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Hanns-Josef Ortheil[br]Die Berlinreise[br]Erstveröffentlichung: 2014[br]Verlag: Luchterhand[br]gebundene Ausgabe[br]284 Seiten[br]16,99 € |
Ich lese gerade Die Berlinreise von Hanns-Josef Ortheil, einen Bericht bzw. ein Reisetagebuch, das der damals 12jährige Johannes, wie er vom Vater genannt wird, im Jahr 1964 nach einer Reise mit seinem Vater nach Berlin schrieb, und das Ortheil im vergangenen Jahr in Buchform veröffentlicht hat.
Ortheil, der bereits seit einiger Zeit autobiographische Schriften veröffentlicht (Die Erfindung des Lebens, Das Kind, das nicht fragte oder Die Moselreise), hat bereits sehr früh, nach eigenen Angaben im Alter von 7 Jahren, damit begonnen, seine Gedanken und Erlebnisse zu notieren und seither Notizbuch um Notizbuch zu füllen, eine Leidenschaft, die er bis heute beibehalten hat. Im Buch Die Erfindung des Lebens erklärt er, woran das liegt: Als Kind wächst er mit seiner Mutter, die nach einschneidenden Kriegserlebnissen und persönlichen Verlusten zu sprechen aufgehört hat, viele Jahre in stummem Zwiegespräch auf, und nach Jahren der Sprachlosigkeit beginnt er erst im Alter von sieben Jahren plötzlich zu sprechen, entdeckt dann aber umso heftiger die Welt der Wörter und versucht begierig, alles um sich herum in Worte zu fassen, zu beschreiben und aufzuschreiben.
In der Berlinreise schildert Ortheil, wie er mit seinem Vater eine Reise nach Berlin unternimmt, in die Stadt, in der Ortheils Eltern vor Beginn des Zweiten Weltkriegs geheiratet hatten und einige Jahre wohnten, bevor der Krieg sie zurück in die ursprüngliche Heimat im Westerwald trieb. In Berlin nun besucht der Vater nach vielen Jahren alte Freunde und Bekannte, besucht noch einmal die alten und vertrauten Orte. Und der Sohn begleitet und beobachtet seinen immer sentimentaler werdenden Vater dabei aufmerksam. Und notiert … notiert in einer Sprache, die für einen 12jährigen Jungen erstaunlich gewandt und sprachgewaltig ist. Was suray in ihrer Rezension zur Erfindung des Lebens schrieb, gilt auch hier:
Ortheil ist ein absoluter Sprachvirtuose mit einem sehr klaren Blick für das Detail und wunderbaren Situations-, Beziehungs und Landschaftsbeschreibungen. Selten haben mich Sätze so sehr berührt wie in diesem Buch.
Diese Sprachvirtuosität ist bei Ortheil offenbar bereits mit 12 Jahren erstaunlich ausgeprägt und facettenreich. Mit großer Beobachtungsgabe und in plastischen Bildern schildert er Orte, Personen und Erlebnisse auf seiner Reise, auch solche Dinge, die er zum ersten Mal kennenlernt. Wie zum Beispiel den Berliner Dialekt, der ihm als Kölner Junge fremd in den Ohren klingt. Aber da er sehr wissbegierig ist, lernt er schnell. So bringen ihm bereits auf der Hinfahrt im Zug einige Mitreisende seine ersten Berliner Worte bei: "Bulette" und "Stulle". Und mit dem Satz "Icke und meene Bulette, wir sind zwee wirklich nette" haut er jeden Erwachsenen um.
So muss ich beim Lesen jedenfalls sehr oft schmunzeln (auch wenn der junge Johannes das Wort "schmunzeln" ganz und gar nicht mag ).
Gelegentlich bricht aber auch - dem erwachsenen Ton, den er anschlägt, zum Trotz - immer wieder der erst 12jährige Junge in ihm hervor, etwa, wenn er schnell gelangweilt von den langen Gesprächen des Vaters mit alten Freunden ist und seine Gedanken zu schweifen beginnen. In diesen Momenten greift er in der Regel zum Notizbuch und schreibt auf, was ihn beschäftigt. Nicht umsonst hat das Buch einen Umfang von knapp 300 Seiten. Schulaufsätze anderer 12jähriger Kinder über ihre Ferienerlebnisse dürften knapper ausfallen.
Neben den Reiseschilderungen gibt es an vielen Stellen im Buch kleine Einschübe mit mehr oder weniger kurzen Erläuterungen und Ergänzungen, so z.B. über den Kurfürstendamm, die Berliner S-Bahn oder den heimatlichen Westerwald, und immer wieder über seine Lektüre von Winnetou III, ein Buch, das ihn offensichtlich sehr fesselt. Schließlich hat dessen Held Old Shatterhand den gleichen Beruf wie sein Vater, nämlich Landvermesser.
Nach knapp 100 Seiten kann ich schon jetzt sagen, dass ich hellauf begeistert bin, und wenn ein Buch das Prädikat "Wohlfühlbuch" verdient hat, dann dieses. :smile: