Dan Simmons - Drood

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    Es fällt mir schwer Drood in eine Kategorie zu packen, daher starte ich den Thread mal hier.


    Inhalt
    Nach einem Zugunglück, bei dem mehrere Waggons von einer Brücke in die Tiefe stürzen, erblickt Charles Dickens, der zu den Überlebenden des Unglücks zählt, zwischen den Verletzten und Toten einen dunklen Fremden - Drood. Mit schwarzem Opernumhang und Zylinder bekleidet, hat es für Dickens den Anschein als würde der Fremde Verletzte in den Tod begleiten.
    In der Folge macht sich Dickens auf die Suche nach Drood, erblickt ihn mal nachts vor seinem Fenster, steigt gar hinab in die Unterstadt Londons.
    Begleitet wird er dabei von dem mit ihm befreundeten Schriftsteller Wilkie Collins, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird.
    Getrieben von seiner Opiumsucht mißtraut Collins Dickens immer mehr, vermutet gar Dickens als Täter der Morde die Drood zugeschrieben werden und zweifelt daran, dass es diesen Drood überhaupt gibt.


    Meine Meinung
    Drood ist sprachlich außergewöhnlich gut geschrieben und es ist düster.


    Wenn Dickens und Collins in der Dunkelheit durch die Elendsviertel Londons streifen, kann man den Gestank förmlich riechen, spürt die nebelverhangene Luft und erkennt nur schemenhaft durch die Finsternis London und seine Bewohner.
    Steigen die beiden hinab in die Unterstadt Londons, fühlt man sich beengt in den Gängen und bedroht von deren Bewohnern. Durch Collins Opiumsucht verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Wahnvorstellungen immer mehr und auch dem Leser fällt es schwer zu unterscheiden, was wirklich passiert und was nur Collins Fantasie entspringt.
    Durch diesen Opium-verschleierten Blick des Ich-Erzählers verschwimmt auch die Grenze zwischen Kriminal- und Gruselroman. Dadurch gewinnt das Buch, es fällt dem Leser aber auch schwerer der Story zu folgen.
    Die Charaktere sind liebevoll ausgearbeitet und wirken lebendig. Lebendig ist hier eigentlich das falsche Wort, es sind meist gebrochene, schwer zu durchschauende Charaktere. Es gibt keine klaren Grenzen zwischen Gut und Böse, egal ob Collins, Dickens, Polizisten oder Verbrecher - alle haben gute aber auch dunkle Seiten.


    Doch Drood hat auch eine andere Seite. Neben der spannenden Mischung aus Kriminal- und Gruselroman, liest sich vieles wie eine Biografie über die beiden Hauptdarsteller.
    Das hängt zum Teil damit zusammen, dass die Handlung mehrere Jahre umfasst. Es gibt immer wieder Kapitel, die eher unmotiviert aufzählen, was die beiden Autoren tun (Lesereise hier, neuer Roman da..) bis die eigentliche Handlung wieder einsetzt, was meist um den Jahrestag des Zugunglücks herum ist.
    Diese biografischen Teile wurden schon an anderer Stelle kritisiert, ich hätte sie auch nicht unbedingt gebraucht, sie haben mich aber auch nicht wirklich gestört. Sie lockern die düstere Atmosphäre etwas auf und zeigen auch die freundlicheren Seiten von Charles Dickens und den weiteren Protagonisten.
    Wenn Dickens beispielsweise zum Weihnachtsfest einlädt und für jeden Gast Bücher auswählt und im jeweiligen Gästezimmer bereit legt, bringt das die Story nicht weiter, Charles Dickens als Protagonisten dieses Buches aber schon.


    Das Buch zeigt für mich mal wieder, wie vielseitig Dan Simmons ist - es gibt nicht viele Autoren die es in der Form schaffen, mich als Leser mitten in die Geschichte hinein zu ziehen.


    4ratten


    Seoman

  • Hallo Seoman,


    vielen lieben Dank für die tolle Rezi! Bin schon öfters um dieses Buch herumgeschlichen und es hat sich für mich schon immer sehr interessant angehört. Nach deiner Rezi werde ich das Buch jetzt auch auf alle Fälle lesen. Hört sich echt super an! :klatschen:


    Liebe Grüße
    Tammy :winken:

    &WCF_AMPERSAND"Jeder der sich die Fähigkeit erhält, Schönheit zu erkennen, wird nie alt werden.&WCF_AMPERSAND" (Franz Kafka)

  • Auch von mir vielen Dank! Das Buch steht ziemlich weit oben auf meiner Wunschliste und jetzt ist es noch ein Stückchen weiter nach oben gerutscht :winken:

    Rechtsextremismus ist wieder salonfähig gemacht worden, durch CDU/CSU und FDP.

  • So, dann reihe ich mich mal mit einer Kritik ein.


    Vorweg
    "Drood" von Dan Simmons ist ein Titel, der mir bei seinem Erscheinen gleich ins Auge sprang. Viktorianisch, Grusel & Mystik, das Vorkommen realer Persönlichkeiten und diese noch aus dem Bereich der Literatur, all das hat mich sofort angesprochen. Es hat letztlich dann doch eine halbe (gefühlte) Ewigkeit gedauert, bis ich es gelesen habe, nämlich just in der letzten Woche bis gestern Abend.
    Wichtig, um meine Meinung einzusortieren, ist in dem Fall vielleicht auch der Hinweis, dass ich bislang nichts (ja, wirklich gar nichts) von Dan Simmons, Charles Dickens und Wilkie Collins gelesen hatte, dass historische Romane und entsprechend historisches Interesse bei mir nur begrenzt vorkommen, und dass ich generell nicht gerne so dicke Schinken lese, wie "Drood" unbestreitbar einer ist.


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    Inhalt
    Seoman hat im Grunde bereits die perfekte Inhaltsangabe geliefert, dennoch ein bisschen was für Scroll-Faule:
    Die Schriftsteller Charles Dickens und Wilkie Collins sind eng befreundet, weshalb Wilkie - der Erzähler des gesamten Romans - auch einer der ersten ist, mit denen Charles Dickens über das Zugunglück in Staplehorst spricht, bei dem er zwar überlebte, viele andere jedoch den Tod fanden. Wilkie ist jedoch der Einzige, dem Dickens mitteilt, dass er bei diesem Unglück die Bekanntschaft eines gewissen Drood machte, einer Gestalt, die aussieht wie der leibhaftige Tod und von dem Dickens glaubt, dass er für den Tod einiger Menschen beim Zugunglück maßgeblich und auf mystische Weise verantwortlich sei.
    Dickens beschließt, Drood und seinen Machenschaften mit Hilfe von Wilkie auf die Spur zu kommen und ihm nach Möglichkeit das Handwerk zu legen. Wilkie schließt sich diesem Unterfangen mit gemischten Gefühlen und eher ungern an, doch rasch hat Drood auch Wilkie in seinen Bann gezogen.
    Im Verlauf der nächsten Jahre trifft Wilkie immer wieder auf Drood und sieht seinen Freund Charles, andere Bekannte und schließlich sich selbst in Gefahr durch diesen Massenmörder, der seinen Ursprung in Ägypten hat und seinem Kult zu neuem Leben verhelfen will.


    Meine Meinung


    Das Buch ist so vielschichtig, dass man es nicht in wenigen Worten abhandeln kann. Das spricht für den Roman, soviel vorweg.


    Der Anfang des Ganzen ist sehr schleppend und ich habe sehr kämpfen müssen, das Buch nicht beiseite zu legen. Und mit dem Anfang meine ich gut und gern das gesamte erste Drittel des Romans - und damit im Grunde schon selbst eine Romanlänge, denn andere haben auf 300 Seiten eine komplette Geschichte von A bis Z erzählt, während Simmons sich da gerade erst aufgewärmt hat.
    Man erfährt vieles aus dem Leben von Wilkie Collins, Charles Dickens und auch von deren Verwandten, Freunden, Bekannten und Werken anderer Autoren. Natürlich spielen hier auch das alltägliche Leben, Gepflogenheiten, gesellschaftliche Regeln und derlei eine Rolle. Das alles fand ich sehr stimmungsvoll und auch glaubhaft, doch da das Erzählerische hier im Vordergrund steht (wer mit wem wann und warum ... welches Werk mit welchem Inhalt und bei welchem Verlag und in wie vielen Fortsetzungen ... etc.), ist dieser Teil doch in erster Linie gähnend langweilig. Unterbrochen wird dies nur von der Szene des Zugunglücks selbst und den ersten Nachforschungen von Wilkie und Dickens in den Katakomben, die einigermaßen spannend und auch ein bisschen gruselig sind, doch diese Szenen gemessen am Gesamtumfang des "Einstiegs" macht das Lesen insgesamt doch eher zu einer trägen und schwerfälligen Angelegenheit, die es einem schwer macht, Gefallen an der Geschichte oder auch nur an einzelnen Charakteren zu finden.


    Wie beim Berliner Ballen ist die Mitte auch bei "Drood" das Beste. :breitgrins:
    Hier treten die Personen- und Beziehungsbeschreibungen in den Hintergrund (nicht zuletzt, weil sie zuvor mehr als ergiebig ausgewälzt wurden) und es ist, als habe einer mit einer Klappe mit der Aufschrift "ÄÄÄÄÄKTSCHN!" im Buch gehockt. Es wird bedrohlicher, sowohl auf mystische und versteckte Weise, als auch ganz offensichtlich durch Raubversuche, hitzige Diskussionen und Auseinandersetzungen. Alles wird in diesem Teil des Buches plötzlich greifbarer und lebendiger, man wird (endlich!) ein Stück weit hineingezogen in die Geschichte.
    Dieser Buchteil, der sich bis auf die letzten vielleicht 100 Seiten ausdehnt, weckt viele Emotionen. Ich hab mich hier nicht nur gegruselt oder war vor Spannung kurz vor dem Nägelkauen, sondern mich hat gerade die Entwicklung der Freundschaft zwischen Wilkie und Dickens sehr berührt sowie auch die Entwicklung einiger Nebenfiguren, die teils aus unterschiedlichen Gründen aus der Handlung verschwinden, teils noch am Rande erwähnt werden, teils ihrerseits eine deutliche Entwicklung durchmachen.
    Das ist etwas, für das Simmons alle Ratten dieser Welt verdient: Haupt- UND Nebenfiguren derart zu gestalten, dass man an allen Entwicklungen gleichermaßen wirklich emotionalen Anteil nimmt (und das nach einem derart harten Einstieg ins Buch durch die Längen), ist in meinen Augen eine absolute Meisterleistung, von der ich mich nicht erinnern kann, sie jemals in der Form beim Lesen erlebt zu haben.


    Leider hält Simmons das alles nicht bis zum Ende durch, und so fand ich den letzten Teil des Buches wieder eher quälend in die Länge gezogen. Bin ich beim ersten Teil noch bereit zu sagen "Okay, es war öde, aber es hat sich durch die Geschehnisse der nächsten paar Hundert Seiten und durch die Art, wie man dann emotional als Leser einbezogen war, gelohnt", kann ich das vom Abschluss nicht wirklich sagen. Spätestens hier wären deutlich und dringend Straffungen sinnvoll und notwenig gewesen meiner Meinung nach.


    Apropos "als Leser einbezogen": Was mir unwahrscheinlich auf den Geist gegangen ist, ist die Tatsache, dass man als Leser dauernd persönlich angesprochen wurde. Dies ist insofern okay, dass der gesamte Roman als ein Manuskript Wilkies, das er als eine Art Nachlass plant, geschrieben wurde, doch Wilkie richtet sich ständig an einen Leser der späten Zukunft (also uns) und nicht direkt an die nächsten Generationen, und ständig werden Überlegungen angestellt, was wohl zu unserer heutigen Zeit immer noch so sein wird wie im neunzehnten Jahrhundert und was anders sein wird. Simmons war nicht so doof, dauernd bei diesen fiktiven Überlegungen Wilkies ins Schwarze zu treffen, sondern bietet auch Fehlannahmen, dennoch sind diese gehäuften Szenen völlig überflüssig und nervtötend.


    Was mir wiederum sehr gut gefallen hat ist, dass Simmons - wenn man das so sagen kann - stets in der Zeit geblieben ist. Man wird also des Öfteren mit Gepflogenheiten und Ansichten konfrontiert, die heutzutage nicht nur "out" sind, sondern bei denen man auch so seine Schwierigkeiten hat. Für mich als LeserIN gehört dazu natürlich das Frauenbild der Zeit und die Annahmen zum weiblichen Gemüt, zur weiblichen Intelligenz(fähigkeit) oder auch der Umgang mit ihnen, der wiederum aus einer bestimmten Auffassung von Frauen, ihrem Wesen und ihren Aufgaben entspringt. In einem anderen Buch wäre ich stellenweise entrüstet gewesen, doch hier bin ich dankbar, dass es nicht "Frauen in Hosen" sind, die im Roman eine Rolle spielen, und dass Simmons sich auch in solchen Punkten konsequent an der (möglichen) Sichtweise von Wilkie Collins orientiert hat.
    Das Ganze betrifft natürlich nicht nur Frauen, sondern auch so manche Ansicht zu gesellschaftlichen Ständen, Haustieren, Dienstboten, Indern, Ägyptern und so weiter sind nicht unbedingt sympathisch, wirken aber authentisch.


    Obwohl "Drood" durchaus auch etliche kleine - teils recht bissige - Schmunzelstellen aufweist, wenn Wilkie sich mal wieder über den einen oder anderen Charakter und seine Verhaltensweisen auslässt, verliert man beim Lesen doch nie die zunehmend düstere Spur. Ich selbst bin ja grundsätzlich eher begeisterte Leserin "blutiger" Romane, also aus dem härteren Thriller- und auch Horrorbereich, aber die lese ich auch nur deswegen meist ohne größeres Blinzeln, weil ich deren Derbheit und Brutalität nicht wirklich ernst nehmen kann (will, soll, muss). Im Vergleich dazu hat "Drood" stellenweise durchaus etwas Verstörenderes, weil der Horror, wie er hier stellenweise auftritt, auf der psychischen Ebene funktioniert und damit deutlich brutaler und auch realistischer ist (oder sein kann) als allerlei Gemetzel. Auch wenn z.B. die Beschreibung des Zugunglücks zu Anfang schon eher gemetzelig wirkt, ist diese Form des Brutalen doch eher rar im Roman und nicht stellvertretend.


    Insgesamt gesehen bin ich froh, dass ich den Roman gelesen habe, denn ich hätte eine erstaunliche schriftstellerische Leistung verpasst, wenn ich es nicht getan hätte (auch wenn ich in den nächsten Jahren bestimmt keinen Simmons-Roman mehr in die Hand nehme - echt zu ausufernd für mich). In dem Buch steckt eine solch detaillierte Beschäftigung mit Wilkie Collins und Charles Dickens sowie mit ihrer Zeit, ihrem Umfeld und ihren Werken, dass ich nahezu sprachlos bin ob dieser Leistung, ganz ehrlich.
    Dass ich mit den Werken der Autoren im Roman nicht vertraut bin, wird sich sicherlich irgendwann ändern und ich hab schon entsprechende Listen angelegt, denn das MUSS nach der Lektüre von "Drood" einfach sein. Dieser Roman ist also definitiv auch sehr inspirierend.


    Auf der anderen Seite mag mir einiges entgangen sein als "unwissende Leserin" und ich bin sicherlich nicht die richtige Adressatin für dicke Schinken, doch auch davon abgesehen bin ich andererseits froh, dass es mit der Lektüre jetzt auch vorbei ist. Komisches Buch.


    Nachdem ja einige Leute eine weitere Kritik sehr herbei gewünscht haben: Ich hab mir extra Mühe gegeben (*insert fishing_for_compliments_smiley here*). :zwinker:


    4ratten

  • Hallo Tanja,


    wow, finde deine Rezi total super :daumen:, sehr ausführlich und ja, jetzt bin ich wirklich sehr sehr neugierig auf das Buch! Vielen lieben Dank! :bussi:
    ABER, ich werde mich zurück halten und erst das Weihnachtswichteln abwarten, bevor ich das Buch dann doppelt habe. Aber ich sehe schon, dass ich für das Buch viel Zeit einplanen sollte und es wohl nur dann in Angriff nehmen sollte, wenn ich wirklich Zeit und Muße dafür habe! :zwinker:


    Liebe Grüße
    Tammy :winken:

    &WCF_AMPERSAND"Jeder der sich die Fähigkeit erhält, Schönheit zu erkennen, wird nie alt werden.&WCF_AMPERSAND" (Franz Kafka)

  • Hallo Tanja,


    vielen Dank auch von mir für deine Rezi. :smile:


    In diesem Punkt schließe ich mich Tammy an:


    Aber ich sehe schon, dass ich für das Buch viel Zeit einplanen sollte und es wohl nur dann in Angriff nehmen sollte, wenn ich wirklich Zeit und Muße dafür habe! :zwinker:


    Damit bleibt es vorerst auf meiner Wunschliste stehen, dicke Schmöker habe ich momentan noch genug hier herumliegen, die meine Aufmerksamkeit fordern.


    LG Myriel

  • Nachdem ich meine Rezi gerade geschrieben hatte, habe ich eure beiden detaillierten Meinungen erneut gelesen und festgestellt, dass sie sehr unterschiedliche Aspekte des Buches hervorheben. Meine Meinung stellt nochmals andere Dinge in den Vordergrund. Das zeigt, wie reichhaltig dieses Buch ist und dass es wohl deswegen so viele Seiten aufweist :smile:



    Was mir wiederum sehr gut gefallen hat ist, dass Simmons - wenn man das so sagen kann - stets in der Zeit geblieben ist. Man wird also des Öfteren mit Gepflogenheiten und Ansichten konfrontiert, die heutzutage nicht nur "out" sind, sondern bei denen man auch so seine Schwierigkeiten hat.


    Ja, da musste ich auch ein paar Mal leer schlucken. Was heute eindeutig rassistisch und sexistisch ist, war damals wohl die normale Meinung eines weissen Mannes. Aber letztlich hat mir das - wie dir - gefallen, weil es eben authentischer ist als ein aus heutiger Sicht politisch korrekter Wilkie Collins.


    Hier also noch meine komplette Meinung:


    Inhalt:
    Am 9. Juni 1865 erlebt der Autor Charles Dickens in Staplehurst ein Zugunglück hautnah mit. Als einer der unverletzt Überlebenden kümmert er sich auf der Unglücksstelle um die anderen Opfer. Dabei fällt ihm ein seltsam gekleideter Mann auf, der sich als Drood vorstellt.


    Dickens scheint nach dem Unfall wie besessen von diesem Drood, der offenbar in der Londoner Unterwelt haust. Dorthin zieht es Dickens immer wieder, heimlich beobachtet von seinem Freund Wilkie Collins und Inspector Field, der Drood schon seit Jahren jagt.


    Meine Meinung:
    Das Buch wird aus der Sicht von Wilkie Collins erzählt, der selber ein erfolgreicher Autor und ein Freund Charles Dickens' war. Die beiden Hauptfiguren sind sehr unterschiedlich. Während Dickens ein unbekümmerter und äusserst fitter Mann ist, der sein Leben sehr geniesst, ist Collins eher grüblerisch, manchmal trübsinnig, bewegungsfaul (dafür dem guten Essen sehr zugeneigt) und aufgrund seiner Gicht schwerst drogenabhängig. Ob Laudanum, Opium oder Morphium, Collins ist keine Methode fremd, wenn es um das Betäuben von Schmerzen geht. Diese Unterschiede belasten die Beziehung zwischen den Autoren nicht, trotzdem gehen die Wege der beiden während des Romans immer weiter auseinander.


    Das liegt zum einen daran, dass Dickens dem Phantom Drood hinterherjagt, was Collins für gefährlich hält. Deshalb ist er erleichtert, als er in Inspector Field einen Mann findet, der vieles über Drood weiss und ihn zur Strecke bringen will. Entsprechend hilft er ihm gerne bei der Jagd, auch wenn das bedeutet, dass er seinen Freund Dickens ausspionieren muss.
    Was das Verhältnis zwischen den beiden weiter vergiftet, ist die ständige Kritik Dickens' an Collins' Werken. Collins ist klar, dass Dickens der bessere Autor ist als er, trotzdem tragen die immer wieder eingebrachten Verbesserungsvorschläge des grossen Dickens nicht grade dazu bei, seine Stimmung zu heben.


    Dieses Auseinanderleben der beiden Freunde ist nur ein Motiv im Roman. Es gibt unzählige weitere kleine Geschichten und Aspekte, die sich teilweise wie ein Krimi lesen, dann wieder wie eine Sozialstudie oder auch wie ein Horrorroman. Was Dan Simmons da auftischt, ist ziemlich opulent und im Kleinen wie im Grossen raffiniert konstruiert. In dem Zusammenhang ist es besonders lustig, dass Dickens und Collins immer wieder über die Konstruktion von Romanen bis hin zu unerwarteten Enden für den Leser diskutieren, während Simmons genau all das serviert. Allerdings müsste man den Roman gleich ein zweites Mal lesen, um zu überprüfen, ob die von Simmons offerierte Auflösung wirklich wasserdicht ist oder ob es bei einem der zahlreichen Details Logikfehler gibt, die den Leser auf eine falsche Fährte locken (müssen).


    Dass der Mann ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, hat er mir mit seinen Romanen «Terror» und «Die Hyperion-Gesänge» (die mir vom Aufbau her allerdings überhaupt nicht gefielen) bereits bewiesen. Mit «Drood» hat er ein Meisterwerk abgeliefert, an dem ich sehr wenig auszusetzen habe. Gewöhnungsbedürftig fand ich die Zeitsprünge. Ich-Erzähler Collins verzichtet auf chronologisches Erzählen und greift dem Stand des Lesers mal vor oder blickt zurück und es ist nicht immer klar, wo wir uns gerade befinden. Trotzdem konnte ich der Geschichte folgen, ohne allzu verwirrt zu sein. Aber man muss als Leser bereit sein, sich darauf einzulassen und ich könnte es gut verstehen, wenn diese nicht immer angekündigten Sprünge anderen auf die Nerven gehen.


    Fazit:
    Toll erzählt, clever konstruiert und kaum Längen. Wären doch nur alle Bücher so.


    9 von 10 Punkten


    :winken:


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Hallo Ihr Lieben,


    wow, und schon die nächste positive Meinung zu dem Buch! Jetzt bin ich wirklich neugierig! Das Buch wird auf jeden Fall sehr bald auf meinem SUB landen und ich werde gleich die freie Zeit jetzt zu Weihnachten und Silvester für gemütliches Schmökern nutzen! Ihr habt mich jetzt wirklich SEHR neugierig gemacht! :klatschen:


    Habt ihr das Buch auf englisch oder deutsch gelesen? Mich würde interessieren, wie es sich so im englischen liest?


    Liebe Grüße
    Tammy :winken:

    &WCF_AMPERSAND"Jeder der sich die Fähigkeit erhält, Schönheit zu erkennen, wird nie alt werden.&WCF_AMPERSAND" (Franz Kafka)

  • Ich habe es auf Deutsch gelesen, schliesse aber aus der Übersetzung mal ganz frech, dass es auch auf Englisch gut zu verstehen ist. Die Sprache scheint mir nicht übermässig schwierig...


    :winken:

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Bei mir subt es sowohl auf Deutsch als auch Englisch. Ich hab mal etwas im Original geblättert, die Sprache ist nicht besonders schwierig, wenngleich auch nicht gerade jugendbuchmässig. Standardlevel würde ich sagen :smile:

    "Man hat in der Welt nicht viel mehr, als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit." A. Schopenhauer

    :blume::engel::katze:

  • Huhu,


    ich schleiche auch schon ewig um das Buch herum. Ich hatte nur die ganze Zeit die Befürchtung, dass es voller langweiliger Längen steckt wie z. B. irgendwelche Beschreibungen von Gassen, Gesindel, Orten etc. Ist dem so?


    Grüße,


    Marypipe

  • Hallo Ihr Lieben,


    super, danke für die Antworten. Standard-Level ist super. Das hört sich gut an! Dann habe ich ja gleich mein englisches Buch für den Winterurlaub geplant! :klatschen: :breitgrins:


    Liebe Grüße
    Tammy :winken:

    &WCF_AMPERSAND"Jeder der sich die Fähigkeit erhält, Schönheit zu erkennen, wird nie alt werden.&WCF_AMPERSAND" (Franz Kafka)

  • Ich hab es ja auf englisch und möcht es eigentlich schon seit Monaten endlich lesen. Momenta schieb ich so einige Bücher auf den Januar :breitgrins: Mal sehn wann ich dann endlich zu Drood komme! Ich freu mich schon sehr aufs Lesen!


  • Ich hatte nur die ganze Zeit die Befürchtung, dass es voller langweiliger Längen steckt wie z. B. irgendwelche Beschreibungen von Gassen, Gesindel, Orten etc. Ist dem so?


    Nein, vor solchen Längen musst du dich nicht fürchten. Das einzige, das man als Länge empfinden könnte, hat Seoman in seiner Kritik erwähnt:



    Es gibt immer wieder Kapitel, die eher unmotiviert aufzählen, was die beiden Autoren tun (Lesereise hier, neuer Roman da..) bis die eigentliche Handlung wieder einsetzt, was meist um den Jahrestag des Zugunglücks herum ist.


    Ich empfand diese Kapitel allerdings nicht als Längen, ich las auch diese Passagen sehr gerne, was dem schriftstellerischen Talent von Dan Simmons zu verdanken ist. Ich glaube, der Kerl könnte auch eine Zusammenfassung der EU-Verordnung "über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen" schreiben, die man gerne und freiwillig ein zweites oder drittes Mal lesen würde :zwinker:


    Lieber Gruss


    Alfa Romea

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Dan Simmons - Drood

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    OT: Drood
    OA: 2009
    976 Seiten
    ISBN: 978-3453265981


    Inhalt:


    Bei einem schrecklichen Eisenbahnunglück im Sommer 1865 gehören Charles Dickens und seine Geliebte zu den wenigen Überlebenden. Als Dickens den Verletzten zur Hilfe eilt, begegnet er einem seltsamen, entstellten Fremden: Drood. Doch so plötzlich wie diese mysteriöse Gestalt aufgetaucht ist, verschwindet sie auch wieder. Wer ist dieser Drood wirklich? Diese Frage nimmt Dickens völlig gefangen und wird zu seiner Obsession: Er muss diesen Drood finden. Gemeinsam mit seinem Kollegen Wilkie Collins macht er sich auf Spurensuche, die die beiden in die Unterwelt führt -- in Opiumhöhlen, Slums, Katakomben und die Kanalisation des viktorianischen Londons.
    (Quelle: Amazon)



    Eigene Meinung:


    Ich kann nur sagen, dass ich froh war, als ich dieses Buch endlich beendet hatte.
    Ausgehend vom Klappentext stellte ich mich auf eine spannende, mysteriöse Geschichte ein, welche auch noch als Bonbon, zwei von mir sehr gern gelesene Autoren als Protagonisten hat. Leider war ich sehr enttäuscht von diesem Buch. Der Ich-Erzähler Wilkie Collins wird als Drogensüchtiger, neide- und hasserfüllter und auch vor Mord nicht zurückschreckender „Freund“ von Charles Dickens dargestellt, wobei das Wort Freund schon kurz nach Beginn des Buches in Frage gestellt werden kann. Man beginnt Wilkie Collins von Anfang des Buches zu hassen und auch Charles Dickens wird nicht gerade sehr positiv dargestellt. Natürlich hatten diese beiden Autoren, wie jeder Mensch, auch ihre negativen Seiten, aber bei diesem Buch fragte ich mich immer wieder, warum Dan Simmons Wilkie Collins so sehr hasst, dass er ihn so darstellt.
    Ich hatte wie gesagt einen Thriller, bzw. eine spannende kurzweilige Geschichte erwartet, aber diese Erwartung wurde nicht annähernd erfüllt. Die Geschichte ist verworren, man ist sich bis zur letzten Seite nicht sicher, was der Realität entsprach und was Halluzinationen des permanent unter Drogen stehenden Wilkie Collins waren. Es gab durchaus spannende Stellen, welche jedoch direkt wieder im Keim erstickt wurden, durch viel zu lange, von Selbstmitleid durchtränkte Hasstiraden, seitens Collins gegenüber Charles Dickens. Ab der Mitte schon, hatte ich eigentlich keine Lust mehr das Buch zu lesen, habe mich aber doch bis zum Ende durchgerungen, in der Hoffnung, dass die Geschichte noch eine interessante Wendung nimmt. Leider war dem nicht der Fall und nach dem ich den letzten Satz gelesen hatte, ging mir nur ein Gedanke durch den Kopf „Was sollte das?“
    Wenn ich Interesse an dem Leben real existierender Personen habe, dann lese ich eine gut recherchierte Biographie, greife aber mit Sicherheit nicht zu einem Roman, welcher nach der Beschreibung in die Kategorie Thriller oder Mystery fällt.
    Dies war das erste Buch, welches ich von diesem Autor las und habe somit keinerlei Vergleiche zu seinen anderen Werken. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieser Autor auch sehr fesselnd und spannend schreiben kann, aber dieser Roman hat mir eigentlich die Lust genommen noch ein weiteres Buch dieses Autors zu lesen.
    Für den Schreibstil zumindest, das gut beschriebene Bild des viktorianischen Londons und einige spannende Stellen gibt es


    2ratten


    Tina

  • 1865 kommt Charles Dickens beim verheerenden Zugunglück von Staplehurst unverletzt davon, während zahlreiche andere Reisende ums Leben kommen. Dort begegnet er zum ersten Mal einer rätselhaften Gestalt, die aussieht wie der Tod persönlich, und sich Drood nennt.


    Sein Freund, der Schriftsteller Wilkie Collins, der mit ihm in stetem Wettstreit steht und etwas zu großzügig bei der Anwendung von Laudanum gegen seine Gichtschmerzen vorgeht, stellt fest, dass Dickens danach nicht mehr der alte ist. Eines Tages schleppt er Collins auf eine unheimliche Expedition in die Londoner Unterwelt, in Opiumhöhlen und unterirdische Kanäle, wo Drood angeblich hausen soll. Er hat sich in den Kopf gesetzt, die unheimliche Gestalt zu stellen, die nicht nur für das Desaster von Staplehurst verantwortlich sein, sondern auch mehrere hundert Morde auf dem Gewissen haben soll. Während der wenigen Jahre, die Dickens danach noch am Leben ist, nimmt diese Suche bizarre Ausmaße an.


    Er und Collins entfremden sich derweil immer mehr voneinander - Collins' Opiumsucht (und Eifersucht auf Dickens) wird immer schlimmer, während Dickens' Gesundheitszustand sich rapide verschlechtert (was ihn nicht davon abhält, eine anstrengende Vortragstour zu unternehmen). Collins bleibt von Dickens' Suche nach Drood ausgeschlossen und versucht auf eigene Faust herauszufinden, was es mit ihm auf sich hat ...


    Ein höchst atmosphärischer Wälzer, jede Menge Gaslicht, unheimliche Krypten, Kanäle, Geheimgänge, sehr merkwürdige Gestalten, viktorianische Prüderie an der Oberfläche vs. pikante Liebesgeheimnisse und ein detaillierter Einblick in den Literaturbetrieb jener Zeit.


    Wilkie Collins, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, wirkt nicht unbedingt immer sympathisch, funktioniert als Gegenpart zu Dickens aber hervorragend. Man spürt regelrecht, wie er immer tiefer in seine Laudanumabhängigkeit rutscht und ihm dabei gelegentlich der klare Verstand abhanden kommt.


    Der Gruselfaktor war viel weniger gegeben als erwartet (was aber durchaus nicht negativ auf mich wirkte). Sicher sind Drood und seine Verbündeten gruselige Figuren, und es kommt zu einigen recht blutigen Auseinandersetzungen, doch der Drood-Handlungsstrang macht nur einen Teil des Buches aus - für mich nicht einmal den besten, denn streckenweise zog sich die Suche nach dem Widerling ziemlich hin und die Auflösung vermochte mich nicht wirklich zu überzeugen.


    Viel mehr genossen habe ich die Einblicke in Dickens' und Collins' Liebes- und Familienleben, bei beiden ziemlich kompliziert, die Entstehungsgeschichten ihrer Werke und die detaillierten Schilderungen von Dickens' aufwendig inszenierten Vortragsabenden.


    Abzug für einige Längen und die Drood-Auflösung, ansonsten eine schöne Urlaubslektüre.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Schade, dass dir das Buch gar nicht gefallen hat, Tina. Respekt, dass du durchgehalten hast. Ich habe ja schon nach 100 Seiten aufgegeben, weil ich, wie du, so genervt war von Collins. Eigentlich hast du aber recht, wenn du sagst, dass der Autor ihn evtl. auch viel zu schlecht darstellt.
    Wegen der Drood-Auflösung gucke ich aber jetzt doch noch mal in den Leserunden-Thread, auch wenn du die nicht besonders gelungen fandest, Valentine.
    VG
    Mina

  • Eure Leserunde hab ich mit Vergnügen nachgelesen. Tina, ich musste so über Deinen "Alpöhi" lachen :totlach: Der Vergleich ist allerdings nicht von der Hand zu weisen :breitgrins:


    So eine Lesung von Herrn Dickens hätte ich auch mal gerne miterlebt. Das müssen ja wirkliche Highlights gewesen sein.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen