Ich habe jetzt etwa das erste Drittel hinter mir und bin einigermaßen irritiert. Das gilt zunächst einmal und vor allem für den Zeithorizont. Wenn ich die bislang aufgepickten Infos über Offreds Leben zusammennehme, dann müßte der Umschwung binnen weniger Jahre (ich sage mal: drei bis maximal fünf) stattgefunden haben und kann auch noch nicht so lange zurückliegen, weil das sonst mit ihrem vorigen Leben und dem Alter der Tochter alles nicht hinkommt. Und in dieser Zeit hat sie auch noch ihre „Ausbildung“ erhalten und mindestens die zweite „Stellung“, wobei sie dort mindestens zwei, eher mehr Vorgängerinnen hatte. Das paßt für mein Empfinden alles nicht recht zusammen.
Die Zeiteinordnung fand ich auch sehr schwierig. Ich habe mir das so zusammengereimt, dass von der Regierungsbildung/ Umsturz zur Umerziehung eine nicht genannte Zeitspanne vergangen ist (in der, wie im zweiten Band erwähnt, wohl die Tanten ausgebildet werden mussten). Ab der Umerziehung würde ich es mir so erklären: Ein halbes bis ein Jahr Umerziehung/ Red Center, und dann ein bis drei Jahre bei Commander 1 und 2. Es wird soweit ich weiß angedeutet, dass nicht jede Magd, die keine Kinder bekommt, die gesamten drei Jahre bei einem Commander bleibt. Somit wäre Offred bei Beginn der Handlung ca. fünf bis 8 Jahre Magd und davor vielleicht ein halbes bis zwei Jahre "in Ausbildung" gewesen und davor mag es ein halbes bis ein Jahr eine Zeit vor der Ausbildung gegeben haben. Also zwischen 7 und 10 Jahre nach Gründung von Gilead und Offred müsste dann vielleicht Mitte bis Ende 30 sein?
Ich kann mir schon vorstellen, dass man (viel) Wissen verliert, wenn man komplett indoktriniert wird und einem sämtliche Möglichkeiten zum Austausch sowie Texte jeder Art fehlen und man also auch keine Erinnerungen aufschreiben kann. Das Leben, das sie lebt, wird für sie zunehmend "normal", weil die äußeren Umstände sie da rein pressen.
Dass eine durchschnittliche Frau nicht versucht zu fliehen, nachdem sie gesehen hat, wie anderen die Füße aufgeschnitten wurden oder Schlimmeres und nachdem man regelmäßig an der Exekution von "Verbrechern" teilnehmen muss und jeder, mit dem man heimlich spricht, ein Spion sein kann sowie genau festgelegt ist, was man sagen und dass man meist schweigen muss (und viele vorher übliche Wörter und Floskeln ersetzt wurden, so dass Erinnerungn vielleicht auch zunehmend schwieriger wird), erschließt sich mir schon.
Selbst wenn man flieht - womit und wohin? Irgendwann erwähnt sie, dass sie gar keine Straßenkarte oder Vorstellung von der Umgebung hat. Und alles wird überwacht, wie soll man unentdeckt entkommen?
Immer wieder wird im Buch ja erwähnt, dass sie keinem traut, weil jeder ein Spitzel sein könnte. Und selbst ihr Alltag außerhalb der "Zeremonien" wird akribisch überwacht.
An Moiras Fluchtversuch wird mMn sehr gut dargestellt, wie sehr so eine Indoktrination einen beeinflussen kann - Moira fällt es schwer, ihre erlernten Verhaltensweisen wie auf den Boden schauen, unterwürfig zu sein zu unterdrücken, obwohl sie sich selbst für eher forsch und mutig hält.
Aus meiner Sicht stellt das Buch sehr schön dar, dass alle in dem System gefangen sind, selbst die, die es erdacht haben - keiner kann jetzt mehr offen sprechen und erklären, dass es schlecht gelaufen ist. Die Ehefrauen und Kommandanten leiden unter Langeweile, die Ehefrauen unter Eifersucht, jeder hat Angst vor Veränderungen (Marthas: Was passiert, wenn sie zu alt für die Hausarbeit werden? Was passiert dann mit den Mägden? Die Sorge wird im Buch ja angesprochen, aber nie geklärt).
LG von
Keshia