Hanns-Josef Ortheil: Lesehunger - Ein Bücher-Menu in 12 Gängen. Luchterhand 2009, 235 Seiten, broschiert, 8,- EUR.
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Klappentext
In »Lesehunger« erzählt Hanns-Josef Ortheil von seinen ausschweifenden Lese-Vergnügen, von den Ritualen und Geheimnissen des Lesens, von den Tageszeiten und Orten, die dem Lesen günstig sind und vom lustvollen Verschwinden in und dem langsamen Wieder-Auftauchen aus Büchern. »Lesehunger« ist darüber hinaus aber auch ein opulent angerichtetes Lese-Menu, das von Hanns-Josef Ortheil mit vielen Buch- und Lese-Empfehlungen angereichert worden ist und das den Leser auf raffinierte Weise zum hemmungslosen und anarchischen Lesen abseits aller literarisch schmalspurigen Kanon-Angebote verführen will.
Rezension
Eine (fiktive) Besucherin trifft sich an zwei Tagen mit dem Autor Hanns-Josef Ortheil und man plaudert in unterschiedlichen Räumen von Ortheils Stuttgarter Villa über Bücher und das Lesen, wobei offen bleibt, welchen Anteil Fiktion und Realität spielen. Während des ganztägigen Gesprächs steht das Mittagessen im Mittelpunkt, welches Ortheil selber zubereitet. Jeder Tag wird in 6 Kapitel unterteilt, im Buch als "Gang" bezeichnet, wobei man sich jeweils in einem bestimmten Raum aufhält. Als Leser hat man nach kurzer Zeit den Eindruck den beiden Personen gegenüber zu sitzen und mit ihnen Champagner zu schlürfen. Am Ende jedes Kapitels findet man eine Liste mit den erwähnten Büchern.
Der erste Gang des ersten Tages beginnt auf der Terrasse und man unterhält sich über die Bedeutung von Räumen für das Lesen. Räume nehmen für den Autor eine sehr wichtige Funktion wahr, in jedem seiner Räume (Küche, Arbeitszimmer, Gästehaus, Musikzimmer etc.) finden sich eigene kleine Bibliotheken, die jeweils Bücher eines bestimmten Typs beinhalten. Alle vorgestellten Bücher findet man bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht auf den Kanon-Listen. In der Küche finden sich neben den Kochbüchern auch Bücher über das Kochen, hier besonders hervorgehoben Das Paul Bocuse Standardkochbuch. Nicht die Rezepte stehen im Vordergrund, sondern die Küchenphilosophie und man folgt Ortheils Gedanken und Zitaten sehr gerne. Spätestens jetzt ist man als Leser überzeugt, dass an Ortheil ein genialer Verkäufer verloren gegangen ist, für jedes der vorgestellten Bücher hat er mich begeistert. Aber auch Essays und Kolumnen werden von Ortheil in der Küche immer wieder gern gelesen. Genauso wie Essen eine lustvolle Angelegenheit ist, zelebriert er die Lust des Lesens und man fühlt mit dem Autor mit. Lust macht auch sein Haus, da gibt es einen Glasvorraum, in dem Hunderte von Büchern in hohen Stapeln liegen. Es handelt sich um "die frische Ware, Bücher also, die in den letzten Tagen" dort eingetroffen sind. Da Ortheil auch Rezensent ist, erhält er jeden Monat eine Vielzahl von Verlagsexemplaren zugeschickt. Hinzu kommen dann noch seine nicht wenigen selbst gekauften Bücher.
Ortheil ist ICE-Reisender und meistens ist er schon eine halbe Stunde vor der Abfahrt auf dem Bahnhof, um ausgiebig in der Bahnhofsbuchhandlung nach neuer Lektüre stöbern zu können. Dort findet er Ratgeber wie die Kleine Liebesschule für Frauen und legt dieses Werk vor allem Männern ans Herz. Mit Erfolg. Dennoch werde ich es nicht gleich kaufen. In einem späteren Kapitel unterhält sich der Autor über seine äußerst ungewöhnliche Lesesozialisation. Hier seien keine Details verraten, aber man bleibt das einzige Mal während der Lektüre des Buches etwas nachdenklich zurück, in allen anderen Kapiteln überwiegt der leichte, humorige Grundton.
Wie auch schon in anderer Stelle hier im Forum diskutiert, möchte Ortheil 2010 Buchhandlungen mit genau ausgewählten Büchern eröffnen. Auf Seite 184 nimmt er hierzu indirekt Bezug: "Man sollte, phantasiere ich, neue Rezensionsformen einführen, Renzensionen aus wenigen, ganz aus dem Herzen kommenden Sätzen, die den Leser auf umwerfende Weise animieren, sich sofort ein bestimmtes Buch oder am besten gleich alle Bücher eines Autors zu kaufen." Ortheil hat sein Leben lang Notate zu seinen Lektüren niedergeschrieben und daher darf man gespannt sein, ob ein solches Buchhandelskonzept genauso gut funktioniert wie dieses Buch, in dem man viel templativer versinken kann als dies in einer Buchhandlung möglich sein wird. Acht Tageszeitungen gehören zu seiner Lektüre, er sammelt die ihn ansprechenden Artikel und baut seine eigene Chronik in Ordnern akribisch auf.
An großen Schriftstellern sind mir nur Hemingway, Proust und Lichtenberg in Erinnerung geblieben, wobei das Hauptwerk nur von Lichtenberg in die Leselisten aufgenommen wurde. Bei Proust wird v.a. über die Biografie seiner Haushälterin ausführlich berichtet. Ach, auch Thomas Mann wird erwähnt, aber ausschließlich mit seinen Tagebüchern. Ortheil ist ohnehin ein Liebhaber von Tagebüchern.
Ob die Lesetipps (zum Beispiel zu asiatischer Literatur, für den jungen Möchte-gern-Schriftsteller und für gute Reiselektüre) oder das Erwecken einer neuen Lust am Lesen in diesem Buch im Vordergrund stehen, mag ich nicht abschließend beurteilen. Sicherlich kann man den ein oder anderen (Geheim-)Tipp mitnehmen, auf der anderen Seite wird man wohl auch nicht allzu viel verpassen, wenn man stattdessen zu etwas ähnlichem greift.
Wer immer noch nicht weiß, warum man im eigenen Heim eine große Bibliothek benötigt, findet bei Ortheil jedenfalls die passende Antwort.
Gruß, Thomas
EDIT: Betreff etwas angepasst. LG Seychella