Gerard Donovan - Winter in Maine

Es gibt 87 Antworten in diesem Thema, welches 18.554 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Weratundrina.

  • Hi Doris,


    schön noch eine Stimme dazu zu lesen.
    Ich möchte Julius' Tat weder gut heißen noch sie rechtfertigen. Was ich an ihm sympathisch fand, war der Mann, der er vor der Tat war. Seine Art mit der Natur umzugehen etwa.
    Das Buch beschreibt wie es dazu kommen konnte, dass er erst zu dieser Tat(en) fähig war. Was hat ihn so weit getrieben. Das ist es doch, was wir uns immer fragen, wenn wir von solchen Ereignissen hören. Warum?
    Julius darf nicht mit normalen Maßstäben verglichen werden. Damit will ich ihn nun nicht gegen seine Richter verteidigen, sondern nur klar machen, dass sein Umfeld und seine Beziehungen zur Gesellschaft nicht als üblich bezeichnet werden können. Er ist ja fast ein Ausgestoßener.
    Wenn man von der Gesellschaft stets nur mit Verachtung gestraft wurde/wird, fängt man dann nicht auch an ihr gegenüber so zu fühlen? Auf keinen Fall positiv, denke ich.


    Dein Einwand "Denkt keiner an die wahren Opfer, die Hinterbliebenen" ist gerechtfertigt, aber in diesem Roman geht es vorrangig um den Täter. Um das WARUM.
    Um einen Menschen helfen zu können, und auch Papyrus ist der Meinung, dass er dringend Hilfe braucht, muss man erkennen, wo es mit ihm im Argen liegt.


    Aber statt Julius (dem Kind) Hilfe anzubieten, hat man ihn ausgegrenzt und das zog sich sein Leben lang so hin. Irgendwann fing er sicher von sich aus an sich von der Bevölkerung zurück zu ziehen. Aber ist das so verwunderlich?



    Ich bin gespannt auf Deine Meinung, wenn Du das Buch gelesen hast.


    Dem kann ich mich nur anschließen.

  • Dem kann ich mich nur anschließen.


    Dann muss ich ja zusehen, dass ich es auftreibe. Neu kaufen möchte ich es nicht, aber irgendwo sollte es gebraucht zu kriegen sein.


    Du hast recht, yanni, solche Menschen wie Julius darf man nicht mit normalen Maßstäben messen. Aber wir leben nun mal in einer Gesellschaft, in der es ohne gewisse Regeln nicht geht. In dem Moment, wo jemand hergeht und sich ein Opfer aussucht, plant er ja, und das setzt voraus, dass er noch einigermaßen rational denken kann. Dann erwarte ich auch, dass ihm bewusst ist, dass er dabei ist, den falschen Weg einzuschlagen und er sich an Spezialisten wenden sollte. Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten Julius in dem Buch hatte - im Winter von Maine wahrscheinlich nicht viele - aber so abgeschieden lebte er sicher nicht, dass ihm jegliche Gelegenheit genommen wurde, Hilfe zu bekommen.


    Man muss auch differenzieren bei seinen Gefühlen solchen Tätern gegenüber. Ich kann nicht alles gut heißen, was jemand tut, nur weil er mir im Grunde genommen sympathisch ist. Natürlich versucht man, Erklärungen und Entschuldigungen zu finden, aber für Selbstjustiz oder Gewalt gegenüber Wehrlosen und Unbeteiligten gibt es keine Entschuldigung, auch wenn es schwer fällt.


    Liebe Grüße
    Doris

  • Huhu


    Also, ich hab julius Taten auch nicht gut geheissen - auf gar keinen fall... aber für mich (auch Hundebesitzer) und die Art der Beschreibung seiner Gefühlswelt - konnte mich irgendwie gut in ihn hineinversetzen, irgendwie verstehen und doch gleichzeitig zu wissen, dass alles falsch ist was er tut. Natürlich war klar, dass da auch sehr sehr viel mehr Probleme sind als ein "toter Hund". Mir hat die Art gefallen, wie er beschrieben wurde - diese leise art... damit konnte ich mich in ihn hineinversetzen und mit ihm fühlen... und nein, für mich gabs während dem Lesen keine Verwanden der Opfer....

  • Hallo Doris,


    auch ich muss mich gerade fragen: Wie kommt man auf die Idee, dass jemand schlimme Taten gutheißt, nur weil er trotz allem in dem Täter einen Menschen sieht? Das verstehe ich nicht :confused: Das eine hat doch mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Damit stellt man uns, die wir das geschrieben haben, in eine ziemlich widerwärtige Ecke, die ich so auch für mich nicht stehen lassen möchte.

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.

  • Ich finde es schon auch wichtig zu wissen warum eine Tat begangen wird. Leider wird gerade dies oft in die Ecke gestellt das der Täter entschuldigt wird. Das muss man aber schon getrennt voneinander betrachten. Klar hat man immer eine Wahl, aber das Leben besteht aus Entscheidungen, auch wenn diese nicht immer richtig sind. Das einfühlen in eine Figur bedeutet nicht unbedingt das man so handeln würde wie diese. Das heißt vielleicht eher das der Autor es geschafft hat die Figur realistisch dar zu stellen und man daher die Handlungen auch nachvollziehen kann. Aber noch lange nicht das dahinter irgendeine Sympathie besteht... gut ok Tom Ripley von Patricia Highsmith ist zumindest was mich angeht eine Ausnahme aber trotzdem weiß ich das seine Taten eigentlich falsch sind...

  • Hallo Doris,


    irgendwie habe ich den Eindruck wir schreiben aneinander vorbei.


    Ich habe stets betont, dass ich Julius Taten nicht gutheiße, sondern dass ich seine Beweggründe nachvollziehen kann. Und das ist ein großen Lob an den Autor, der es geschafft hat, mir Julius Innenleben so nahe zu bringen, dass ich seine Gefühle erkennen und verstehen konnte.
    Zu verstehen, wie es zu einem solchen Verhalten kam, bedeutet nicht, dass ich ihn in Schutz nehmen oder die Tat entschuldigen will. Es soll nur bedeuten, dass ich den Hergang verstehe und das ist meiner Meinung nach erstmal das wichtigste Ziel einer Therapie. Darauf baut man auf.


    Wieso glaubst du, dass Julius in der Lage war selbst für Hilfe zu sorgen? Er war so sehr in seinem Trauma gefangen, für ihn war es in diesem Moment richtig, was er tat. Welcher psychisch kranke Mensch, und das ist er für mich, ist in der Akut-Phase sich seiner Erkrankung bewußt und in der Lage sich Hilfe zu holen?


  • Wieso glaubst du, dass Julius in der Lage war selbst für Hilfe zu sorgen? Er war so sehr in seinem Trauma gefangen, für ihn war es in diesem Moment richtig, was er tat. Welcher psychisch kranke Mensch, und das ist er für mich, ist in der Akut-Phase sich seiner Erkrankung bewußt und in der Lage sich Hilfe zu holen?


    Mehr als Du denkst. Die Praxen und Kliniken sind voll.


    Um auf das Buch zurück zu kommen:
    Hätte Julius den Mörder seines Hundes gezielt gesucht, hätte ich das noch verstehen können. Aber was Julius da veranstaltete, das verstehe ich auch nach Beendigung des Buches nicht.


  • Zu verstehen, wie es zu einem solchen Verhalten kam, bedeutet nicht, dass ich ihn in Schutz nehmen oder die Tat entschuldigen will. Es soll nur bedeuten, dass ich den Hergang verstehe und das ist meiner Meinung nach erstmal das wichtigste Ziel einer Therapie. Darauf baut man auf.


    Leider kenne ich das Buch noch nicht und kann daher nichts über den Werdegang von Julius als Mörder sagen. Generell kann ich es nachvollziehen, dass man Mordgedanken hegt, wenn einem ein Lebensgefährte gewaltsam genommen wird. Alleine bei dem Gedanken daran, dass z. B. jemand meinen Kindern etwas antun könnte, geht mir schon das Messer in der Tasche auf. Aber ich weiß, wo die Grenze zwischen Rachephantasien und Umsetzung der Vorstellung liegt, und diese Fähigkeit ist Julius augenscheinlich abhanden gekommen. Ich habe selbst im Bekanntenkreis einen Fall, wo jemand eine Tat begangen hat, die ich letztendlich nicht verstehe, obwohl ich nachvollziehen und verstehen kann, dass er an diesen Punkt gekommen ist. Nur warum diese Tat als letzter Ausweg gewählt wurde, kann ich einfach nicht verstehen. Auch da gab es andere Möglichkeiten.


    Bedauerlicherweise gibt es viele Menschen, denen es aus den verschiedensten Gründen genauso geht. Bei manchen ist es offensichtlich, anderen wiederum merken es selbst Familienmitglieder nicht an. Doch geholfen werden muss allen, das ist klar.



    Wieso glaubst du, dass Julius in der Lage war selbst für Hilfe zu sorgen? Er war so sehr in seinem Trauma gefangen, für ihn war es in diesem Moment richtig, was er tat. Welcher psychisch kranke Mensch, und das ist er für mich, ist in der Akut-Phase sich seiner Erkrankung bewußt und in der Lage sich Hilfe zu holen?


    In der akuten Phase war er wahrscheinlich zu keiner rationalen Überlegung fähig, da zählte wohl nur der Gedanke an Vergeltung. Aber niemand steht morgens auf und ist plötzlich ein potenzieller Mörder oder Gewalttäter. Das entsteht langsam, und während dieser Phase des Wachsens von Aggression muss jedem irgendwann bewusst werden, dass es unnormal ist, was sich da entwickelt, selbst wenn er isoliert lebt und keine Mitmenschen als Maßstab hat. Dann ist der Zeitpunkt, wo man sich Gedanken darüber machen müsste, wie man aus dieser Misere wieder herauskommt und ob man das vielleicht nur noch mit Hilfe von Dritten schafft.


    Grüße
    Doris

  • Hallo Doris,


    ich denke bei Julius, wie sicher auch bei anderen, ist es ein schleichender Vorgang. Es kann gut sein, dass diese aufwühlenden Gefühle erst mit dem endgültigen Ausbruch zu Tage treten. Ein geschultes Auge mag dies vielleicht vorher erkennen, aber ich würde mir das sicher nicht zutrauen. Wie oft hört man, dass ein Mensch plötzlich ausgetickt ist, es muss dabei ja nicht gleich zum Äußersten kommen.


    Ich denke, man kann Julius schon als Psychopath bezeichnen.


    Gibt es Menschen mit so einer Störung, die sich freiwillig Hilfe suchen? Wenn, dann müssen sie sich doch erst darüber klar werden, und ich nehme an, dass dies nicht von heut auf morgen passiert, wenn überhaupt.


    Auf jeden Fall bin ich sehr an deiner Meinung interessiert, wenn du das Buch gelesen hast. Ich finde, Donovan ist dieses Buch sehr gut gelungen. Auch die unbeantworteten Fragen, die manchen eher stören, empfand ich als Aufforderung die Geschichte selbst zu vervollständigen bzw als wunderbare Diskussionsgrundlage.



    Mehr als Du denkst. Die Praxen und Kliniken sind voll.


    Das muss man sicher differenzieren. Einigen psychisch Kranken mag schon zu Beginn ihrer Krankheit klar sein, dass sie Hilfe brauchen und sich diese auch suchen.
    Ich denke aber, ein Zwangskranker sieht seinen Zwang lange Zeit erst mal als absolutes Muss. Oder jemand der unter Verfolgungswahn leidet, wird kaum in eine Klinik gehen und sagen, Hallo, ich bin xy und leide unter Verfolgungswahn, sondern er/sie wird alles daran setzen andere davon zu überzeugen, dass es so ist.

  • Hallo yanni,



    Ich denke, man kann Julius schon als Psychopath bezeichnen.


    Gibt es Menschen mit so einer Störung, die sich freiwillig Hilfe suchen? Wenn, dann müssen sie sich doch erst darüber klar werden, und ich nehme an, dass dies nicht von heut auf morgen passiert, wenn überhaupt.


    Ich glaube schon, dass es Menschen gibt, denen von selbst klar wird, dass bei ihnen etwas verkehrt läuft, nur hört man nichts davon, weil sie es verständlicherweise nicht an die große Glocke hängen oder weil es nicht eskaliert.


    Es ist schwer, darauf Stellung zu nehmen, wenn ich das Buch noch nicht kenne und auch die Spoiler übergehe, weil ich mir die Spannung nicht nehmen möchte. Aber ich werde es in Angriff nehmen und dann nochmal meinen Eindruck von Julius posten.


    Grüße
    Doris

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    Gerard Donovan (geb. 1959)
    Winter in Maine
    Originaltitel: Julius Winsome
    Erstveröffentlichung: 2006
    aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel
    Verlag: Luchterhand
    gebundene Ausgabe
    208 Seiten


    Ich habe Winter in Maine gestern ausgelesen, und es fällt mir schwer, die richtigen Worte für meine Eindrücke zu finden.


    Zum Inhalt ist ja schon alles gesagt. Was mir bleibt, ist ein bedrückendes Gefühl nach Beendigung des Romans, ein beängstigendes Mitgefühl mit Julius Winsome, dem Protagonisten, und mein, ja, fast schon Verständnis für das, was er tut.


    Daran mag die Beschreibung seiner Lebensweise nicht ganz unschuldig sein: ein Leben, das auf den ersten Blick äußerst romantisch und beneidenswert erscheint - die Abgeschiedenheit in seiner Hütte in den verschneiten Wäldern Maines, das Leben mit den Tieren um ihn herum, mit seinem treuen Hund Hobbes und mit den dreitausend vom Vater geerbten Büchern, in die er sich so oft im Lehnstuhl am warmen Ofenfeuer vertieft. Doch ist er bei genauerem Hinsehen in allem was er tut, wie er lebt und sich von der Gemeinschaft absondert, ein asozialer Mensch im eigentlichen Wortsinne, und beileibe kein beneidens- oder gar bewundernswerter Zeitgenosse.


    Julius Winsome verliert im Laufe der langen, einsamen Jahre jegliches Gefühl für den Umgang mit anderen Menschen, und auch seine kurze Beziehung zu Claire kann daran nichts ändern. So wandelt sich seine Menschenscheu in Abscheu und großes Misstrauen allen anderen Menschen gegenüber. Nur Hobbes, sein Hund und treuer Gefährte in der Einöde, hält zu ihm, nur zu ihm baut er so etwas wie eine enge Beziehung auf. So erscheint es zwingend logisch und folgerichtig, dass Julius nach der Entdeckung von Hobbes' gewaltsamem Tod loszieht und sich die vermeintlichen Mörder seines Gefährten vorknöpft, und für mich als Leser besteht an der Richtigkeit seines Handelns zunächst mal kein Zweifel.


    Eigentlich hat Julius Winsome eine tief sitzende Abneigung gegen jegliche sinnlose Gewalt, das wird nicht zuletzt aus den Rückblenden und den Erinnerungen an seinen Vater und seinen Großvater und deren Schilderungen ihrer Erlebnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg deutlich, all' das sinnlose Töten im Krieg, das einen das ganze Leben lang verfolgt. Und trotz dieser Abneigung gegen Gewalt zieht Julius nach dem Tod seines Hundes los und nimmt blutige Rache an den vermeintlichen Mördern.


    Es ist diese Ambivalenz zwischen seiner Abneigung gegen sinnloses Töten und die völlig nüchterne, beinahe schon folgerichtige und beim Leser Verständnis weckende Schilderung seines Rachefeldzugs, seiner Vergeltung und der fast schon alttestamentarischen Aufrechnung (Auge um Auge...), die dieses Buch so faszinierend machen. Dabei spielt natürlich auch eine Rolle, dass Julius sich gerade diejenigen Jäger vorknöpft, die in seinem Territorium wildern und alles abknallen, was ihnen vor die Flinte gerät, die das Wild nur um des Tötens willen töten und um eine schöne Trophäe auf dem Kühlergrill ihrer Autos zu haben. Also eigentlich Menschen, um die es einem nicht unbedingt leidtun muss, oder...? (Ha! da war's wieder, das Verständnis...)


    Dabei muss ich als Leser keineswegs gutheißen, was Julius da tut. Aber das, was Gerard Donovan da macht - die Schilderung des Werdegangs eines verschrobenen aber liebenswerten Einsiedlers zum Massenmörder -, das tut er in meinen Augen so nachvollziehbar, dass ich stellenweise meinte, nun zu wissen, was in den Köpfen solcher Leute vorgeht, die ohne sichtbare Vorzeichen zur Waffe greifen und auf Rachefeldzug gehen. Dafür hat Donovan meine volle Hochachtung.



    Mit über 50 Jahren war das Schicksal seines Großvaters und Vaters nun auch seins - nur der Krieg war ein anderer.


    Diesen Satz finde ich ganz, ganz wunderbar! Danke, yanni. :winken:


    Für Winter in Maine gibt's von mir die Höchstnote.
    5ratten

  • Hallo MacOss,


    du hast hier auf ganz wunderbare Weise in Worte gefasst wie dieses Buch auf den Leser wirkt.
    Es freut mich, dass dir Winter in Maine so gut gefallen hat!


    Lieben Gruß
    yanni

  • Großartige Rezi, MacOss. Sie hat das Buch gerade an die Spitze meiner langen Wunschliste katapultiert :smile:

    "Man hat in der Welt nicht viel mehr, als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit." A. Schopenhauer

    :blume::engel::katze:

  • Danke danke. :redface:
    Das Buch hat mich aber auch ziemlich aufgewühlt. Und es bewegt mich immer noch. Ich würde es am liebsten gleich noch mal lesen…


    Zu ein, zwei Punkten, die hier im Thread schon mal angesprochen wurden, möchte ich auch noch was sagen, auch wenn yanni schon so vieles, mit dem ich übereinstimme, dazu geschrieben hat. Und dass gerade Dir, liebe Papyrus, das Buch nicht gefallen hat wurmt mich doch ein wenig...



    Ich möchte den Tod von Hobbes nicht gut heißen, aber Julius gehört für mich eingesperrt und fertig.
    Ich bin auch ein empfindsamer und sensibler Mensch und knall nicht einfach die Menschen ab, die mir weh getan haben.
    Ich kann für Julius kein Verständnis aufbringen, gerade weil Vater und Großvater ihm erklärt haben, was Töten ist.


    Ich glaube, Du sitzt da auch einem Missverständnis auf. Du musst Dir Julius Winsomes Sichtweise gar nicht zu eigen machen. Und davon solltest Du auch nicht abhängig machen, ob Dir das Buch gefällt oder nicht.


    Ob ich ein Buch mag oder nicht, ist nicht in erster Linie davon abhängig, ob mir der Protagonist sympathisch ist oder ob ich mit ihm mitleide oder mitfühle. Natürlich lese ich am liebsten Bücher, in deren Figuren ich mich wiederfinde. Aber auf der anderen Seite muss es auch Bücher geben, die mir Menschen näherbringen, deren Sicht auf die Dinge für mich neu ist, deren Handlungen ich nie und nimmer nachmachen würde. Und so ein Buch ist für mich Winter in Maine.



    Diese leichte Akzeptanz von sympathischen Opfern, die zu Tätern werden, kann ich nicht nachvollziehen.


    Das hat mich ja so fasziniert und auch erschreckt: die Art und Weise, wie beim Leser anfangs Sympathie für Julius aufgebaut wird, der als stiller und friedliebender Mensch geschildert wird, und dann so schlimme Dinge tut. Das ist m.E. ja auch die Absicht des Buches: den Leser erst mal einzulullen und auf die Seite des netten, belesenen Julius Winsome zu ziehen, der sich später als eiskalter Killer entpuppt.



    Ist es nicht bei jedem Amokläufer so, dass die Menschen sagen "Das hätte ich von _dem_ niemals gedacht?" Das zeigt doch, dass diese Täter vorher eigentlich von irgendjemandem gemocht wurden. Ist es nicht eher ein Klischee des grundlos mordenden Täters, der Bestie Mensch?


    Dieses Argument finde ich auch noch mal ganz wichtig. Was wissen wir denn schon davon, was im Kopf eines Menschen vorgeht? Vor allem eines Menschen, der jahrelang zwar etwas verschroben, aber harmlos sein zurückgezogenes Leben führt und plötzlich zum Massenmörder wird?



    Denkt denn eigentlich keiner an die Opfer und ihre Familien? Selbst wenn der Hundemörder unter denen ist, die Julius getötet hat - die wahren Opfer sind doch die Hinterbliebenen, die nun zusehen müssen, wie sie mit dem Verlust eines Familienmitgliedes fertig werden.


    Okay, Julis hat kein ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein, das wird deutlich. Obwohl er durchaus ein, zwei Momente des Skrupels hat und an die Hinterbliebenen der Opfer denkt. So gibt es im Buch eine Szene, in der er in seinem Stammcafé einen Bericht des lokalen Fernsehsenders über die erschossenen Jäger und ihre Hinterbliebenen sieht. In diesem Moment blitzt schon so etwas wie ein schlechtes Gewissen auf, auch wenn gleich anschließend seine innere Rechtfertigung folgt: „Als von den Kindern die Rede war, wurde mir schwer ums Herz. Die Kleinen hatten jetzt keinen Vater mehr, das wäre nicht nötig gewesen, aber warum musste auch jemand auf die Jagd gehen, wenn er zu Hause ein Kind hatte?“ (S. 123)


    So. Jetzt reicht’s aber erst mal. So ein dünnes Buch, und so viel Geschreibsel… :zwinker:

  • Interessante Rezi, MacOss. Nach Studium der Leseprobe ist das Buch auf meiner Wunschliste gelandet.


    Gruß, Thomas


  • Ich habe das Buch (noch) nicht gelesen, finde aber eure Diskussion interessant und möchte daher aus meiner neutralen Sicht auch etwas dazu loswerden.


    Denkt denn eigentlich keiner an die Opfer und ihre Familien?


    Ich habe es auch nicht gelesen und finde diese Diskussion hier interessant. Wenn ich das richtig aus den Rezis rauslese, schafft es das Buch, den Protagonisten sympathisch werden zu lassen, man kann nachvollziehen, dass er so handelt (will sich das aber nicht eingestehen, da man sofort sein moralisches Ich einschaltet), im Grunde fühlt man aber wie der Protagonist.


    Ist es nicht eine fantastische Leistung eines Buches bzw. des Autors, wenn man sich in solche Personen hineinversetzen kann, sie sogar sympathisch findet? Erfährt man auf diese Weise nicht mehr über sich als durch so manch anderes Buch.


    Das Aufgewühltsein, das MacOss beschreibt, kommt ja gerade durch den Widerspruch zwischen seinem moralischen Ich und seinen Gefühlen ggü. dem Protagonisten zustande.


    Ob ein Buch gut oder schlecht ist, hat ja zunächst mal nichts damit zu tun, ob das Handeln des Protagonisten moralisch einwandfrei ist.


    Gruß, Thomas


  • Hallo yanni,


    Natürlich gibt es diese Menschen, aber das interessantere Buch ergibt sich wohl dadurch, dass der Autor ihn zum Amokläufer werden lässt. Wenn das durch den Autor auf einfache, klischeehafte Weise vorgenommen wird, dann wird schnell ein plattes schlechtes Buch daraus. Ich bin gespannt, wie er dies gelöst hat. Es ist sicher ein schmaler Grat, wenn man über Verrückte (oder aber auch Sexuelles) schreibt und nicht nur "niedere" Instinkte beim Leser bedienen möchte. Aus den Rezis entnehme ich aber, dass der Autor dabei nicht abstürzt.


    Gruß, Thomas