Peter Englund - Schönheit und Schrecken [1. Weltkrieg]

Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 3.029 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Peter Englund - Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen. Rowohlt Verlag. 704 Seiten.


    Kaufen* bei

    Amazon
    Bücher.de
    Buch24.de

    * Werbe/Affiliate-Links


    Der Erste Weltkrieg wird im Schulunterricht verglichen mit dem Zweiten Weltkrieg etwas stiefmütterlich behandelt. Das Buch von Peter Englund, einen schwedischen Professor für historische Narratologie und Mitglied des Literaturnobelkomitees, zeigt, dass dies völlig zu Unrecht geschieht. Anhand von 19 Personen erzählt er seine Geschichte des 1. Weltkrieges. Seine Personen stammen aus allen Ländern dieser Erde und so wird deutlich, dass es sich hier nicht nur um einen Krieg der Deutschen handelt. Das 12jährige Schulmädchen, welches den gesamten Krieg in ihrem Heimatort erlebt, kommt ebenso zu Wort wie ein 20jähriger deutscher Artillerist, der an der Front kämpft oder ein deutscher 22jähriger Matrose, der 1918 an den Aufständen in Wilhelmshaven dabei ist. Die anderen 16 Personen sind jedoch nicht deutsch, sie stammen aus Ungarn, Russland, Dänemark, Frankreich, England, Südamerika, den USA, Belgien, Australien, Italien und Neuseeland. Die Krankenschwester ist ebenso dabei wie der Feldchirurg, der Kampfflieger ebenso wie der Gebirgsjäger. Und Infanteristen aller Armeen. Ein französischer 45jähriger Beamter beobachtet den Krieg aus dem zumeist sicheren Paris.


    Englund greift nun jeweils eine Person heraus und erzählt in eigenen Worten die Ereignisse des Tages. Das liest sich spannend und fast wie in einem Roman. Gelegentlich zitiert er wörtlich aus dem Tagebuch dieser Person. Und so werden Tag für Tag ausgewählte persönliche Ereignisse dargestellt. Die Erzählung beruht auf Dokumenten unterschiedlichster Art, die die Personen hinterlassen haben. Leider klärt der Anhang über diese Quellen nicht auf. Von den 19 Personen „werden zwei fallen, zwei kommen in Kriegsgefangenschaft, zwei werden als Helden gefeiert, zwei enden als körperliche Wracks“ – so das Vorwort. Etliche heißen den Krieg willkommen, die Stimmung im Volk und unter den Soldaten, darunter nicht wenige Freiwillige, ist recht euphorisch. Das ändert sich im Laufe des Krieges, so dass einer von den 19 Personen in einer Nervenheilanstalt landet.


    Große Politik wird man aus diesem Buch nicht entnehmen können, auch wenn jedem Jahr eine Zeittafel mit den wichtigsten Ereignissen vorangestellt ist. Es sind bewegende persönliche Geschichten, so viele, dass ich gar nicht weiß, welche ich hier als Beispiel zitieren soll. In diesem unmenschlichen Krieg zeigt sich die Menschlichkeit manchmal an ganz kleinen Dingen, der italienische Gebirgsjäger Paola Monelli war tagelangem Beschuss an der Front ausgesetzt, wenn „die feindliche Artillerie eine Pause einlegte, hat er nach Hoffnung verheißenden Zeichen gesucht, in dem er aufs Geratewohl seinen Taschen-Dante aufschlug. Und er hat überlebt.“


    Der amerikanische Feldchirurg Cushing, der sich ein besonderes Verfahren zur Entfernung von Granatsplittern aus dem Kopf entwickelt hat, er benutzt dazu einen starken Magneten, besucht eines Tages ein anderes Lazarett, in dem es zahlreiche Kranke gibt, die ihre Hände nicht mehr bewegen können, obwohl äußerlich keine oder nur eine kleinere Verletzung zu erkennen ist. Die Hände und Arme sind steif und merkwürdig verdreht. Die Psyche spielt verrückt und das Unterbewusstsein weiß, dass man mit dieser Behinderung nicht zurück an die Front geschickt wird. Einige von ihnen werden geheilt, das Schicksal anderer bleibt offen.


    Viele interessante Zusatzinformationen sind in einen Fußnoten-Anhang ausgelagert. Das wäre eigentlich nicht nötig gewesen, man hätte das auch in den Haupttext einarbeiten können. So erfährt man, dass so ein Krieg vor allem ein logistisches Problem ist. Man muss für Nachschub an Nahrung, Munition und Soldaten sorgen, dafür benötigt man funktionierende Eisenbahnlinien. Und man muss vor allem Nachrichten übermitteln. Funkgeräte waren seinerzeit noch zu sperrig, Telefonleitungen standen zur Verfügung, mussten aber in Feindesland erst metertief eingegraben werden. Hunde und Katzen waren nicht brauchbar, da sie bei Artilleriefeuer verrückt spielen. Brieftauben spielten daher eine wichtige Rolle, die deutsche Armee hat 300.000 davon eingesetzt. Auch auf menschliche Melder, in einem Team aus zwei Personen eingesetzt, damit zumindest einer durchkommt, wurde zurückgegriffen. Auch Adolf Hitler fungierte als Melder und so erwarb er hier „ein konkretes, wenn auch begrenztes Wissen über militärische Angelegenheiten, mit dem er später diverse Generäle übertrumpfen konnte, deren Erfahrung eher der Abstraktionswelt der Stabsstellen entsprang.“


    Nach jedem Jahr fügt Englund eine Reihe von Fotos hinzu, so dass auch die meisten der 19 Personen einmal abgebildet sind. Zahlreiche Besprechungen in den großen Zeitungen NZZ, ZEIT, FAZ etc. zitieren weitere Einzelstellen.


    Ein bewegendes Buch, dem man viele Leser wünscht


    5ratten


    Gruß, Thomas

    Einmal editiert, zuletzt von Klassikfreund ()

  • Auch wenn die Rezension schon länger eingestellt ist: vielen Dank dafür! Das Buch ist sofort auf meine Liste gewandert.

  • Der schwedische Historiker Peter Englund nähert sich in diesem Buch dem 1. Weltkrieg auf ungewöhnliche Art: Anhand von Selbstzeugnissen schildert er 19 Einzelschicksale, die viele Aspekte des Krieges widerspiegeln - auch und besonders solche, die sonst eher wenig im Fokus stehen.


    Natürlich nimmt der Kampf in den Schützengräben an der Westfront richtigerweise einen wichtigen Platz ein, doch genauso verleiht Englund einer australischen Krankenwagenfahrerin im Dienste der serbischen Armee eine Stimme, einem italienischen Gebirgsjäger, einem ungarischen Kavalleristen, einer englischen Krankenschwester in Russland sowie dem US-Militärchirurgen Harvey Cushing, der der Bekannteste unter den 19 ausgewählten Personen sein dürfte. Es kommen aber auch Menschen zu Wort, die den Krieg aus anderer, ziviler Perspektive erlebten, wie eine deutsche Schülerin oder ein französischer Beamter.


    Dabei geht er chronologisch zu Werke und schildert jeweils kurze Episoden aus Sicht der Einzelpersonen. Das geht sehr unter die Haut, vor allem, wenn man weiß, dass nicht alle 19 Menschen das Ende des Krieges erleben werden. Die vielen Facetten der Gewalt und Grausamkeit erschüttern, doch auch die Haltung in der Heimat erschreckt in ihrem rigiden Nationalismus (auf allen Seiten) und den krassen Sprachregelungen - so war es verpönt und mancherorts gar verboten, das Wort "Frieden" in den Mund zu nehmen. Ein Patriot hatte vom "Sieg" zu reden.


    Das Buch liest sich fast romanhaft; mitreißend und gleichzeitig erschreckend ist es eine deutliche Mahnung, wie schnell es auf einer Welle der nationalen Meinung zur Unterstützung für einen Krieg kommen kann. Darüber hinaus öffnet es eindrucksvoll die Augen für die vielen verschiedenen Schauplätze, die selbst am Thema Interessierten womöglich gar nicht alle bewusst waren. Es war tatsächlich ein Welt-Krieg.


    Ergänzt wird der Fließtext durch zahlreiche Fotos, die die "Protagonisten" zeigen und dadurch zusätzliche Nähe schaffen, und durch viele Verweise auf den umfangreichen Anhang - hier hätte ich mir gewünscht, man hätte mit Fußnoten gearbeitet, um ständiges Hin- und Herblättern zu vermeiden.


    4ratten+ :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen