Sebastian Barry - Ein verborgenes Leben

Es gibt 13 Antworten in diesem Thema, welches 2.920 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

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    Roseanne McNulty ist eine der ältesten Bewohnerinnen der "Irrenanstalt" von Roscommon. Wie alt sie genau ist, weiß sie selbst nicht mehr, so ungefähr hundert, schätzt man.


    Warum Roseanne seit Jahrzehnten in dieser Einrichtung ist, weiß man ebenfalls nicht so genau. Dr. William Grene beginnt immer mehr daran zu zweifeln, dass mit der alten Dame etwas nicht stimmt, und stöbert in den Akten von einst, doch die erweisen sich als nicht besonders ergiebig. Offenbar genügte damals das Wort eines Priesters, um jemand einweisen zu lassen, ohne dass noch große Fragen gestellt wurden.


    Was Grene nicht weiß, ist, dass Roseanne selbst begonnen hat, ihre Erinnerungen aufzuzeichnen, Erinnerungen an ihren geliebten Vater und ihre labile Mutter, an die schicksalhaften Jahre des irischen Freiheitskampfes, der auch ihr eigenes Leben unwiderruflich verändert und geprägt hat, und an die musikalischen Brüder McNulty, von denen sie einen, Tom, geheiratet hat.


    Zuallererst fiel mir an diesem Buch die wunderschöne, zart poetische Sprache ins Auge, die selbst in der Übersetzung noch ihre Wirkung zeigt. Sebastian Barry schafft mit teils eher ungewöhnlichen Metaphern eindringliche Bilder und ist ein ausgezeichneter Beobachter des Lebens in all seinen Facetten.


    Er zeigt uns Roseannes Geschichte aus zwei Blickwinkeln - ihrem eigenen und dem von Dr. Grene, der irgendwie fasziniert ist von seiner Patientin und das Gefühl hat, dass man ihr vor all den Jahren schweres Unrecht zugefügt hat. Grene selbst hat auch sein "Päckchen" im Leben zu tragen, zwischen ihm und seiner Frau steht es nicht zum Besten. Ihr scheint es nicht gut zu gehen, es wird aber nicht ausgesprochen, ob sie krank oder depressiv ist oder ob sich die beiden einfach mit zunehmendem Alter auseinandergelebt haben. Seine Verlorenheit wird oft zwischen den Zeilen spürbar.


    Auch Roseanne ist häufig einsam, spätestens nach dem Verlust ihres Vaters hat sie niemanden mehr, dem sie vertraut - und dem sie sich anvertrauen könnte. Dabei hätte sie so jemanden bitter nötig, wird sie doch immer wieder enttäuscht, missverstanden, alleingelassen, gerät immer wieder an verbohrte, verblendete, hartherzige Menschen. Und doch ist die Frau, die hier auf ihr Leben zurückblickt, nicht verbittert, nur vielleicht ein wenig resigniert.


    Was von Roseannes Erinnerungen nun wahr ist und was nicht, bleibt im dunkeln, man kann sich als Leser aussuchen, was man glauben will. Deutlich wird vor allem eins: wie viel Leid und Schmerz die Grabenkämpfe zwischen den Konfessionen und die blinde Ehrfurcht vor der Kirche und ihren Vertretern über viele Menschen gebracht haben und was für schlimme Blüten Intoleranz und Schubladendenken treiben können.


    Dass sich ein paar Entwicklungen ergeben, die vielleicht ein bisschen zu gut ins Bild passen, fand ich hier verzeihlich und habe das Buch trotz des deprimierenden Themas und der vielen Grausamkeiten - vor allem seelischer Natur - gerne gelesen.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





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    Ich weiß nicht viel mehr über das Buch, als was auf der Rückseite geschrieben steht: "Irland im 20. Jahrhundert. Familienintrigen, Bürgerkrieg und eine große Liebe - Roseanne McNultys Geschichte ist unvergesslich." Vom Inhalt möchte ich mich überraschen lassen.


    Auf den ersten etwa einhundert Seiten hatte ich Probleme, in die Handlung hineinzukommen. Stilistisch ist das Buch ein Genuss; schon anhand der Ausdrucksweise erkennt man, dass es keine kitschige Liebesgeschichte werden kann. Gleichzeitig erfordert es Geduld, denn die Geschehnisse schreiten langsam voran. Roseanne nimmt sich Zeit, ihre Geschichte zu erzählen. Keine Spur von einer alten Frau, die das Gefühl hat, sich beeilen zu müssen, weil ihr die Zeit unter den Fingern zerrinnt.


    Da sitzt sie also im Irrenhaus und schreibt ihr über ihr Leben, das in ärmlichen Verhältnissen in einer irischen Kleinstadt beginnt. Ihr Vater wird vom Totengräber zum Rattenfänger degradiert, ihre Mutter ist psychisch äußerst labil. Auch sie umschwebt ein Geheimnis. Als Roseanne sechzehn ist, stirbt ihr Vater, und der örtliche Priester möchte sie schnellstens unter die Haube bringen, um sie zu "schützen".


    Abwechselnd mit Roseannes Bericht erzählt der verantwortliche Arzt Dr. Grene, der sie seit Jahrzehnten betreut, seine eigene Geschichte im Rahmen seiner Tätigkeit in der Anstalt. Wegen des Umzugs in ein neues, kleineres Gebäude können nur wenige Patienten mitgenommen werden, und er möchte anhand einer Befragung seiner Schützlinge herausfinden, welche das sein werden. Er schreibt auch von privaten Dingen, und ich glaube, auch er hat ein Schicksal.

    Einmal editiert, zuletzt von Doris ()


  • Stilistisch ist das Buch ein Genuss; schon anhand der Ausdrucksweise erkennt man, dass es keine kitschige Liebesgeschichte werden kann.


    Der Stil hat mir auch sehr, sehr gut gefallen. Ich bin gespannt, was Du am Ende sagst. Es ist kein ganz einfaches Buch, hat mich aber sehr beeindruckt.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich freue mich, dass ich euch auf den Geschmack gebracht habe. Leider kann ich im Moment nicht viel Neues berichten, weil ich nur wenig zum Lesen komme.


    Inzwischen bin ich im zweiten Teil angelangt. Die Erzählung nimmt etwas an Fahrt auf, es geschieht auch mehr. Wenn ich richtig gerechnet habe, sitzt Roseanne bereits seit etwa 60 Jahren in dem Haus. Unvorstellbar! Sie spricht zwar von ihrem Mann und einem Sohn, aber viele Einzelheiten hat sie bislang noch nicht preisgegeben. Ihr Arzt Dr. Grene hat eine Akte über sie vorliegen, die er demnächst lesen möchte. Jetzt, da er sich mehr mit Roseanne beschäftigt, ist ihm klar geworden, dass er kaum etwas über sie weiß, obwohl er sie seit 40 Jahren kennt. Die beiden wechseln sich immer noch mit ihren Berichten ab. So werde ich wahrscheinlich Roseannes Schicksal aus zweierlei Blickwinkeln kennen lernen. Ich bin schon gespannt, inwieweit sich die Berichte decken und was die Ärzte sich zusammengereimt haben.

  • Roseanne ist jetzt mitten in der Erzählung ihrer Vergangenheit, das Sinnieren über ihre Gegenwart in der Psychiatrie ist in den Hintergrund getreten. Ihr Arzt bewegt sich ebenfalls in ihrer Vergangenheit, um sie besser kennen zu lernen. Für ihn ist es im Augenblick eine Art Flucht aus seinem eigenen Leben, denn er musste gerade einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen.


    Roseannes Kapitel sind mit "Roseannes Selbstzeugnis" betitelt. Ein seltsamer Ausdruck. Ich bin neugierig, ob aus ihren Erzählungen eine Erklärung für dieses Wort hervorgeht.

  • Es wurde im letzten Drittel des Buches so spannend, dass ich den Rest in einem Rutsch gelesen habe. Nicht, dass viel passiert wäre; es löst sich ähnlich ruhig auf, wie die ganze Geschichte geschrieben ist, aber es war doch spannend zu lesen, welche Ereignisse dazu führten, dass Roseanne eingewiesen wurde. Eine Überraschung, auf die ich überhaupt nicht gefasst war, gab es auch noch. Um nicht zu viel zu verraten...



    Tja. Ich frage mich, wie das im echten Leben verlaufen wäre. Immerhin hat Roseanne letzten Endes ihren Frieden gefunden.


    Eine Rezi folgt.

  • If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Noch ein kurzes Fazit zum Schluss. Stilistisch hat das Buch meinen Geschmack gut getroffen. Zum Glück, denn anfangs hat mich die Geschichte allein nicht überzeugt. Doch die Art, wie Roseanne erzählt, nahm mich gefangen. Ausdrucksstark, aber dennoch irgendwie zart, und mit der Ruhe eines sehr alten Menschen, der keinen Zeitdruck hat. Entsprechend langsam entwickelt sich die Handlung, deren wesentliche Punkte in der Vergangenheit spielen. Die Gegenwart bekommt erst spät noch Bedeutung.


    Roseanne möchte nicht mehr als eine Familie, bei der sie sich geborgen fühlt. Aber ihre soziale Herkunft, die politische Entwicklung und vor allem ein Priester, der seine Macht voll ausspielt, verhindern, dass sie ihr Glück findet. Obwohl es eigentlich keinen Kläger gibt, wird sie quasi verurteilt und abgeschoben. In ihrem "Selbstzeugnis" erzählt sie ganz unsentimental, fast sachlich und ohne Verbitterung. Das Bedeutsame des Erzählten steckt in der Tiefe und entfaltet sich nur langsam, vor allem, wenn man liest, wie lange sie in dieser Anstalt schon lebt. Es ist furchtbar, sich vorzustellen, dass es solche Schicksale wirklich gab - Menschen, die aufgrund solcher Entscheidungen aus dem Verkehr gezogen, eingesperrt und mehr oder weniger vergessen wurden, oder generell allein stehende Frauen mit einem Hintergrund wie bei Roseanne, die keine Unterstützung bekamen.


    4ratten

  • Ein verborgenes Leben führt die 100jährige Roseanne in ihrem Zimmer in der psychiatrischen Anstal tin der irischen Provinz, in der sie ihr halbes Leben verbracht hat. Angesichts der Tatsache, dass der Abriss des Gebäudes bevorsteht und er entscheiden muss, welche Patienten wohin verlegt oder entlassen werden sollen, verbringt der leitende Psychiater Dr. Grene das erste Mal Zeit mit seiner Patientin und stellt Nachforschungen zu ihrer Herkunft und dem Grund ihrer Einweisung an.


    Abwechselnd lässt der Autor Roseanne von ihrem früheren Leben erzählen, berichtet von ihrem Alltag in der Anstalt und lässt Dr. Grene zu Wort kommen, dessen Nachforschungen ihn von seinen eigenen, ziemlich überwältigenden Problemen ablenken. Roseannes Geschichte spielt größtenteils in ihrer Jugend und ihren ersten Jahren als Frau, zwischen den beiden Weltkriegen, in einem zerrissenen Land. Als Presbyterianerin gehört sie weder zur evangelischen noch zur katholischen Fraktion und wird eher misstrauisch beäugt. Dass sie selbst für ihre Ehe nicht den Glauben wechselt, ist einigen ein ganz besonderer Dorn im Auge.


    Über all ihren Erlebnissen, auch denen, die sie zu dem Zeitpunkt als glücklich empfand, liegt für den Leser ein Grauschleier. Sie wird für viele Jahrzehnte weggesperrt werden und auch wenn sie nicht "böse" oder völlig verrückt wirkt, neigt man doch dazu, ihr nicht vollständig zu vertrauen. Sie klingt sehr einfach und nicht immer geistig gesund und man fragt sich unwillkürlich, ob das wirklich nur eine Folge von Alter und jahrelangem Eingesperrtsein ist oder ob sie nicht doch damals schon psychische Probleme hatte und womöglich doch halbwegs zu Recht eingesperrt wurde. Sie wirkt nicht wie eine vollkommen vertrauenswürdige Quelle ihrer eigenen Geschichte, auch wenn die alternativen Berichte, die Dr. Grene schließlich ausgräbt, auf heutige Leser zweifelhaft wirken und ihre Brisanz und ihr Gültigkeitsanspruch hauptsächlich auf der damaligen institutionellen Macht der Kirche aufbauen. Der Gedanke, dass ähnliche Schicksale sehr wahrscheinlich durchaus existiert haben ist schrecklich.


    Das Ende enthält einige zu abgerundeter Bestandteile, da passt zu viel plötzlich zusammen, um mich wirklich zufrieden zu stellen, auch wenn meine Vermutungen irgendwann in diese Richtung gingen.


    Auch dank seiner sprachlichen Qualität ist "Ein verborgenes Leben" ein beeindruckendes und bedrückendes Buch voll stiller Würde.


    4ratten

  • Meine Meinung

    Ein verborgenes Leben zeigt, wie die eigenen Erinnerungen trügen können. Gerade dann, wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft sind, hat Roseanne eine eigene Sicht auf die Dinge. Das ist mir anfangs nicht aufgefallen, erst als Dr. Grene sich auch mit ihrer Vergangenheit auseiander gesetzt hat.


    Anhand von Roseannes Geschichte übt der Autor leise, aber eindringliche Kritik. Es war leicht, Roseanne in die Rolle der gefallenen Frau zu drängen. Das und wie sie weiter behandelt wurde, hat mich erschüttert. Auch wieder einmal, welche Rolle die Kirche in Form des Priesters dabei spielte.

    Das Ende enthält einige zu abgerundeter Bestandteile, da passt zu viel plötzlich zusammen, um mich wirklich zufrieden zu stellen,

    Ich denke, dass ich weiß wovon du schreibst. Mir ging es ähnlich.

    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Ich denke, dass ich weiß wovon du schreibst. Mir ging es ähnlich.

    Mir auch - aber weil mir der Rest des Buches so gut gefallen hat, fand ich das verzeihlich.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen