"Revolutionen"
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"Revolutionen" gilt als Le Clézios persönlichstes Werk. Seine Eltern haben in Mauritius ihre Vorfahren, wie auch die Vorfahren von Jean Marro, der Protagonist des Romans ebenfalles von dorther kommt. Jean Marro ist wie der Autor selbst 1940 geboren. Le Clézio sympathisiert in seinen Romanen mit Völkern, die außerhalb unserer modernen Zivilisation leben. So verbrachte er in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Zeit bei Indianern in Panama, was ihn sehr geprägt hat. Er fordert das gleichberechtigte Leben der Völker untereinander und übt Zivilisationskritik Kritik am Materialismus unserer Zeit u.a. Seine Romane spielen an Orten, die für uns Exotik ausstrahlen: Mexico, Afrika, Südöstasien (Mauritius), aber natürlich auch Frankreich, Paris.
In dem Roman „Revolutionen“ allerdings, wird die Famillie Marro aus dem exotischen Paradies, hier Mauritius, vertrieben. Im Jahre 1910 müssen sie von dort wieder auswandern und lassen sich in einer Stadt an Frankreichs Mittelmeerküste (vermutl. Marseille, Le Clézio stammt aus Nizza) nieder. Dort wächst Jean Marro heran. Als Kind und als junger Mann lässt er sich von seiner erblindeten Tante Catherine erzählen, wie schön das Leben auf Mauritius war. Catherine ist die einzig lebende Zeugin, die hierüber zu erzählen bereit ist. So schwärmt sie in Gegenwart Jean Marros von ihrer Jugendzeit im Paradies:
Zitat von "Le Clézio"Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön s war, wenn Regen und Sturm aufhörten. Alles glänzte, als wäre jedes Blatt mit Lack überzogen. Samstag kamen die Jungen aus dem Internat zurück, und wie gingen alle an den Affouche, um dort zu baden. Wir gingen ein Stück flussaufwärts, um sauberes Waser zu haben, denn in der Nähe der Straße waren immer Frauen, die ihre Wäsche wuschen, die ihre Wäschew wuschen, und Maultire, die dort tranken. Wir gingen ziemlich weit die Schlucht hinauf, bis an der Stelle, wo der Wald anfängt. Es war wie im Paradies.
Jean träumt davon, nach Malaysia zu fahren, diese herrliche Gegend, den großen Garten von Ébéne zu sehen, von dem die Tante erzählt. Jean fühlt sich einsam und leer in der unruhigen Stadt. Le Clézio lässt sein alter ego ziemlich bindungslos durch seine Stadt, bzw. durch die Welt streifen. Er hat unverbindliche Beziehungen zu diversen Frauen und verlässt Frankreich, um nicht als Soldat in Algerien kämpfen zu müssen. Er ist ein passiver Wiederständler, kein Aktivist. Von der schrecklichen Gewalt des Algerischen Krieges hört er, nie ist er direkt beteiligt. Von den Umbrüchen („Revolutionen“) in der Welt erfährt Jean nur als Außenstehender.
Zitat von "Le Clézio"Der Krieg schleicht herum. Er ist da, liegt überall auf der Lauer, und manchmal sieht man seine Wolfsaugen glitzern. Als der Sommer naht, spürt Jean eine unbestimmbare Beklemmung, die alles in einen Nebel der Wesenlosigkeit hüllt. Zugleich sieht er, wie Dämonen und bedrohungen aus ihren Schlupfwinkeln hervorkommen.
Sein Urahn, Jean Eudes, zieht 1792 noch mit viel Idealismus in den Krieg, wird aber aufgrund seiner Kriegserfahrung eines besseren belehrt und verlässt wie später Jean Marro Frankreich. Hautnah erzählt Le Clézio vom Krieg aus der Sicht des Soldaten Jean Eudes. „Irgendetwas schnürt mir das Herz zusammen“, denkt der tapfere Soldat einmal.
Von einer paradiesischen Exotik kann man in diesem Roman nicht sprechen. Sein Vorfahre, Jean Eudes Marro, der 1798 nach Mauritius auswandert (franz. Kolonie), gründet dort zwar in einer paradiesischen Landschaft den Wohnsitz der Marros, doch seit die Briten 1810 die Herrschaft übernehmen, überschlagen sich Brutälitäten die Sklaven:
Zitat von "Le Clézio"Im Morgengrauen ging der Marabu in seinem langen weißen Gewand zwischen den Schlafenden umher und schlug sie mit seinem langen Rohrstock. Alle, die nicht aufstanden, wurden losgebunden und zum Fraß für die wilden Tiere zurückgelassen. Wir sind so lange gelaufen, dass ich nicht mehr wusste, was es hieß, sich nicht mehr zu rühren.
Der Roman erhebt seine Stimme gegen die brutalen Auswüchse von Kolonialherrschaften und der Gewalt des Krieges:
Zitat von "Le Clézio"Damals in Rozilis begann der Arbeitstag sehr früh, bei Morgengrauen, vermutlich gegen fünf, aber wir wussten es nicht so genau, weil wir keine Uhr hatten. Es wurde kein Signal gegeben, keine Glocke geläutet, um die Landarbeiter aus dem Schlaf zu holen, Großvater Charles hasste das. Er hasste alles, was an die Zeit der Sklaverei erinnerte, die Trillerpfeiden, die Sirdas, die Vorarbeiter, den Apell, den mit Namen und Foto versehenden Personalausweis, den jeder indische Arbeiter haben musste, das alles hatten die Englänger eingeführt.
Über Jean Marro wird verständlicherweise sehr distanziert erzählt, denn er hat mit der westlichen Zivilisation abgeschlossen und fühlt sich verloren in der Welt. Das Kriegsgrauen, wie es an ihm herangetragen wird, ist unerträglich. Er befindet sich auf der Suche nach seiner Heimat. Die zweite Ebene des Romans wird aus der Ich-Perspektive von Jean Eudes erzählt, er lebt das Grauen direkt und entzieht sich schließlich diesem. Die dritte Ebene des Romans wird von den Ureinwohnern selbst vorgetragen. Der Sklavenaufstand aus ihrer Sicht.
Jean-Marie Gustave Le Clézio ist für mich literarisches Neuland. Der Autor kann erzählen, sei es vom Paradies oder vom Grauen der Gewalt. Für mich eröffnet sich literarisch gesehen eine neue Welt. Während der Beschäftigung mit diesem Roman stieß ich auf Uwe Timm. Er schrieb „Morenga“. Der Roman erzählt vom Kolonialkrieg in Südwestafrika, den das Deutsche Kaisserreich anführte. So kommt man von einem Buch ins andere.
Liebe Grüße
mombour