Sofi Oksanen - Fegefeuer

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    Inhalt:
    Estland, im Jahr 1992: Vor der Haustür der alten, alleinstehenden Aliide Truu liegt eine junge Frau, verängstigt, in abgerissenen Kleidern. Es ist Zara, ihre Grossnichte aus Russland (das weiss Aliide da allerdings noch nicht). Zara wollte eigentlich in den Westen gehen und dort Geld verdienen, um dann Russland zurückzukehren und Ärztin zu werden. Stattdessen landete sie in einem Billigpuff, wo sie stinkende und teilweise sadistisch veranlagte Kundschaft bedienen musste, ohne dafür jemals Geld zu sehen.


    Und jetzt, nach der Flucht von ihrem Zuhälter, sucht sie also ihre unbekannte Grosstante auf. Der einzige Mensch, der ihr helfen kann. Aliide ist nicht begeistert, denn eigentlich möchte sie nach einem ereignis- und entbehrungsreichen Leben nur in Ruhe gelassen werden. Zaras Auftauchen weckt in ihr nämlich unangenehme Erinnerungen an ihre Jugendzeit, als ihre Wünsche und Träume ebenso brutal zerstört wurden wie Zaras.


    Meine Meinung:
    Dieser Roman umfasst erschütternde Schicksale, die zeitlich etwa 50 Jahre auseinander liegen und nur auf den ersten Blick etwas miteinander zu tun haben. Anders, als im Klappentext suggeriert, wo steht «Egal, welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen.» Aliide Truu war zwar definitiv ein Opfer, das hatte aber nichts damit zu tun, dass sie eine Frau ist und es entschuldigt auch nicht, dass sie später zur Täterin wurde. Eigentlich ist sie ein Paradebeispiel dafür, wie durchtrieben und gemein gerade Frauen zwecks Erreichung eigener Ziele sein können. Das sollte man dem Klappentextschreiber mal sagen.


    Bleiben wir grade bei den Dingen, die da aufs Buch gedruckt wurden. Auf der Rückseite findet sich ein Zitat aus der schwedischen Zeitung «Dagens Nyheter», wo man offenbar sehr begeistert von dem Roman war: «Oksanen schreibt herausragend. Sprache, Komposition, Sujet und Aussage – das alles ergibt eine sensationelle Mixtur. Der Nobelpreis in ein paar Jahren – falls eine Vorhersage erlaubt ist.» Da hat sich ein Feuilletonist (oder ein Feuilletonistin) offenbar kaum mehr eingekriegt, aber ich halte die Lobeshymne für übertrieben. Im Einzelnen:


    Sprache: Ja, Oksanen kann schreiben, sie hat wirklich erzählerisches Talent. Allerdings übertreibt sies für meinen Geschmack (wie viele andere Literaten auch), indem sie ums Töten irgendwelche schwer bis gar nicht verständlichen Metaphern einbauen muss: «Aliide hatte die Angst müde in die Ecke geklatscht wie eine hinkende Fliege.» Wieso wie eine hinkende Fliege? Was ist dieser Zusatz anderes als überflüssiges Gewäsch? Ein Punkt nach geklatscht und gut ist. Glücklicherweise hält sich Geschwurbel dieser Art in Grenzen, aber mit sowas kann man mich ärgern.


    Komposition: Sehr gelungen. Da Oskanen sowohl Aliides wie auch Zaras Geschichte nach und nach erzählt und erst so nach und nach ein Bild entsteht, was eigentlich los war (vor allem in Aliides Leben, Zaras Geschichte ist recht offensichtlich) war das Verfolgen der Entwicklungen ein richtiges Erlebnis. Und am Ende kommt noch das Sahnehäubchen, geheime Protokolle aus Sowjetzeiten, die zeigen, dass noch mehr hinter allem steckt und die auch erklären, wieso Aliide so von Gedanken an Fliegen besessen ist, die sich wie ein roter Faden durch ihre Geschichte ziehen.


    Sujet und Aussage: Öhm... konnte von mir nicht gefunden werden. Es gibt definitiv mehr als ein Sujet (das Ganze wie im Klappentext auf «Frauenunterdrückung» reduzieren zu wollen, greift viel zu kurz) und eine Aussage gibts definitiv nicht. Da muss sich der Leser seine ganz eigene Moral aus der Geschichte ziehen, die Autorin liefert da nichts, und das finde ich auch gut so. Der Buchtitel «Fegefeuer» deutet meiner Meinung gar nicht schlecht an, in welche Richtung die Gedanken schweifen können.


    Fazit:
    Ein insgesamt eindrückliches Buch, das mir in einem sprachlich und erzählerisch sparsameren Stil sicher besser gefallen hätte. Eine gut durchdachte Story, die mir insbesondere die Geschichte Estlands und seiner Bevölkerung im letzten Jahrhundert näher gebracht hat. Was vorher «eins von diesen drei Ländern da oben links in Russlands Ecke» war, hat für mich jetzt ein Profil bekommen.


    6 von 10 Punkten

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

  • Meine Meinung


    Ich habe das Buch regelrecht verschlungen. Die Geschichte ist meiner Ansicht nach sehr gut aufgebaut. Durch die rasch wechselnde Erzählperspektive und die Rückblicke in die Vergangenheit baut sich das Buch wie ein Puzzle Stück für Stück zusammen und lebt bis zum Ende von überraschenden Informationen, die beim Lesen nicht vermisst werden und dennoch gegen Ende wesentlich zur Geschichte beitragen.


    Auch ich empfinde die Geschichte nicht als eine Geschichte der weiblichen Opfer. Für mich ist das Buch eher die Geschichte eines Familienschicksals aus der Sicht zweier Frauen, die sich völlig fremd sind. Sie beherbergt auch eine große Liebesgeschichte, die übrigens auch die wenigen schönen und warmen Stellen des Buches ausmacht. Sonst fehlt die Wärme und das, was eine Familie normalerweise ausmachen sollte. Vor allem Aliide Truu ist sehr undurchsichtig in ihrer Kälte der eigenen Familie gegenüber, die jedoch an manchen Stellen bröckelt. Ich empfinde Aliide als verstörendsten Charakter.


    Ein zusätzliche Würze hat das Buch sicherlich durch seinen Schauplatz bekommen. Das mir so fremde Estland hat nach dem Lesen etwas an Farbe gewonnen, wobei die Handlung auch an jedem anderen Ort der Sowjetunion spielen hätte können.


    Die Sprache finde ich literarisch gut gelungen. Mich stören die Metaphern nicht, sie sind meiner Ansicht nach nicht auffällig überdehnt. Das Buch liest sich schnell und hilfreich ist auch das Glossar mit Informationen über Politiker, Dichter, Orte, Gegenstände und Ausdrücke, die in diesem Buch eine Rolle spielen und einer Erklärung bedürfen.


    Da ich schon länger kein Buch so schnell lesen konnte ohne müde zu werden, gebe ich:
    5ratten

    :leserin:

  • Sofi Oksanen - Fegefeuer


    ZUM INHALT:
    Als 1992 die Sowjetunion zusammenbricht feiert die estische Bevölkerung den Abzug der Russen und die Unabhängigkeit. Doch die alte, misstrauische Aliide Truu fürchtet Plünderungen und lebt zurückgezogen in ihrem Haus. Als sie ein Bündel in ihrem Garten findet, das sich als junge Frau entpuppt, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung herunter und nimmt Zara in ihr Haus auf. Zara ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern, die sie mit brutalster Gewalt zu Willfährigkeit gezwungen haben und ihr schon dicht auf den Fersen sind. Doch Zara sucht keineswegs so zufällig Unterschlupf bei Aliide, wie diese glaubt: Aliide könnte die Schwester ihrer Großmutter sein. Während Zara noch Beweise für die Verwandtschaft sucht und nach einer Möglichkeit, Estland zu verlassen, fühlt sich Aliide von der jungen Frau bedroht: Zu oft musste sie Leib und Seele, Hab und Gut vor Eindringlingen schützen. In Rückblenden entsteht das immer schärfer werdende Bild einer Familientragödie, die fast fünfzig Jahre zuvor, als Estland von den Russen besetzt wurde, ihren Höhepunkt fand.


    BEMERKUNGEN:
    Was hier und anderswo notgedrungen chronologisch erzählt wird, entfächert sich bei Oksanen meisterhaft und langsam durch Sprünge in die verschiedensten Zeitebenen, von den 30iger Jahren angefangen bis eben 1992, insofern umspannt der Roman an die sechs Jahrzehnte nicht nur familiärer und personeller Geschichte, sondern auch ihrer Einbettung in die „große Geschichte“. Meines Erachtens geht es hier also nicht nur um einen Frauenroman, sondern um eine Abrechnung mit verschiedensten Formen der Kollaboration, der Feigheit, des Leides, der Eifersucht. Und wie unausweichlich diese Ebenen menschlichen Handelns in diktatorialen Umständen auswuchern und Konsequenzen hat. Kein Wunder, wenn solch ein Buch dann nicht nur als gute Unterhaltungsliteratur aufgefasst wurde, sondern von Betroffenen (in Estland) auch als Möglichkeit, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.


    Das Hin- und Herspringen auf der Zeitleiste erfordert eine gewisse Leseanstrengung, doch dem Leser wird geholfen: jedes Kapitel wird überschrieben vom erzählten Jahr. Auch befindet sich im Anhang eine Chronologie zur Geschichte Estlands. In wohl jedem Kapitel erlesen wir uns eine Information, die das Bild auf die Geschichte der Hauptdarsteller verändert. Somit liest sich die Geschichte dieser beiden Frauen, Aliide und Zara, wie ein Kriminalroman. Man ist erschüttert über erlittene Gewalt, doch – was Aliide anbetrifft – auch von angetaner Gewalt aus Eifersucht.


    Ein fesselndes Buch, das hier vielen gefallen könnte!
    4ratten


    ZUR AUTORIN:
    Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman, "Fegefeuer", war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste, verkaufte sich in Finnland so gut wie "Harry Potter" und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Finlandia-Preis sowie dem Literaturpreis des Nordischen Rates. Sofi Oksanen lebt in Helsinki.

    Gruß, tom leo<br /><br />Lese gerade: <br />Léonid Andreïev - Le gouffre<br />Franz Kafka - Brief an den Vater<br />Ludmila Ulitzkaja - Sonjetschka

  • Anders, als im Klappentext suggeriert, wo steht «Egal, welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen.» Aliide Truu war zwar definitiv ein Opfer, das hatte aber nichts damit zu tun, dass sie eine Frau ist und es entschuldigt auch nicht, dass sie später zur Täterin wurde. Eigentlich ist sie ein Paradebeispiel dafür, wie durchtrieben und gemein gerade Frauen zwecks Erreichung eigener Ziele sein können. Das sollte man dem Klappentextschreiber mal sagen.


    In diesem Punkt stimme ich Dir zu. Es ist doch sehr verstörend Frauen hier nur als Opfer des jeweiligen Systems sehen zu wollen. Insbesondere Aliide ist zugleich auch Täterin oder auch Mittäterin. In ihrer Opferrolle zeigt sie auch Stärke aber nicht aus reiner Nächstenliebe sondern aus kalter eigennütziger Berechnung. Ich kann ihr gegenüber nicht wirklich Mitleid empfinden, würde sogar eher von Strafe sprechen auch wenn das sehr herzlos klingt.


    Zara vermag schon eher als echtes Opfer ihrer Zeit gelten, wobei sie sich wohl auch durch ihre Naivität in diese Rolle gedrängt hat.



    Sprache: Ja, Oksanen kann schreiben, sie hat wirklich erzählerisches Talent. Allerdings übertreibt sies für meinen Geschmack (wie viele andere Literaten auch), indem sie ums Töten irgendwelche schwer bis gar nicht verständlichen Metaphern einbauen muss: «Aliide hatte die Angst müde in die Ecke geklatscht wie eine hinkende Fliege.» Wieso wie eine hinkende Fliege? Was ist dieser Zusatz anderes als überflüssiges Gewäsch? Ein Punkt nach geklatscht und gut ist. Glücklicherweise hält sich Geschwurbel dieser Art in Grenzen, aber mit sowas kann man mich ärgern.


    Ich habe das Buch nur in englischer Sprache gelesen. Diese kommt ohne Geschwurbel aus und auf mich wirkt das Buch eher sehr unpoetisch und nüchtern, manchmal in dem Erzählten sogar sehr drastisch.


    Insgesamt finde ich die Komplexität des Erzählten sehr faszinierend. Die Geschichte ist nicht chronologisch aufgebaut und entfaltet sich erst, wenn man die einzelnen Teile mosaikartig zusammensetzt. Am Ende offenbart sich dadurch eine Familientragödie basierend aus Schuld und den Widrigkeiten der Zeit speziell der politischen Systeme nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
    Die Sprache habe ich durch das Englische eher als schnörkellos empfunden, so dass das eigentlich Erzählte wertfrei bleibt. So sind die Empfindungen für mich als Leser für die einzelnen Charaktere ein Wechselbad aus Sympathie und Abneigung. Was bleibt ist aber auch Verstehen für das Warum, denn der Mensch ist nun mal in seinem Fühlen und Handeln fehlbar.


    Von mir gibt es letztendlich für dieses Buch 3ratten :marypipeshalbeprivatmaus: