Stephan Thome - Fliehkräfte

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  • Mit Stephan Thomes Roman “Fliehkräfte”, welcher diesen Monat erschienen ist, gelingt es dem Suhrkamp Verlag ein drittes Buch in die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 zu bringen. Die Geschichte um den Philosophieprofessor Hartmut Hainbach skizziert in erster Linie ein Erlebnis, was in der Romanwelt mit Sicherheit nicht neu ist, dem Autor gelingt es jedoch zweierlei Reisen des Protagonisten in einer einzigen zu verbinden.


    Wenn man in seinem Leben alles erreicht hat und plötzlich vor einer großen Entscheidung steht, fällt diese einem sicherlich nicht leicht. Hartmut Hainbach ist zwar verheiratet, führt jedoch seit einiger Zeit eine immer distanzierter werdende Fernbeziehung zu seiner Frau – er doziert in Bonn, sie schauspielert in Berlin. Mit seiner Stelle als Dozent ist er eigentlich sehr zufrieden, seine Tochter Philippa studiert in Hamburg und absolviert derzeit einen Sprachkurs im spanischen Santiago de Compostela. Hartmut steht vor der Wahl – soll er das gemeinsame Haus verkaufen und seiner Frau Maria zuliebe einen schlechter bezahlten Job in Berlin annehmen oder sie lieber doch verlassen? Um seine Entscheidung zu treffen reist er von Bonn über Paris bis in die spanische Pilgerstätte in der seine Tochter derzeit lebt, um sich nicht nur über seine Entscheidung klar zu werden, sondern auch sein nicht ganz perfektes Leben noch einmal Revue passieren zu lassen.


    Die eigentliche Reise dient Hartmut im Prinzip nur als Mittel zum Zweck, denn gerade dadurch, dass er Personen und Orte aus vergangenen Zeiten wiedertrifft fühlt er sich an seine Erlebnisse zurückerinnert, ganz gleich ob es sich um die mit seiner Frau handelt, die Bekanntschaft eines alten Freundes der nun in Frankreich lebt oder die eigene französische Exfreundin die er in Amerika kennengelernt hat handelt. Gerade dadurch, dass die Geschichte um den Philosophen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her pendelt, liegt die volle Konzentration des Lesers bei Hartmut, der uns in seiner Gedankenwelt beinahe sein gesamtes Leben präsentiert, womit sich auch ganz klar immer die Frage stellt ob er seine portugiesische Ehefrau noch liebt oder noch lieben kann, und vor allem ob er sich für ein weiteres gemeinsames Leben für sie entscheiden kann. Im Grunde geht es immer um die Familie, und so ist es kein Wunder, dass Hartmut sich für eine spontane Reise zu seiner Tochter entscheidet – die ebenfalls mit einer Überraschung auf ihn wartet.


    Der Protagonist dieses Romans hat vieles mit dem Autor gemeinsam, denn beide haben Philosophie in Berlin studiert und stammen aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf, Thome weiß also ganz genau wovon er schreibt, denn beide Orte spielen auch im Roman eine kleine Rolle. Mit seinem aktuellen Werk “Fliehkräfte” ist es der zweite Versuch den Deutschen Buchpreis zu gewinnen, denn mit seinem Roman “Grenzgang” war er bereits 2009 in der Shortlist vertreten. Gute Voraussetzungen, denn sein neuer Roman gefällt wirklich ausgesprochen gut, auch wenn die Handlung einer Reise in die Vergangenheit nicht gerade neu ist. Mit vielen Denkansätzen und Impressionen versehen liest sich “Fliehkräfte” wie eine würdige Hommage an das unvollkommene Leben, konstruiert mit einer Reise, ähnlich wie selbst Hemmingway sie in “Über den Fluss und durch die Wälder” konzipiert hat. Ob der Finalist Thome den Deutschen Buchpreis 2012 gewinnt, wird sich am 8. Oktober herausstellen, man darf also gespannt sein.


    5ratten

  • Das Buch wurde nun in der ZEIT besprochen. Dort nach viel Lob in FAZ, NZZ und Co. der erste große Verriss. Ich verlinke den Artikel hier sobald online verfügbar.


    Gruß, Thomas

  • Den Verriss in der Zeit habe ich auch gelesen - du meinst sicher diesen: http://www.zeit.de/2012/40/Stephan-Thome-Fliehkraefte, @klassikfreund.


    Mich hat der Roman allerdings gut unterhalten:

    Zitat

    "Man ist nie zu alt, um sich zu ändern, oder? Ich meine echte, grundsätzliche Veränderung."
    "Nein, theoretisch nicht." (S. 39)


    Hartmut Hainbach ist Philosophie-Professor an der Bonner Universität und befindet sich kurz vor der Pensionierung. Er kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Mit seiner aus Portugal stammenden Frau Maria ist er seit 20 Jahren glücklich verheiratet, gemeinsam haben sie eine Tochter, Philippa.
    Nach dem Auszug von Philippa, die nun in Santiago de Compostela studiert, ist Maria aus beruflichen Gründen nach Berlin gezogen und arbeitet dort am Theater. Die Ehe wird zur Wochenendehe.
    Von dem Berliner Verleger Peter Karow wird Hartmut Hainbach ein Angebot unterbreitet. Nun steht Hainbach vor einer Richtungsentscheidung, ob er die sichere, gut bezahlte Professur aufgeben soll und einen neuen, riskanten Schritt wagen soll.
    Hainbach fällt diese schwere Entscheidung nicht sofort, begibt sich mit dem Auto Richtung Süden nach Portugal, um seine Tochter zu besuchen.
    Unterwegs macht er Zwischenstopp bei einer ehemaligen Geliebten, nimmt eine Anhalterin mit, reist weiter an die französische Atlantikküste, um dort einen ehemaligen Kollegen zu besuchen.
    Es ist nicht nur eine Reise quer durch Europa, sondern auch eine durch Hainbachs Vergangenheit. Bei den Besuchen muss Hainbach feststellen, dass seine Vorstellung von dem Anderen falsch war. Seine Beziehung zu Philippa ist konfliktbeladen und hält zudem noch eine für ihn nicht ganz angenehme Überraschung parat, als er bei ihr ankommt.


    Sehr geschickt wechselt Stephan Thome bei dem Roman die Zeitebenen, springt zwischen Vergangenheit/Hainbachs Erinnerungen und Gegenwart hin und her.
    Mit dem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman "Fliehkräfte" ist ihm ein realistisch anmutender, tiefgründiger und fesselnder Roman gelungen. Vielleicht sollte man noch die gut gelungenen Dialoge erwähnen.


    5ratten

    Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seinen Boden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken.<br />(Hermann Hesse)

  • Mir hat es sehr gut gefallen (das Ende ist nicht sehr befriedigend, aber so ist es halt).
    Ein Buch über die Fliehkräfte im Leben und in einer Beziehung, sehr treffender Titel.
    Bin sehr gespannt auf Gegenspiel, das ich jetzt gleich im Anschluss lese.

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