Ulla Hahn - Das verborgene Wort

Es gibt 18 Antworten in diesem Thema, welches 4.210 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Sagota.

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    Hildegard ist anders als die Leute in dem kleinen, erzkatholischen und -konservativen Dorf im Rheinland, in dem sie aufwächst. Schon als Kind fällt sie durch ihre lebhafte Phantasie auf, mit dem Lesenlernen schließlich taucht sie in eine ganz neue Welt der Buchstaben, Wörter und Geschichten ein, die sie über alles fasziniert.


    Für die Eltern ist das alles Firlefanz, "dat Kenk" (das Kind) soll was Anständiges lernen, schon die Realschule, die sie sie widerstrebend besuchen lassen, ist ihnen "zuviel", zu abgehoben. In den Ferien arbeitet sie in der Fabrik, erlebt die Komplikationen der ersten Liebe und stellt zwischendurch immer wieder sehr schön formulierte Betrachtungen über das Lesen an.


    In dem Buch passiert eigentlich nichts, was man nicht schon mal gehört hat, wenn man aus einer kleineren Gemeinde stammt, wo jeder jeden kennt: Festgottesdienste, Skandälchen, Liebeleien, Prügelstrafe, Bigotterie, Alkoholsucht, uneheliche Kinder, Fabrikarbeit...


    Aber Ulla Hahn schildert das alles in einer so eindringlichen, lebendigen, glaubhaften Sprache, dass man richtig in die Geschichte hineingezogen wird, mit Hildegard fühlt, leidet, sich freut, hofft, sie interessiert durch Kindheit und Jugend begleitet.


    Ein sehr schönes, lebensechtes und trotz der alltäglichen Thematik fesselndes Buch mit vielen genau beobachteten und fein gezeichneten Szenen.


    :tipp:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





    Einmal editiert, zuletzt von Alfa_Romea ()

  • Schön, ich freue mich auf Deine Kommentare! :klatschen:


    [size=9px]Und hoffe mal, dass es Dir besser gefällt als der Follett :wegrenn: [/size]

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Hallo,


    ich lese dieses Buch gerade, bin kurz vor dem Ende und habe gesehen, dass es hier schon vorgestellt wurde. Ich schließe mich Valentine an, es ist (bisher) ein wunderschönes Buch. Es hat einen besonderen Zauber, auch wenn es eine für Hildegard nicht einfache Kindheit ist (Nachkriegszeit), die erzählt wird. Bücher sind ihr Lebensinhalt. Sie holt sich Wissen daraus, flüchtet in die Geschichten, wenn der Vater z. B. wieder prügelt, holt sich aber auch Kraft aus den Büchern, um dem Vater entgegenzutreten. Lässt Schiller zu ihrem Freund werden, dem sie all ihre Sorgen in Briefen an ihn schreibt, versinkt im sorglosen Leben der Schönen und Adeligen, wechselt zu realeren Geschichten, je nachdem, wie sich ihr eigenes Leben entwickelt, lernt die Liebe in Büchern kennen, kann sie im wahren Leben aber nicht auf die Art sehen, wie sie in den Büchern beschrieben ist, denn in diesen fällt man sich immer nur in die Arme. Man spricht zu der Zeit im richtigen Leben eben nicht über "es".


    Die Verflechtung der Inhalte ihrer Bücher mit ihrem Leben finde ich sehr schön beschrieben. Die Lebensweisheiten, die sie aus den geschriebenen Wörtern zieht, die sie in ihrer Kindheit und Jugend begleiten, ist groß und lassen sie viele Situationen bestehen, machen ihr das Leben aber auch manchmal schwerer, da sie nicht alles hinnimmt, "was sich gehört". Da werden auch mal "Gesetze" der Erwachsenen und der Kirche ignoriert oder neu interpretiert.
    Man kann gar nicht den Inhalt wiedergeben, da so viele alltägliche Situationen in der Entwicklung des Mädchens in Kindheit und Jugend erzählt werden. Immer aber ist das geschriebene Wort gegenwärtig und mancher Gedanke Hildegards über das Leben ist einfach nur schön.
    Ich weiß noch nicht wie das Buch ausgeht, aber es hat mich einfach sehr beieindruckt. Die Erzählweise ist sehr schön. Einzig die Sprache in Rheinischer Dialektform hat mich am Anfang irritiert, wenn die Protagonisten gesprochen haben. Aber ich habe mich schnell daran gewöhnt, es muss einfach sein und ist wichtig für die Geschichte.


    Ein sehr empfehlenswertes Buch!


    Liebe Grüße
    Heimfinderin

  • Toll, dass Dir das Buch auch so gut gefällt! Ich war von der ersten Seite an irgendwie gefesselt. Den Dialekt habe ich irgendwann förmlich gehört :breitgrins:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Valentine
    Ja genau, und vor allem konnte ich den Dialekt mit der Zeit immer besser und schneller lesen. Jetzt flutscht's schon richtig. "Heldejaad, wie kütt die Popp hieher? Um Jottes willen. ... Dat Fritzje is doch schwaz und esch han doch so viel jebetet, et sollte doch weiß werden."
    (Die Szene fand ich übrigens toll, als sie ihre schwarze Puppe an Weihnachten zum Jesuskind in die Krippe legte, damit sie kein "Heidenkind" mehr sei und die ganze Gemeinde völlig aufgelöst war)

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    Klappentext:
    Ein Mädchen, Arbeiterkind, voller Neugier und Lebenswille sieht sich im Käfig einer engen katholischen Dorfgemeinde gefangen. Sie stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Härte und Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Lebensgewohnheiten festhalten wollen. Im Deutschland der fünfziger und frühen sechziger Jahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit: die Freiheit des verborgenen Worts.


    Ich gebe zu: Ich habe ein Faible für Kindheitsbeschreibungen. Aber auch so ist dieses Buch ein ganz besonderes. Selten hat mich die Schilderung einer Kindheit und Jugend so ergriffen wie diese. Hildegard, der Ich-Erzählerin, gelingt es, den Lesern unglaublich nahe zu kommen. Von Anfang an fiebert und leidet man mit ihr mit, freut sich darüber, dass sie in ihrem Großvater wenigstens einen erwachsenen Verbündeten besitzt, der sie gegen die niederdrückende Atmosphäre der rheinischen katholischen Arbeiterschicht unterstützt und ihr die Welt der Phantasie öffnet. Man begleitet sie in die Schule, in der der Lehrer tyrannisch regiert, ihr aber auch wider Erwarten den Besuch einer weiterführenden Schule ermöglicht.
    Man begeistert sich mit ihr zusammen über ihre literarischen Entdeckungen, lächelt über ihre Anbetung ihres Hausgottes Schiller und ist entsetzt über ihre erste Begegnung mit der Arbeitswelt, durch die ihr die Zuflucht in die Literatur genommen wird , und an der sie zu zerbrechen droht.
    Hildegards rheinisches Heimatstädtchen entsteht mitsamt seinen Bewohnern plastisch vor unseren Augen. Die soziale Schichtung und die damit verbundenen Machtverhältnisse werden äußerst deutlich, die untergeordnete Stellung der Frauen ebenso. Diese Gesellschaft ist eine ganz schön brutale, auch wenn sie sich selbst nicht so empfindet. Kirche und Glauben bieten zwar manchen einen Zufluchtsort, wirken aber gleichzeitig unterdrückend auf alle nicht ganz angepassten.
    Bemerkenswert erscheint mir die Differenziertheit, mit der Ulla Hahn Menschen und Institutionen schildert; keiner ist wirklich nur gut oder schlecht. Auch der brutale Vater z. B. zeigt manchmal eine unerwartet menschliche Seite und kann zu Hildegards Verbündetem werden - zu Lehrer und Kirche hatte ich mich schon geäußert.
    Besonders begeistert hat mich die Sprache. Zwar tat ich mich anfangs mit dem rheinischen Platt schwer, konnte mich aber schnell darin einlesen und die Wörterliste am Ende des Buches half dort weiter, wo ich mich in den Tiefen des Dialekts ganz verloren hatte. Überhaupt faszinierten mich Hildegards Erfahrungen mit dem Phänomen "Sprache". Die Aneigning ihrer ersten Fremdsprache, nämlich des Hochdeutschen, ermöglichte ihr den Zutritt in eine andere Welt, schuf aber auch eine (nicht ungewollte) Distanz zu ihrer Familie und Herkunft. Sprache ist wichtig, Sprache schafft Identität, Sprache bietet Zugang zu anderen Welten – schön, dies so gut gestaltet wie in diesem Buch zu lesen.


    5ratten + :tipp:

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Danke für die Rezi, Saltanah,
    ich kenne nur die Gedichte von Ulla Hahn, die mir auch gefallen, muss ich dazu sagen,
    dass sie auch Prosa schreibt ist mir irgendwie entgangen, da ich aber auch sehr gerne Kindheit- und Jugenderinnerungen lese, scheint das Buch auf jeden Fall, was für mich zu sein.

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    Meine Meinung
    Dieses Buch lässt mich mit einem Gefühl zurück, dass ich schwer einordnen kann. Jedes Mal, wenn ich das Buch in der Hand hatte, hat es mit gefesselt. Aber sobald ich es weggelegt habe, musste ich mich stark motivieren, um es später weiter zu lesen. Dadurch entstanden oft lange Pausen zwischen den einzelnen Abschnitten und ich musste mich erst wieder in das Geschehen einfinden, was natürlich nicht unbedingt zum Lesevergnügen beitrug.


    Das Blöde ist, dass ich wirklich nicht weiß, warum ich mich so schwer dafür motivieren konnte. Die Handlung fand ich sehr interessant, ich muss sagen, dass ich mich mit dem Thema noch nicht besonders auseinandergesetzt habe. Umso erschreckender fand ich die Zustände, in der Hildegard aufwächst, wobei ich befürchte, dass solche Zustände auch teilweise heute noch zu finden sind. Oft bin ich richtig wütend geworden, wenn das Mädchen wieder mal für ihren Wissendurst beschimpft, ausgelacht oder verprügelt wurde. Für mich ist das unvorstellbar, bei manchen Beschreibungen hat sich mit der Magen umgedreht. Auf der anderen Seite habe ich mich dann umso mehr gefreut, wenn sich jemand für Hildegard eingesetzt hat.


    Die Charaktere sind natürlich das Herzstück dieses Buches. Deren Entwicklung und Reaktionen sind der Hauptbestandteil der Handlung und Ulla Hahn vestejt es meiner Meinung nach vortrefflich, die Charaktere sehr menschlich wirken zu lassen. Jeder hat seine guten und schlechten Seiten, seine Gründe und seine Motivation. Dennoch gibt es natürlich sympathische und unsympathische Personen, wobei man als Leser stark von Hildegards Meinung gelenkt wird, aber auch die Chance hat, sich aus diversen Ereignissen eine eigene Meinung zu bilden. Gerne hätte ich noch mehr über Hildegards Bruder erfahren, aber vielleicht spielt er später noch eine größere Rolle.


    Die angesprochenen Themen ergeben in ihrer Gesamtheit einen ziemlich guten Einblick in die Verhältnisse: Krankheit, Religion, Tradition, Schule, erste Liebe, Alkoholismus, Freundschaft, ungewollte Schwangerschaft, ... . Manche Abschnitte fand ich etwas langatmig, z.B. Hildegards Gespräche mit Schiller.


    Mit dem Dialekt hatte ich überraschenderweise gar keine Probleme. Woran das liegt, weiß ich nicht, eigentlich komme ich aus Bayern. Verstanden habe ich trotzdem alles und die Stellen ließen sich auch flüssig lesen. Allerdings mag ich den kölschen Dialekt sowieso.


    Insgesamt hat mir das Buch wirklich gefallen, besonders wenn ich so im Nachhinein darüber nachdenke. "Aufbruch" steht zumindest schon auf meiner Wunschliste.
    4ratten

    "Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne." (Jean Paul)

  • Ich wundere mich gerade, dass ich das Buch damals nach dem Lesen hier nicht rezensiert habe. Jedenfalls war ich begeistert von Ulla Hahns Roman und kann mich somit Euren Worten nur anschließen.


    Kennt jemand von Euch die Verfilmung und kann mir sagen, ob sie dem Buch gerecht wurde?

  • Jedes Mal, wenn ich das Buch in der Hand hatte, hat es mit gefesselt. Aber sobald ich es weggelegt habe, musste ich mich stark motivieren, um es später weiter zu lesen. Dadurch entstanden oft lange Pausen zwischen den einzelnen Abschnitten und ich musste mich erst wieder in das Geschehen einfinden, was natürlich nicht unbedingt zum Lesevergnügen beitrug.

    Oh, ein Eindruck, der mir aus der Seele spricht. Ich weiß überhaupt nicht, wieso das bei diesem Buch so war. Vielleicht weil die Handlung gefühlt zweitrangig ist und eher ein Gefühl beschrieben wird, eine Liebe zum Wort, zur Sprache, zur Literatur vermittelt wird, mit viel Liebe zur Sprache - zur deutschen Sprache und zur kölschen Sprache. Ich muss sagen, dass ich froh war, dass ich Kölsch verstehe und teils spreche. Ansonsten wäre mir das zu anstrengend gewesen und ich habe schon Bücher, die anderen Dialekt so viel verwendet haben, abgebrochen.


    Anders allerdings als mondy, werde ich mir die Fortsetzung eher nicht durchlesen. Oder vielleicht mal in einer anderen Zeit, aber gerade fällt es mir allgemein schwer, mich zum Lesen zu motivieren - da muss das Buch mit dran arbeiten und nicht dagegen.

  • Gefühlt ein Jahrtausend her, dass ich Ulla Hahns autobiographisch angehauchte Bücher gelesen habe. Nachdem ich mich nach der anfangs schwierigen sprachlichen Barriere an den Dialekt gewöhnt hatte, gefiel mir das Buch ganz gut. Ich erinnere mich noch an die harte Kindheit, die verständnislosen Eltern und der Kampf um die Sprache und die Bücher.


    Noch eindrücklicher als die biographischen Bücher finde ich ihre Lyrik.


    Danke Avila dass du mich wieder daran erinnert hast.

  • Ja sie ist ja eigtl. Lyrikerin, die Bände ihrer Biographie hat sie erst später geschrieben. Für dich ist der "slang" ja eh leicht zu verstehen, bist ja native speakerin ))

  • Ich habe die ersten drei Bände gelesen und demnächst kommt Teil 4 an die Reihe. Bislang mochte ich den ersten am liebsten, der hat mich wirklich komplett abgeholt :herz:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich habe alle 4 Bände gelesen - die ersten beiden, die ja v.a. mit der Erfahrung mit dem Medium Sprache zu tun haben, haben mir gut gefallen - die beiden späteren haben mich eher gelangweilt bzw. genervt. Insgesamt eine abfallende Kurve.

    Interessant war für mich der Vergleich mit der Serie von Elena Ferrante - da ging es mir ähnlich.

    (Ja - Ulla Hahn ist eine "Dichterin".. ;) )

  • Im 3. Teil fand ich den intellektuellen Kram eher anstrengend. Das Buch hat mich immer dann überzeugt, wenn es um das Zwischenmenschliche und die persönliche Entwicklung der Hauptfigur ging.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Das Buch liegt auf meinem SUB und wird ihn nach der Rezension wohl demnächst verlassen.

    same here - will ich schon sooo lange lesen ;)

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)