David Grossman - Stichwort: Liebe

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  • Hallo,


    ich bin jetzt mitten im 5. Kapitel von Wasserman und ich kann nicht mit dem schreiben warten, bis es zu Ende ist. Die Kapitel sind sehr lang und es gibt mittlerweile so viel was es dazu zu sagen gibt.


    Wasserman beginnt Neigel seine Geschichte von den "alten Kindern des Herzens" zu erzählen. Man erfährt zu Beginn, dass Wasserman einen Plan hat, aber nicht welchen, doch ich ahne es. Er will mit dieser Geschichte etwas bewirken oder zumindest beweisen. Er möchte beweisen, dass Neigel (und er möchte es ihm selbst beweisen) ein Herz hat, Mitgefühl. Er hofft daran rühren zu können um etwas zu verändern.


    Wasserman nutzt es aus, dass Neigel so versessen ist auf diese Geschichte. Er hat ihn, die Nazibestie, in gewisser Weise in der Hand, aber er muss vorsichtig, geschickt agieren. Zuerst sucht Wasserman nach allen Informationen, welche er sich irgendwie von Neigel beschaffen kann. Informationen privater Art. Er weiß, dass Neigel eine Frau und zwei Kinder hat. Also muss er vermuten, dass auch dieser Mensch Liebe oder Zuneigung empfinden kann.
    Man bekommt den ersten Eindruck, als Wasserman in seiner Geschichte das Baby auftauchen läßt.
    Es geht um den Duft, den Babys haben.


    "Und der Arzt atmete diesen süßen Duft ein, der einzigartig ist auf der Welt." Neigel bestätigt mit einem Kopfnicken, dass auch er diesen unvergleichlichen, unnachahmlichen Duft kennt, und Wasserman klagt: "Wie eine Versengung traf dieser Duft sein Herz. Der Verband wurde abgerissen von der alten Wunde, die noch immer blutete." Und Neigel, nach einem Augenblick des Schweigens: "Schau mich nicht so an. Ich will dir etwas erzählen. Ich weiß schon jetzt, dass du das auf deine jüdische Art gegen mich verwenden wirst, aber das ist mir egal: Als mein Karl geboren wurde und ich auf Urlaub nach Hause kam, schlich ich mich jede Nacht leise an sein Bettchen, um ihn zu riechen. Es war, als liefen mir Ameisen über den Rücken." Und Anschel Wasserman: "Ich wußte es."


    Dieser Abschnitt kommt, nachdem Wasserman erzählte was mit seiner Tochter geschah. Einem kleinen Kind. Zwei Jahre alt. Eigentlich erzählt er es nicht. Er deutet an, aber das alleine reicht schon aus. Man sieht es vor dem inneren Auge und es ist auch nicht in Worte zu fassen. Es gibt keine Worte, die es be- oder umschreiben können, so unfassbar ist es immer wieder.
    Ich habe mich schon immer mit dem Thema Holocaust beschäftigt, aber jedes Mal, immer wieder auf's Neue muss ich feststellen, dass es immer wieder die selbe Fassungslosigkeit auslöst, das selbe Herzrasen, die selbe Übelkeit. Die Mord an Menschen und selbst an kleinsten Kindern, kalt, skrupellos entmenscht. Das Entsetzen läßt niemals nach, unabhängig davon, wie oft ich es lese und mich damit beschäftige.
    Gerade das Unvermögen der Holocaustopfer an einem gewissen Punkt weiter zu reden, dieses fürchterliche Schweigen, weil die Worte fehlen und jedes Wort auch unangebracht erscheint, all das Grauen zu benennen, weil jedes Wort der Sprache zu gering, zu unbedeutend erscheint für das entsetzlichste was einem Menschen, einer Familie wiederfahren kann. Allein der Ausdruck in den Augen eines solchen schweigenden, der Worte nicht mehr zu sprechen fähigen, Menschen läßt nur annähernd erahnen was die Seele zerreißt.


    Wie kann ein Mensch, der eine Frau hat die er liebt, Kinder die sein ein und alles sind, dem der Geruch seinen Babys eine wohlige Gänsehaut vermittelt, wie kann solch ein Mensch zu einer Bestie werden und selbst Kinder und erwachsene Menschen ermorden auf grausamste Weise? Wieso? Wie kann so etwas geschehen? Wie kann jemand, der zu solchen Taten fähig ist, fähig sein zu leben und seine Kinder anzusehen?
    Für mich gibt es darauf keinen Antwort, weil ich mir gar keine Antwort darauf vorstellen kann, die solches Verhalten erklären könnte.


    Ich gestehe dass ich froh bin, wenn dieses Kapitel zu Ende ist und ich zu meinem anderen Buch greifen kann. Wie gut geht es mir. Die Gefangenen in den Vernichtungslagern hatten keine Chance nach einem "Kapitel" eine Pause einzulegen. Sie mussten sich jede Sekunde ihres verbleibenden Lebens damit konfrontieren. Nichts kann grausamer sein.

  • Noch ein Zitat aus dem Buch:


    [... und Neigel, die Worte verschluckend: "Du hast bestimm auch Kinder, eh, Wasserman?" Wasserman senkt die Augen auf sein Heft, eine weiße Peitsche saust über sein Gesicht. ("Esau wußte nicht, dass ermir mit dieser Frage glühende Kohlen auf die Brust legte.") "Ein Mädchen, Euer Ehren", antwortete er schließlich. "Ich frage; weil man diese Dinge nur wissen kann, wenn man selbst Kinder hat." "Ihr habt zwei, sagtet ihr." "Ja. Karl undLeise. Kral ist dreieinhalb, Lieselotte zwei Jahre alt. Beides Kreigskinder." Und nach kurzem Nachdenken: "ich komme kaum dazu, sie zu sehen."...]


    Kann Neigel wirklich vergessen haben, mit wem er sich da unterhält? Kann er wirklich vergessen haben, dass seine Männer Wassermans zweijähige Tochter vor seinen Augen erschossen haben?

  • Hallo,


    ich habe das Buch Wasserman gestern beendet. Wasserman ließ das Baby in seiner Geschichte sterben, nach dem Neigel mithalf es zu "kreiren". Auf auf bitten Neigels hin, ließ sich Wasserman von diesem Vorhaben, dem Baby seiner Geschichte ein vorzeitiges Ende zu setzen, nicht abhalten. Es eskaliert, als Neigel Wasserman fast panisch anschreit: "Wehe Du rührst dieses Kind an!" Dies geschieht, nachdem Neigel durch Wasserman beiläufig erfuhr, dass seine kleine Tochter in seinem Lager ermordet wurde.
    Wasserman hat ihn (fast) da, wo er ihn haben möchte.
    Das Buch endet damit, als das Baby sagt "pa-pa"


    Die eigentliche Geschichte endet hier, mit dem Buch Wasserman.
    Nach wie vor fällt es mir schwer das Buch Bruno in irgendeinen sinnvollen Zusammenhang zu der Geschichte Anschel Wassermans zu bringen. Die verworrenen Geschichte aus dem Buch Bruno sind für mich nicht wirklich klarer geworden.


    Nun kommt der letzte Teil mit dem Titel:


    Das Leben Kasiks, mit Sitchwörtern enzyklopädisch erfasst.


    Die Kinder des Herzens werden gleichgesetzt mit Partisanen, was sie ja auch letztendlich sind.
    Interessant ist der Eintrag unter dem Stichwort Pistole:


    Neben der allgemeinen Beschreibung dieser Handfeuerwaffe kommt in einem weiteren Absatz dazu:


    [... 1. Die Schußwaffe mit der sich Neigel nach der Rückkehr aus seinem Urlaub im Schoße seiner Familie in München das Leben nahm. ..]


    Auch das Stichwort Verrat verrät noch ein wenig über Wasserman und Neigel:


    [..Neigel verwendet den Begriff immer öfter, je weiter die Geschichte, die Wasserman ihm erzählt, fortschritt.... Nach seiner Darstellung hatte Wasserman ihm verraten, da er erst in einem sehr späten Stadium "und noch dazu, nachdem du mich derart in die Geschichte verwickelt hast!" von dem Schriftsteller erfahren hatte, dass die Kinder des Herzens diesmal gegen die Nazis kämpften. ...]

  • Hallo,


    mittlerweile bin kurz vor dem Ende des Buches. Soeben habe ich den Abschnitt Kasik - Plagiat beendet und nach und nach erfährt man immer mehr auch von Neigel und zwar seiner privaten Seite.
    Die Geschichte wird von Wasserman weitererzählt und Neigel gerät immer mehr hinein. Im letzten Kapitel enthüllt sich, dass Neigel Wassermans Geschichte seiner Frau in seinen zahlreichen Briefen erzählte. Was Wasserman richt bestürzte war, dass Neigel dieses Geschichte als seine eigene ausgab. Seiner Frau Christine erzählte er, Wasserman sei tot und er versucht mit dieser Geschichte, welche er als seine eigene ausgibt seine Ehe zu retten. Hier erfahren wir, dass Christine eine Frau ist, die sich mit fortschreiten des nationalsozialistischen Terrors von ihrem Mann getrennt hat. Neigel kann nach wie vor seine Kinder sehen, aber Christine will nichts mehr mit ihm zu tun haben, einem Mann, an dessen Händen Blut klebt und sie erahnt noch nicht einmal ansatzweise wie viele Menschen Neigel ermordet hat.
    Christine verehrt gebannt Schriftsteller wie Thomas Mann und ist wie es scheint ein sehr sensibler pazifistischer Mensch. Sie hegt wohl die Hoffnung, dass Neigel sich auf Grund der Geschichte geändert hat. Für Neigel ist es nach wie vor unverständlich, dass seine Frau nicht versteht, wie wichtig seine "Arbeit" ist.
    Das sind Momente, die wir selbst nicht begreifen können. Ich denke immer nur "Wie kannst Du nur...", wohl wissend das Neigel einerseits eine fiktive Figur ist, andererseits aber auch nicht, denn genau solche Menschen gab es und sie haben Millionen von Juden, Zigeunern und Zeugen Jehovas ermordet.
    In diesem Kapitel erzählt Wasserman Neigel, dass dieser seine Tochter vor seinen eigenen Augen erschossen hat. Neigel wird leichenblass und sagt "Glaube mir Wasserman, ich liebe Kinder."


    Hier fragt man sich, kann ein Mensch wirklich so etwas ausblenden? Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich kann auch nicht verstehen, wie Wasserman es ertragen kann Tag für Tag Neigel gegenüber zu sitzen und ihm seine Geschichte zu erzählen unabhängig davon, was er damit zu bezwecken erhofft. Ich könnte den Anblick und die Anwesenheit einer solchen Bestie keine Sekunde ertragen.


    Trotzdem, man merkt wie Neigel langsam, aber trotzdem anscheinend Zweifel bekommt. Er selbst muss immer wieder bestätigen, warum er das tut, was er tut. Wem bestätigt er es? Ich weiß es nicht, es ist eigentlich auch irrelevant, denn die Menschen die ermordet wurden, sind ihrer Familie und dem Leben entrissen. Die die überleben, haben genau genommen auch kein lebenswertes Leben mehr, denn mit diesem Horror kann wohl kein empfindsames Wesen abschließen. Es gibt keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung für ie Taten der Nationalsozialisten und Menschen wie Neigel wünscht man dass sie möglichst schnell die Erde von ihrer Anwesenheit befreien.


    Ich frage mich, wie viele Nationalsozialisten überhaupt Juden gekannt haben. Wie viele haben sich denn mit jüdischen Menschen unterhalten, haben ihre Familie kennen gelernt, ihren Humor, ihre Liebe und ihren Wunsch nach einem glücklichen zufriedenen Leben? Ich meine damit persönlich kennen gelernt, mit Namen, in einem gegenseitigen Gespräch. Es können wohl nicht viele gewesen sein, denn wie sonst hätte so etwas passieren können. Solch einen Hass und diese daraus folgenden Konsequenzen auf eine ganze Rasse kann man doch nur empfinden, wenn man Distanz dazu hat. Sobald man in irgendeiner Weise persönlich involviert ist, muss es doch unmöglich sein.

  • So, da bin ich noch mal, denn das nächste Kapitel greift noch einmal das eben gesagte auf.


    Im nächsten Kapitel Groschenphilosophie, versucht Neigel noch einmal die Handlungsweise der Nazis zu erklären, bzw. zu rechtfertigen und die Argumentation ist wirklich interessant:


    [...Er begründete seine Aussage mit einem irrelevanten Argument: „Tatsache ist, dass sich die ganze Welt damit abfindet. So viele Menschen können sich doch nicht irren, oder?...
    ...Alles brannte, alles ging kaputt. Wir tobten in den Straßen, töteten Menschen ohne Grund und ohne Prozess und ohne zu versuchen es zu verbergen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich in den darauf folgenden Wochen auf irgendetwas wartete, ich weiß nicht auf was. Ich dachte, dass vielleicht doch noch eine Hand vom Himmel kommt und uns ins Gesicht schlagen würde. Aber du weißt ja, was geschah. Keine einzige Kirche, weder die katholische noch die protestantische sagte einen Ton. Kein einziger Bischof in ganz Deutschland trug einen gelben Stern aus Solidarität mit Euch....]


    Allein der Satz „So viele Menschen können sich doch nicht irren“ sagt schon alles.