Thomas Pynchon - Gegen den Tag

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  • Thomas und @ alle


    Ich weiß nicht ob ich dich jetzt richtig verstehe. Passt dazu mein Gedanke, dass Pynchon davon ausgeht, dass die Welt noch längst nicht vollständig entdeckt
    ist. Die Welt wartet darauf, dass sie entdeckt wird. Ich verweise da auch noch einmal auf S. 374. Da bin ich ja hängen geblieben am "Anamorphoskop".


    Sind auch die Parallelwelten nicht wirklich Parallelwelten, sondern die Geheimnisse dieser einen Welt vom Menschen einfach noch nicht begreifbar geworden.
    Es geht letztendlich erst um denn Beginn der Kolonisation.


    Ich hänge auch an S. 898


    Ich will euch nicht vorweggreifen, aber da ist für mich auch wieder ein theologischer Diskurs eröffnet: Wo liegt das "Rückgrat der Wirklichkeit"?
    Wir sind als Menschen weltimmanent und nur Gotte hat den Blick von außen. Um als Mensch die Realität sehen zu können muss man sich erst aus der Pseudorealen Welt hinausbegeben um dann wirklich in die reale Welt zu kommen.

  • :winken:


    Ich hinke auch ganz schön hinterher. Ich habe gerade mit dem 2. Teil begonnen und kann nun, nachdem ich anfangs über das realtiv leichte Englisch überrascht war, doch feststellen, dass mir einiges sprachbedingt entgeht. Ich verstehe die (meisten) Worte, aber ihr "Wert" entgeht mir.


    Diese Stelle habe ich schon wahr genommen und nicht überlesen, enthält für mich aber keine Antwort. Wenn ich es jetzt noch mal lese: Nach Land (Erorberer) und Waren (Jetzt-Zeit) kommt als nächstes der Kampf um elektromagnetische Information. Das ganze als Symbol, dass der Mensch nie aufhören kann, Eroberer zu sein.


    Oder dass der Mensch nie aufhören kann, mit anderen Menschen zu konkurrieren, worum, das ist eigentlich egal. Da eignet sich jemand etwas an (oder könnte sich vielleicht etwas aneignen), das ich nicht habe, also sehe ich zu, dass ich auch etwas vom Kuchen abbekomme. Ob ich es brauchen kann oder nicht, ist erst mal zweitrangig.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • So. Zwei lesefreie Pynchon-Tage haben mir ausgesprochen gut getan. Heute bin ich bis auf Seite 300 gekommen.


    Und in meinem Kopf tun sich ganz neue Gedanken auf.


    Pynchon wählt einen Schreibstil, den ich so noch nie gelesen habe. Wenn ich mich sonst im täglichen Leben beobachte, dann geht man sehr schnell mit seinen "Schubladen" an die Beurteilung von Personen und Geschehnissen heran. Bei Pynchon ist das einfach nicht möglich. Dazu muss er erst einmal den Boden entziehen. Das ist ihm gelungen. Auf dieser Grundlage baut er eine Welt auf, die man nicht mehr vollständig verstehen kann. Lassen wir zur Zeit noch dahingestellt, warum er dies so tut. Die nächsten 1300 Seiten werden diese Frage beantworten, da bin ich sicher. Sprachlich ist Pynchon ein großer Meister, so langsam klingt seine Prosa in mir, man darf aber durchaus kritisch fragen, ob das ganze nicht nur Selbstzweck ist. Bei Tellkamps "Der Turm" fragt man sich das in ähnlicher Weise. Hier bei Pynchon wirkt die Sprache aber für die Welt, die er beschreibt durchaus angemessen. Pynchon bewegt sich aber auf einem dünnen Grat, das kann schnell umkippen. Doch: Er verbindet dann ganz nebenbei seine Welt mit der unserigen. Zwei Sätze, die einen erschaudern lassen.


    Seite 283f: "Sechstausend Menschen [tot]", sagte Lew, "und das ist erst der Anfang." "Passiert in Indien ständig", sagte Nigel, "so geht es nun mal zu auf der Welt."


    Das ist für mich große Literatur, die man natürlich nur im Zusammenhang mit den übrigen 283 Seiten davor sehen muss. Aber diese Sätze wirken stark (ähnlich wie die Schlachthofszene (vorne schon zitiert)), vor allem wenn die Zahlen ganz anderer Katastrophen der Jetzt-Zeit oder auch die 40.000 täglich an Hunger sterbenden Kinder sieht, aber wer denkt wirklich noch darüber nach? Pynchon will aber nicht den Zeigefinger heben, er hat keine Zeigefinger-Botschaft und das zeichnet m.E. moderne große Literatur aus. Das alles ist jetzt meine private Interpretation und da zeigt sich die nächste Stärke dieses Buches: man kann es sicher auch ganz anders lesen.


    Pynchon ist m.E. auch ein ziemlich eitler Autor, der für die Ewigkeit schreiben will. Auch hier wieder ein dünner Grat. Schreibt man einen Roman wie Tellkamp, dann kann es passieren, wenn man jetzt mal annimmt, dass die literarische Qualität gleich ist (was ich nicht weiß), dass sich literarische Qualität hin oder her, in einigen Jahren niemand mehr für das Thema DDR und deren Bewohner interessiert. Pynchon kann das nicht passieren. Man wird diesen Roman in 100 Jahren anders lesen können oder ihn - und da wären wir wieder beim Selbstzweck - als intellektuelles Geschwafel abtun. Aber dieses Risiko musste er einfach eingehen - genauso wie Proust ein ungeheures Risiko eingegangen ist und plötzlich 4500 Seiten ohne große Handlung produziert hat. Pynchon hat zwar noch 1300 Seiten vor sich, aber heute weiß ich schon, dass er nicht imitiert, er schreibt authentisch. Natürlich erinnert so manches an Verne, doch es ist nicht nur ein Spiel mit den Genres (das wäre doch auch ziemlich langweilig, das haben andere auch schon gemacht), aber es ist nicht Verne. Es ist etwas eigenes im Text, lässt sich noch schwer beschreiben.


    Der Romantext "klingt", auch wenn ich mich manchmal frage, was ich da gerade wieder gelesen habe. Aber irgendwie störte es mich heute überhaupt nicht und so gehe ich wohlgelaunt ins Bett, lege das Buch ein paar Tage zur Seite, feiere zunächst mal ganz intensiv Weihnachten (auch die Figuren in Pynchons Roman geben sich ihren Aufgaben vollkommen hin) und dann noch eine weitere Familienfeier und dann geht es mit dem Buch weiter.


    Fröhliche Weihnachten,
    Thomas

  • @ Thomas


    Oh, bitte nach Weihnachten: kannst du mir sagen was bei dir den Eindruck hinterlassen hat, dass "der Turm" auch aus ähnlichen Beweggründen wie Pynchon geschrieben wurde. Ich fand den Turm so genial und für die Leser geschrieben, war so mithineingenommen in die ganze Atmosphäre.
    Aber vielleicht hast du schon Rezi geschrieben über den "Turm". Ich muss mal nachsehen.


    Dass Pynchons Roman auch in Jahrzehnten interessant bleibt, das glaube ich auch. Ich glaube allerdings auch, dass "der Turm" in Jahrzehnten gelesen wird wie die Buddenbrocks.



    @ all
    Ich wünsche allen hier ein schönes Weihnachtsfest. Ich bin jetzt im Bereich von 1000 Seiten, aber ich werde da auch erstmal das Lesen einschränken über Weihnachten, zumal eine andere Rezi noch geschrieben werden muss.


    Liebe Grüße,
    danke an alle für den Austausch ohne den ich Pynchon nicht weiter gelesen hätte,
    Judith :winken:

  • Hallo.


    ich habe ziemlich großen Respekt, was Judith betrifft. Jetzt schon bei Seite 1000 - Puuh!


    Meine Person hat es mittlerweile bis auf Seite 590 geschafft, hoffe aber bis zum Ende der Woche Dich einzuholen!


    All die theologischen Diskurse, die Du angestoßen hast : Interessant!
    Aber ich bin leider noch nicht so weit, und bis erstmal den Text mit entsprechender Muße lesen.


    Ich empfand es so, daß der Roman, in - um das Bild ds Luftschifs aufzugreifen - unglaubliche Höhen seit ca. Seite 450 aufgestiegen ist. Die Bschreibung New City ´s - also die Umgebung in die Dally sich einleben mußte fand ich wirklich toll. Für mich hat sich da so eine, tja - Zauberwelt - kann man das sagen ? - aufgetan. Oder zumindestens ist New York am Wendepunkt vom 19. zum 20. Jahrhundert vor einigen Augen auferstanden.


    Mir scheint - ich schreibe ziemlich voller Superlative - ist das der Pychon-Einfluß ?


    Weiterhin der Aufenthalt von Kit in Yale : Er ist sehr gelungen. An einer Stelle zeigt sich dann auch, daß Scarsdale verrückt zu werden scheint.


    Seite 500 :


    Zitat

    ... Waswir tun müssen, ist, sie endlich in großer Zahl umbringen, denn alles andere hat nicht funktioniert. Diese ganze Verstellung - "Gleichheit", "Verhandlungen" - war nicts als eine grausame Farce, grausam für beide Seiten. Sie wissen ja, was der Herr verlangt, wenn Sein Volk in Gefahr ist. ....
    "Aufs Haupt schlagen."
    "Beizeiten und oft aufs Haupt schlagen."


    Er meint natürlich die Arbeiter. Glaubt er etwa er wäre eine höhere Instanz ?


    Eine andere Stelle auf Seite 590, setzt sich Gerechtigkeit und der Ressource "Wasser " auseinander :


    Zitat

    ... Die Absicht war, dass es überall und jedermann frei zugänglich Wasser geben sollte. Wasser war Leben. Dann sind einige gierig geworden.


    Ist diese Geschichte (wer soweit gekommen ist, kann ja mal seine Meinung kundtun) ein Symbol für das Notwendige Zurechtstutzen des Kapitalismus in der Form eines Scardale Vibe ?


    So, ich werde heute abend nochmal online gehen - ansonsten, wenn man sich nicht mehr "liest", wünsche ich allen ein frohes Weihnachtsfest !


    Gruß
    Tirant

  • Hallo,


    ich vermute, das hier wird sowieso erst nach Weihnachten gelesen. Auf Seite 608 bin ich jedoch auf etwas gestoßen, was ich auf Anhieb nicht bis aufs Detail verstanden habe. Deshalb habe ich geforscht.


    Es heißt dort :

    Zitat

    Außerdem - und vielleicht passenderweise - würden die Freunde hier die fatale Entdeckung machen, die sie mit der Unerbittlichkeit des zodiakalen Umlaufs zu ihrem Imum Coeli bringen sollte ...


    Meine Deutung ist die, das "zodiakal" in etwa "Umlaufbahn der Tierkreiszeichen" bedeutet. Der Begriff "Imum Coeli" führt ins in die Astrologie (d.h. Horoskope). Hier ist ein Ausschnitt einer Definition :


    Zitat

    Das Imum Coeli, der Nadir, der "Nachtpunkt", die Himmelstiefe, ist der tiefste, verborgenste, dunkelste und geheimnisvollste Punkt im Horoskop. Astronomisch gesehen liegt er für uns unsichtbar auf der anderen Seite der Erde. Psychologisch gesehen kann er als das Unbewusste bezeichnet werden, das, was nicht im Licht unseres Bewusstseins liegt.


    Also, ich kann mich nur vor diesem immensen Wissen, auf völlig unterschiedlichen Gebieten, verbeugen, das Pynchon wiedermal beweist !
    Ich meine er hat ja schon mal einen Begriff über japanische Kriegskunst (ein japan. Schwert) verwendet. Jetzt kommt er mit Astrologie - teilweise kennt mal das ja auch aus Mason & Dixon (wer es gelesen hat) - da kommt wie auch hier irgendwo die Bogenminute vor.


    Ich habe übrigens den Eindruck, das der Expeditionsbericht ab Seite 200 bis ca. Seite 230, in der Vergangenheit stattfand. Ab Seite 601 wird eine identische Szenerie beschrieben wie am Ende dieses Berichts. Was meint Ihr ?


    Bis nach den Feiertagen, ein schönes Fest nochmal


    Tirant


  • Judith :


    Ich habe über deine Bemerkung über Parallelwelten nachgedacht. Auf Seite 376 findet sich, glaube ich, eine Stelle, die darauf hindeutet, dass Pynchon das ganze mehr als ein Playdoyer (?) für die Fantasie, und damit verbundene Parallelwelten sieht :


    Zitat

    "Wenn man also den Gedanken akzeptiert, dass Landkarten als Träume beginnen, ein endliches Leben in der Welt durchlaufen und dann wieder als Träume weitergehen, können wir sagen, dass diese Paramorphoskope aus Islandspat, .... die Architektur des Traums offenbaren, alles dessen, was sich dem Netzwerk gewöhnlicher Länge und Breite entzieht ..."


    Und nun das "Rückgrat der Wirklichkeit".
    Hier bin ich doch etwas ratlos.


    Ich habe in den verschiendensten Rezensionen geforscht, wie ich zugeben will. Dort habe ich auch eine interessante Analyse von dem gefunden, was auf Seite 898 thematisiert wird. Dies scheint mir der Sinn der "Eigenwerte" sowie des "Rückgrats" zu sein :


    Die Eigenwerte des Hermite´schen Operators sind die Charakter-Eigenschaften der Protagonisten des Romans. Und die Welt wird zusammengehalten (ihr Rückgrat) durch die Gerechtigkeit. An der Frage der Gerechtigkeit entscheidet sich, ob die Menschheit sich selbst vernichtet z.B. durch Atomkriege, o.ä
    Und genau dies - die Gerechtigkeit - ist stark durch den Raubtierkapitalismus eines Scardale Vibe - gefährdet. Da besteht ja durchaus eine Analogie zur heutigen Situation (z.B. Industrieländer vs. Dritte Welt, oder Gehaltsgefälle zwischen Managern und normalen Angestellten/Arbeitern). Ist natürlich nicht dermaßen aus den Fugen geraten, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wenn also die Eigenwerte der Protagonisten der Welt (Unternehmen, Politik u.a.) dazuführen, dass die Frage der Gerechtigkeit aus dem Blick gerät, kann eine ähnlich dramatische Situation (wenn auch abgeschwächt) wie hier geschildert, eintreten.


    Was meinen die anderen ?


    Grüsse
    Tirant :smile:

  • Hallo TirantLoBlanc,


    du hast ganz viel Interessantes geschrieben. Mein Problem: mich hat die Grippe erwischt mit üblem Kopfweh, ich brauche bis nach Silvester um mich zu restaurieren, dann antworte ich auch und denke inzwischen auch darüber nach, was du schreibst. Tut mir leid, dass ich den Kopf dicht habe, bei Seite 1140 habe ich derzeit weggelegt,
    herzliche Grüße,
    bis bald,
    Judith :winken:

  • Gute Besserung. Ich nehme die Lektüre im neuen Jahr wieder auf. Heute ist es schon reichlich spät und morgen wird ein wenig gefeiert.


    Gruß, Thomas

  • Auf Seite 340 werden die beiden Professoren Renfrew aus Cambridge und Werfner aus Göttingen eingeführt. Wie man leicht bemerkt, ist der Name des einen das Spiegelbild des anderen, so dass hier wohl eine Person auf zwei Gestalten aufgeteilt wird. Noch so ein Kunstgriff, zu dem Pynchon greift.


    Gruß, Thomas

  • Niemand mehr am Lesen dieses Werks?


    Ich bin auf Seite 650 vorgestoßen.


    Mein Leseplan sieht nun wie folgt aus:
    Seite 800 bis 11.01.
    Seite 1000 bis 18.01.
    Seite 1300 bis 25.01.
    Seite 1600 bis 01.02.


    Inhaltlich ist mir aufgefallen, dass ausgesprochen oft die Farbe "weiß" verwendet wird. Doderer macht dies übrigens auch in seiner Strudlhofstiege. Ist nur mir dies aufgefallen oder täuscht mich meine Wahrnehmung?


    Schöne Grüße,
    Thomas

  • Thomas :


    ich bin jedenfalls noch am Lesen.
    Mittlerweile ist es Seite 1556.


    In dieser Woche habe ich leider fast nichts mehr geschafft - wie das so ist, wenn man sich ausgesucht hat im Rechungswesen zu arbeiten.


    Die Farbe weiß ?


    Nun, irgendwie schon. Aber mir ist es eher in Erinnerung als gleißendes Licht, das Weiß des Islandspat. Ok, das ist kein richtiges weiß, sondern eher irgendwas glitzerndes.
    Weißt Du denn noch die ein oder andere Stelle ?


    Ich schätze, ich werde versuchen am Wochenende ein paar Stellen, die mich sehr beeindruckt haben, in die Diskussion bringen.
    Allerdings habe ich bisher auch noch keine Reaktionen auf meine Beiträge zwischen Weihnachten und Neujahr bekommen. Daher fand ich das unpassend die Leserunde mit meinen Beiträgen vollzustopfen.


    Du hörst mehr am Wochenende von mir.


    Grüsse
    Björn

  • Die Farbe weiß ?


    Nun, irgendwie schon. Aber mir ist es eher in Erinnerung als gleißendes Licht, das Weiß des Islandspat. Ok, das ist kein richtiges weiß, sondern eher irgendwas glitzerndes.
    Weißt Du denn noch die ein oder andere Stelle ?


    Es gibt zig Stellen, in der weiße Gegenstände erwähnt werden. Im Detail müsste ich das heraussuchen. Aber schon in der Anfangsszene wird Chicago als "weiße Stadt" eingeführt. Man bräuchte jetzt natürlich ein elektronische Textauswertung, ob das wirklich ausgesprochen oft vorkommt oder nicht.


    Du bist ja nun am Ende, ganz so schnell kann ich nicht lesen, daher kann ich auch noch nicht geeignet auf deine Beiträge eingehen.


    Gruß, Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()

  • Ich habe inzwischen mal ein paar Namen und Begriffe bei wikipedia ergooglet. Schon unglaublich, was Pynchon alles einbaut. Quaternionen beispielsweise, ich hielt das zunächst für nicht real, da ich mich durchaus oberflächlich in der Mathematik auskenne, doch ich wurde eines besseren belehrt. Jetzt frage ich mich natürlich, was ich alles (als fiktiv) überlesen habe.


    Pynchon ist ein Romanschreiber, der den Kopf bedienen will, nicht die Gefühlswelt im Sinne von Spannung oder Emotion. Dieses Aufdecken von eigenem Wissen kann natürlich Spaß bringen, den meisten dürften die hier dargestellten wissenschaftlichen Welten (so auch weitgehend mir) fremd sein. Zudem deutet er die Themen ja nur an und ist dann sofort wieder in der Handlung. Daher kann man es leicht überspringen, was den Lesefluss aber erleichtert, der Kenner freut sich dennoch, wenn beispielsweise das Vierfarbenproblem erwähnt wird. Man soll möglicherweise dann durchaus zu wikipedia eilen, nachschlagen und dann zurück in den Roman tauchen, ich glaube, dass durch diese Art des Lesens eine ganz neue Art von Leselust entsteht. Der Romantext verbindet sich mit der Welt und dann taucht man wieder in ganz andere Welten ab. So wie der Leser dies durch den Wikipedia-Link hinbekommt, so werden ja auch die verschiedenen Welten des Romans untereinander verbunden.


    Vielleicht ist es gar eines der Geheimnisse dieses Romans: Der Roman schafft eine Verbindung in unsere echte Welt. Und wenn er das schafft, dann schafft er automatisch auch eine Verbindung zu den fiktiven Welten innerhalb des Romans. Alle Welten sind miteinander verbunden.


    Gruß,
    Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()

  • "Malteserkreuz-Gesperre" - ich kannte diesen Begriff bisher nicht, nun habe ich ihn bei Wikipedia nachgeschlagen und gleich wieder jede Menge über Filmtechnik gelernt:


    Ein Film läuft keinesweges gleichmäßig über die Lichtquelle. Jedes Bild soll kurz stehen und dann wird das nächste Bild geholt. Dies erreichte man durch das sog. Malteserkreuz-Getriebe oder -Gesperre. Heute verwendet man Schrittmotoren.


    Gruß, Thomas

  • Hallo,


    ich nehme mal an, es gibt den einen oder anderen der so ungefähr an Seite 600 vorbei ist.


    An dieser Stelle findet sich eine Textstelle, die sich für mich ziemlich prophetisch anhört. Also wie unsere Welt, in der wir leben, einmal sein könnte :


    Zitat

    "Wir sind hier unter Ihnen, weil wir Zuflucht vor unserer Gegenwart - Ihrer Zukunft - suchen - einer Zeit weltweiten Hungers, erschöpfter Brennstoffvorräte, hoffnungsloser Armut - dem Ende des kapitalistischen Experiments. Sobald wir die schlichte thermodynamische Wahrheit begriffen hatten, dass die Ressourcen der Erde begrenzt waren, ja sogar bald zur Neige gehen würden, fiel die ganze kapitalistische Illusion in sich zusammen. Diejenigen von uns, die diese Wahrheit laut aussprachen, wurden als Ketzer geschmäht, als Feinde des vorherrschenden wirtschaftlichen Glaubens. Wie religiöse Dissidenten einer früheren Zeit wurden wir zur Auswanderung gezwungen, und uns blieb kaum eine andere Wahl, als in jene dunkle vierdimensionale See mit Namen Zeit zu stechen." (Seite 621)


    Die "schlichte thermodynamische Wahrheit" haben wir ja auch schon begriffen. Trotz allem wird bei uns weiterhin auf Erdöl etc, auf grenzenloses Wachstum gesetzt. Eine Frage, die sich da irgendwie aufdrängt ist, wie soll die Gesellschaft, wenn einmal die Ressourcen erschöpft sind, sich organisieren. Kommunismus in der Form, in der Sie in Russland und in Ostdeutschland praktiziert worden ist, war ja eh zum Scheitern verurteilt.
    Dies lag daran, daß jedem Menschen ein gewisses Maß ein Eigennutzen innewohnt.
    Aber wenn man die Ungleichheit der Lebensverhältnisse der Weltbevölkerung betrachtet, kann das derzeit herrschende System auch nur zum Scheitern verurteilt sein.


    Der letzte Satz in dem zitierten Absatz liest sich für mich, als eine Anspielung an die Verfolgung von Kommunisten im Amerika der 1950er Jahre. Freilich kann man dies auch auf vergleichbare Verfolgungen Andersdenkender beziehen, die es schon oft gegeben hat.


    Grüsse
    Björn

  • Ja, mir ist dieser Absatz auch aufgefallen. Er zeigt Pynchons Kapitalismuskritik in Kürze. Der letzte Satz dient m.E. aber nur dazu wieder den Bezug zur Handlung herzustellen. Als der Club of Rome seine düsteren Vorhersagen vor vielen Jahren machte, wurde man gar nicht als "Ketzer" geschmäht, vielmehr sind daraufhin die "Grünen" entstanden. Die Vorhersagen sind so jedenfalls nicht eingetreteten, die Frage ist daher, ob man nicht vielmehr heute als "Ketzer" hingestellt wird, wenn man derartiges behauptet.


    Ich glaube auch nicht, dass das Ende der Ressource "Erdöl" das Ende des Kapitalismus bedeuten wird. Häuser kann man heute schon fast ganz ohne Energie betreiben, ohne dass es "kalt" wird, bei den Autos werden sich möglicherweise CO2-neutrale Elektrofahrzeuge durchsetzen. Die Erzeugung von Strom ist heute ebenfalls prinzipiell gelöst (Photovoltatik), wobei die Effizienz sich in den nächsten Jahren sicher deutlich erhöhen wird. Vielleicht gelingt auch ein Durchbruch in der Kernfusion.


    Also m.E. steht nicht die Energiefrage im Vordergrund, sondern vielmehr die Frage, ob ein Umsteuern wirklich noch rechtzeitig gelingt, denn noch können wir jede Menge Öl verfeuern. Da bin ich skeptisch.


    Insgesamt teile ich hier Pynchons Kritik nicht, aber das Teile der kapitalistischen Idee gerade in sich zusammenbrechen (aufgrund ganz anderer Symptome) entbehrt nicht einer gewissen Tragik.


    Für die Beurteilung des Romans halte ich es für irrelevant, wie sehr ein Leser Pynchon zustimmt oder nicht. Wie Pynchon seine Kritik im Gesamttext einbringt, das ist gekonnt gemacht und gefällt mir.


    Gruß, Thomas


    Gruß, Thomas

  • Hallo Judith,


    bist du denn auch noch dabei oder inzwischen in die vierte Dimension abgetaucht? :winken:


    Ich habe nun endlich Seite 1000 überschritten.


    Gruß, Thomas

  • Pynchon bleibt faszinierend und zugleich sehr anstrengend.


    Er verarbeitet ab etwa Seite 1200 das sogenannte Tunguska-Ereignis am 17. Juni 1908. 60 Millionen Bäume wurden umgeknickt. Zur Unglücksstelle ist man erst 20 Jahre später erstmals vorgedrungen. Die genaue Ursache ist bis heute nicht geklärt, als am wahrscheinlichsten gilt ein Kometeneinschlag.


    Interessanterweise ist dieses Unglück in den Köpfen unserer westlichen Welt kaum präsent (ganz im Gegensatz zum Unglück der Titanic 1912). Auch mir war das Ausmaß so nicht bewusst.


    Auf geht es zu den letzten 350 Seiten Pynchon - aber ohne Wehmut. Nächste Woche gibt es dann (hoffentlich) eine ausführliche Gesamtrezension.


    Gruß, Thomas