Lisa O'Donnell - Bienensterben

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    Die fünfzehnjährige Marnie und ihre kleine Schwester Nelly haben gerade ihre toten Eltern im Garten vergraben. Niemand sonst weiß, dass sie da liegen. Und die Schwestern werden es niemandem sagen. Irgendwie müssen sie jetzt alleine über die Runden kommen, doch allzu viel Geld verdient Marnie als Gelegenheits-Dealerin nicht. So ist es ihnen ganz recht, als ihr alter Nachbar Lennie, den alle fälschlicherweise für einen Perversling halten, sich plötzlich für sie interessiert. Lennie merkt bald, dass die Mädchen Hilfe brauchen. Er nimmt sich ihrer an und gibt ihnen so etwas wie ein Zuhause. Als jedoch die Leute beginnen, Fragen zu stellen, zeigen sich erste Risse in Marnies und Nellys Lügengebäude, und es kommen erschütternde Details zum Vorschein, was ihre Lage nur noch komplizierter macht.


    Der Anfang des Buches ist ziemlich abstrus, aber er nimmt trotzdem sofort gefangen. Schließlich wird man nicht alle Tage Zeuge, wenn zwei Mädchen ihre Eltern im Garten verscharren. Es ist nicht die beste Gesellschaftsschicht, in der die beiden aufwachsen, sonst wäre das so nicht passiert. Die Eltern handeln mit Drogen und gehen keinem Beruf nach, die Kinder sind sich weitestgehend selbst überlassen. Marnie ist ein widerspenstiger Teenager, der keine Grenzen kennt, aber dennoch eine sehr begabte Schülerin. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Nelly ist ein seltsames Mädchen, überkorrekt, eloquent und weltfremd, anderen Menschen gegenüber misstrauisch und doch auf der Suche nach familiärer Geborgenheit. Marnie fühlt sich für sie verantwortlich und will alles versuchen, das Verschwinden der Eltern bis zu ihrem 16. Geburtstag zu vertuschen. Dann kann sie offiziell die Fürsorge über ihre Schwester übernehmen. Doch sie hat nicht geahnt, dass der Alltag mitunter nicht einfach zu bewältigen ist und bestimmte Personen zunehmend stutzig werden.


    Es gibt nur wenige Personen, die eine wichtige Rolle spielen, doch wie in einem shakespearschen Drama sorgen sie für einige Verwicklungen. Keiner von ihnen hat einen gesellschaftlich akzeptierten Hintergrund, alle scheinen von vornherein abgeurteilt und in bestimmte Schubladen gesteckt zu sein. Doch bis auf eine oder zwei Ausnahmen sind sie alle Opfer der Umstände und machen eigentlich nur mit ihren persönlichen Mitteln das Beste aus ihrer jeweiligen Misere. Im Grunde suchen sie alle nur nach Beständigkeit und Sicherheit. Es ist nicht schwer, für jeden einzelnen von ihnen Verständnis und Sympathie zu entwickeln.


    Trotz der bestürzenden Handlung entbehrt die Geschichte nicht einer leisen Komik. Nach dem ereignisreichen Anfang spielt sich alles vorübergehend auf einem relativ ruhigen Niveau ein, doch mit dem unerwarteten Auftauchen eines Familienmitglieds schlagen die Ereignisse eine unerwünschte Richtung ein und wirbeln einem Sog gleich immer schneller einem nervenaufreibenden Höhepunkt entgegen. Entsprechend schwer ist es, mit dem Lesen aufzuhören.


    Lisa O'Donnell lässt die Mädchen und später auch Lennie in kurzen Kapiteln selbst zu Wort kommen. Jeder spricht seine eigene Sprache, was die Personen noch authentischer erscheinen lässt und bestimmte Aktionen von verschiedenen Seiten beschreibt, wodurch erkenntlich wird, wie unterschiedlich manches wahrgenommen wird oder beabsichtigt ist. Die Kürze der Abschnitte sorgt für Tempo, und das mehr oder weniger durchgehend.


    Bienensterben ist der erste Roman der Autorin. Sie erhielt dafür 2013 den Commonwealth Writers' Prize. Ich wünsche mir mehr solche Bücher von ihr.


    5ratten

  • Ich hab "Bienensterben" Anfang des Jahres gelesen, aber versäumt meine Meinung dazu zu schreiben. Jetzt ist die Lektüre doch schon wieder eine Weile her. Kann aber Deine Meinung zum Buch absolut unterschreiben.
    Zu nächst hab ich ja nicht genau gewusst was ich davon halten soll, aber nach und nach konnte ich mich für die Handlung immer mehr begeistern. Vor allem diese Mischung aus eigentlich sehr tragischen Ereignissen und der Art und Weise wie die Mädchen damit umgehen. :err:


  • Zu nächst hab ich ja nicht genau gewusst was ich davon halten soll...


    Ja, der Anfang ist wirklich makaber. Auch bei anderen Vorkommnissen musste ich manchmal schlucken, aber in manchen Familien ist das blanke Realität. Ich bin froh, dass ich nicht in so eine Gesellschaftsschicht reingeboren wurde. Viele bekommen nie die Chance, da herauszukommen.

  • Das klingt nach der Art "schräg, aber gut", die ich mag. Danke für die schöne Rezi!

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • (K)eine Kindheit

    Inhalt:
    Glasgow, Heiligabend. Die 15-jährige Marnie und ihre 12-jährige Schwester Nelly begraben im Garten ihre Eltern, als sie den Leichengestank im Haus nicht mehr aushalten. Den Tod der beiden wollen sie geheim halten, damit sie nicht ins Heim gesteckt oder gar getrennt werden. Mehr schlecht als recht hangeln sie sich durch den Alltag, bis sich der als Perverser verschriene Nachbar Lennie um die beiden kümmert und ihnen eine Art Zuhause gibt. Wenn nur sein Hund nicht immer in den Blumenbeeten wühlen würde …


    Meine Meinung:
    Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt: Marnie, Nelly und Lennie, die abwechselnd in der Ich-Form berichten. Die einzelnen Kapitel sind sehr kurz, teilweise überschneiden sie sich, sodass eine Szene aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wird und die zum Teil unterschiedliche Wahrnehmung der drei Protagonisten deutlich wird. Im Verlauf des Buches kommen dabei immer mehr schockierende Ereignisse zur Sprache.


    Ich mochte alle drei Hauptcharaktere auf ihre Art. Man lernt sie als Leser recht gut kennen und wünscht sich, dass das Ganze mit einem Happyend enden wird. Nach allem, was sie schon mitmachen mussten, hätte ich ihnen das von Herzen gegönnt. Denn auch wenn Marnie Drogen vertickt, um zu überleben, hat sie doch das Herz am rechten Fleck, wenn es um ihre kleine Schwester und Lennie geht. Ebenso sorgt sich Nelly um Marnie und Lennie, und Lennie sorgt sich um die beiden Mädchen.


    Das Buch hat mich nicht so sehr erschüttert, wie es dem Inhalt nach hätte sein müssen. Doch die Erzählweise ist relativ emotionsarm, sodass man eine gewisse Distanz wahren kann. Es ist aber sehr kurzweilig zu lesen, schon allein aufgrund des schwarzen Humors, der immer wieder durchbricht, und der verschiedenen Sprechweisen der erzählenden Personen. Während Nelly sich sehr gewählt ausdrückt, ist Marnies Sprache gossengerecht. Beides wirkt jedoch absolut authentisch.


    So bangt man mit den dreien, ob sie sich bis zu Marnies 16. Geburtstag durchhangeln können, denn in Schottland ist man mit 16 volljährig. Dann könnte Marnie sich ganz offiziell um ihre kleine Schwester kümmern. Doch stellen sich ihnen immer wieder neue Hindernisse in den Weg, die das Erreichen dieses Ziels erschweren.


    4ratten

  • Meine Meinung

    Ich habe selten eine Geschichte gelesen, bei der ich allen Protagonisten ein gutes Ende gewünscht habe.


    Auch als die Eltern von Marnie und Nellie tot sind, haben sie die Mädchen nicht verlassen. Nicht nur durch die räumliche Nähe, sondern auch die Probleme, die ihr Tod bringt. Da ist das Jugendamt noch das kleinere davon. Und auch was sie im Leben mit den Schwestern gemacht haben, wirkt noch weiter im Verhalten der Beiden. Sie sind verstört und kommen mit den Ereignissen nicht zurecht. Lennys Hilfe lehnen sie zunächst ab, weil sie in ihm nur das sehen, was der Rest der Siedlung in ihm sieht.


    Die unterschiedlichen Erzählperspektiven haben mir gefallen. Besonders Lennys und Marnies Sicht der Dinge war manchmal herrlich unterschiedlich und trotz des ernsten Themas ein lustiges Highlight. Bienensterben selbst ist für mich eines der Lesehighlights des Jahres.

    5ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Ich mochte schon "Die Geheimnisse der Welt" von der Autorin sehr. Das hier ist jetzt endgültig auf meinen Wunschzettel gewandert.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Weihnachten 2010 ist Marnies 15. Geburtstag - und der Tag, an dem sie und ihre jüngere Schwester Nelly ihre Eltern im Garten begraben (oder es zumindest versuchen).


    Die Bezeichnung "Eltern" hatten Izzy und Eugene gar nicht wirklich verdient, findet Marnie, die viel zu früh lernen musste, für sich und Nelly zu sorgen. Dem Jugendamt ist die Familie nicht unbekannt. Ein Grund mehr, warum der Tod der Eltern nicht bekannt werden darf, denn dann würden die Mädchen mit Sicherheit im Heim landen und womöglich getrennt werden. Also legen sie selbst Hand an und versuchen sich mehr schlecht als recht durchzuschlagen.


    Lennie, der Nachbar der beiden, ist selbst ein Außenseiter; nachdem er mit einem minderjährigen Strichjungen erwischt wurde, gilt er als "Perverser". Was wirklich geschehen ist, scheint niemanden zu interessieren, weswegen er sich immer mehr zurückgezogen hat.


    Er beginnt zu ahnen, dass nebenan etwas nicht stimmt, nimmt Kontakt zu den Mädchen auf und versucht ihnen zu helfen, wobei er natürlich nicht die ganze Wahrheit kennt.


    Der Aufhänger des Romans, die im Garten verbuddelten toten Eltern, erinnert an Ian McEwans "Zementgarten". Inwiefern das Absicht ist, kann ich nicht beurteilen; mir hat "Bienensterben" unabhängig davon sehr gut gefallen.


    Man wird zu Beginn direkt und unvermittelt hineingeworfen in Marnies Welt und merkt sofort, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt und in ihrem kurzen Leben schon ziemlich viel erlebt und ertragen hat. Marnie ist eine Macherin, getrieben vom Mut der Verzweiflung und dem Wunsch, sich selbst und ihrer Schwester ein besseres Leben zu ermöglichen, auch wenn sie nicht so recht weiß, wie das funktionieren soll und dabei öfter mangels Alternativen auch Wege geht, die man besser nicht gehen sollte.


    Nelly ist das krasse Gegenteil ihrer Schwester, sie drückt sich schon fast altjüngferlich gewählt aus, kleidet sich eigentümlich und leidet unter den Wandlungen der Pubertät, sie tut sich schwer mit dem Erwachsenwerden und flüchtet sich in die Welt der Bücher.


    Lennie, die dritte Erzählstimme, stellt sich bald als einfühlsamer Mann heraus, der das Etikett des Perverslings zu Unrecht trägt, sehr unter einem persönlichen Verlust leidet und - ähnlich wie Nelly - hauptsächlich nicht auffallen möchte, doch aus Sorge um die Mädchen über sich hinauswachsen kann.


    Die drei sehr unterschiedlichen Perspektiven verbinden sich zu einem ungewöhnlichen Ganzen, das mir sehr gut gefallen hat. Ob man die Fassade im wirklichen Leben dergestalt hätte aufrechterhalten können, erschien mir manchmal etwas fraglich, aber die sehr unterschiedlichen Ansätze der Schwestern, mit der Situation umzugehen, fand ich sehr plausibel und habe regelrecht mitgefiebert, wie lange es ihnen gelingt, den Schein zu wahren - wohl wissend, dass das vermutlich nicht ewig gutgehen wird.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen