eingeborenen der Reservationen, bei Orwell als "Proles" wieder. In "Wir" gerät der Protagonist durch eine andersdenkende Frau aus dem Gleichgewicht. Diese Idee nahm Orwell in "1984" auf.
Dennoch unterscheiden sich die drei Werke in einem maßgeblichen Punkt: Die Darstellung der Welt in "Wir" ist deutlich prophetischer, denn zur Zeit, als Samjatin sein Werk schrieb, existierte der Totalitarismus gerade mal in seinen Grundzügen. Im Gegensatz zu "1984" bezieht sich Samjatin nicht ausschließlich auf den Stalinismus bzw. Kommunismus, sondern er lässt mehrere Möglichkeiten offen: Assoziationen zum Nationalsozialismus (Gaskammern, Massenvernichtungswaffen, operative Eingriffe wie die Entfernung der Phantasie im Hirn etc.) sind ebenso gegeben wie Andeutungen zum Bolschewismus. Huxley und Orwell konnten ihre Zukunftsvisionen, nachdem sich in Europa totalitäre Systeme wie Nationalsozialismus und Kommunismus entwickelten, deutlich detaillierter ausmalen und Bezug nehmen auf bereits existierende Maßnahmen zur "Normung" der Menschen. Aber genau das ist das geniale an "Wir", das weite Vorausschauen in die totalitären Zustände der Zukunft (man denke an die "Grüne Mauer", Sinnbild für den Eisernen Vorhang, sowie an die Geheimpolizei). Daneben wirkt "1984" nur wie ein Plagiat.
Trotz oder gerade wegen der recht drögen und steifen Sprache vermochte das Buch mich in eine gespannte und merkwürdige Atmosphäre zu versetzen. Düster fand ich es nicht, im Gegensatz zu "1984", welches mich sprichwörtlich fertig gemacht hat. "Wir" ist eine bereichernde Lektüre über die Gesellschaft und den Menschen.