Diskussionsrunde: Anthony Doerr - Alles Licht, das wir nicht sehen

Es gibt 47 Antworten in diesem Thema, welches 11.093 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Gerade die kurzen Kapitel fand ich ausgesprochen angenehm. Normalerweise stören mich solche permanenten Unterbrechungen, aber genau hier bei dieser Geschichte und ihrem ganz speziellen Aufbau, war es einfach förderlich. So blieb man immer beiden Protagonisten nahe und ich hatte das Gefühl so viel besser verfolgen zu können, wie sie sich entwickeln und wie sich aufeinander zubewegen.
    Diese kurzen Kapitel waren keine Unterbrechung, sondern es trat genau das Gegenteil ein. Sie rundeten die beiden Geschichten zu einer einzigen ab.


  • Ich fand es so wahnsinnig berührend, dass diese Hör-Erlebnisse des kleinen Werner und seiner Schwester im Waisenhaus im Ruhrpott erst richtig den Funken haben überspringen lassen, ihm eine ganz neue Welt eröffnet haben und sein Interesse an den Naturwissenschaften geweckt haben.
    Im Nachhinein habe ich mich allerdings schon gefragt, wie sie als Kinder solch komplizierte Dinge auf Französisch verstehen konnten. :zwinker:


    Daran sieht man mal wieder, wie sehr man doch indirekt auf das Leben anderer Einfluss haben kann.


    Zum Verstehen der französichen Sprache würde ich meinen, dass Elena jeden Tag zumindest kurze Zeit mit ihnen Französisch gesprochen hat. Als sie die Radiosendungen hörten waren sie bereits einige Jahre bei ihr. Ich glaube Jutta war damals 5 oder 6 Jahre alt und sie kam bereits als Baby zu ihr. Dann waren diese Sendungen speziell für Kinder gedacht, daher wird Marie-Laures Großvater und Etienne sie dementsprechend aufgenommen haben. Und wenn dann immer noch etwas unklar blieb, konnten sie das mit Elena besprechen oder sie konnte zumindest die Bedeutung der Worte übersetzen.
    Mich wunderte da viel mehr, dass man Elena die Kinder überhaupt weiter überlassen hat und sie nicht als feindlichen Einfluss auf sie sah. Noch dazu wo sie mit ihnen Französisch sprach.


  • Mich wunderte da viel mehr, dass man Elena die Kinder überhaupt weiter überlassen hat und sie nicht als feindlichen Einfluss auf sie sah. Noch dazu wo sie mit ihnen Französisch sprach.


    Stand aber nicht irgendwo, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt kein Französisch mehr mit den Kindern sprach?
    Aber ja, gewundert hat es mich auch. Ich habe da fast bei jeder Szene darauf gewartet.


  • Das Ganze bringt eine unglaubliche Spannung in die Geschichte, die einen fast atemlos immer weiter lesen lässt und einen unheimlichen Sog auf mich ausgeübt hat.
    Die vielen Perspektiv-Wechsel haben mich zum Glück nicht irritiert, wobei ich schon bewusst darauf achten musste, zu welcher Zeit das Gelesene gerade angesiedelt ist.


    Das ist wahr. Die Handlung hat ja keinen sehr großen Spannungsbogen an sich. Durch die Perspektivenwechsel ahnt man ja schon schnell, wohin das führen wird, wie die Zusammenhänge sind, dass die Handslungsstränge irgendwann zusammenführen werden. Da brachte der Zeitwechsel zusätzlich Dynamik rein.

  • Ich habe seit gestern ein Problem mit meinem Internet daher konnte ich leider nicht eher posten.


    Tina
    Zu Frederick: Ja, das stimmt, hier kommt die Frage auf weshalb die anderen nichts getan haben oder mitgemacht haben. Diese verschiedenen Blickwinkel aufzuzeigen, einerseits moralisch zu hinterfragen ohne aber gleich zu verurteilen. Das fand ich richtig gut. Das muss man erstmal schaffen, das so zu schreiben. Werners GEdanken dabei fand ich sehr realistisch und auch die Gründe weshalb er es hinnimmt.


    Mira
    Was war das denn für ein Seminar? - Schlaue Idee, ich denke das man es wirklich nur in der Praxis verstehen kann. Theoretisch kann man ja viel sagen, aber wenn man in einer Situation drinsteckt. Egal in welchem Alter, ist ja auch noch die Gruppe selbst entscheidend. Da entstehen noch mal ganz eigene Dynamiken.
    Die Zeit in der wir uns im Roman befinden hängt sicher auch noch damit zusammen. Das alte Kaisserreich hat noch lange Auswirkungen auf die Mentalitäten und wirkt daher auch da noch nach. Verstärkt durch die Propaganda der NS Zeit. Gerade in den Napolas waren diese alten "Werte" über das Soldatentum und wie ein Mann zu sein hat, ja noch unterstrichen. Das spielt in den SZenen im Roman sicher auch sehr stark mit rein.


    yanni
    Hm vielleicht war nicht klar das Elena mit den Kindern französisch gesprochen hat. Ich habe mich gefragt welchen Einfluss sie eventuell vor Ort hatte.

  • bookstars
    Ja diesen Reinhold hätte ich auch nicht gebraucht. Andererseits sind bestimmte Handlungsabläufe ohne ihn letztendlich nicht möglich. Das Zusammentreffen von Marie Laure und Werner kann in der Handlung so nur passieren, weil Reinhold den Stein möchte.


  • Der dritte Handlungsstrang rund um den geheimnisvollen Diamanten dem „Meer der Flammen“ und seinem legendären Fluch und der Jagd des fanatischen Stabsfeldwebels Reinhold von Rumpel nach dem Original bringt zusätzlich Spannung in die Geschichte, die ich für meinen Geschmack gar nicht noch zusätzlich gebraucht hätte.


    Bei diesem Strang kann ich mich nicht recht entscheiden. Einerseits finde ich die Geschichten um den Stein nicht schlecht, er ist in der Geschichte, gerade für von Rumpel, ein Hoffnungsträger für die eigene Unversehrtheit. Manchmal kam er mir wieder als zu viel, als störend vor. Sicher hätte man Werner und Marie-Laure auch auf anderen Weg in Saint-Malo zusammentreffen lassen können. Das abschließende Kapitel um ihn fand ich dann jedoch sehr aussagekräftig. Er ist sozusagen wieder in der Versenkung verschwunden und all die Ereignisse, die das Leben so vieler Menschen nachhaltig veränderten, gehen spurlos an ihm vorbei. Er ist erneut eins mit der Natur und harrt der Jahrhunderte, die da noch auf ihn zukommen werden. Ob mit oder ohne die kriegerische Menschheit, das ist ihm einerlei.


    Zitat

    Dass so etwas so Kleines so schön sein kann. So viel wert. Nur die stärksten Menschen können sich von solchen Gefühlen befreien.


    Dr. Geffard hat dies gesagt. Es ist unbestreitbar, dass so ein Stein wertvoll ist. Aber seinen Wert bestimmt der Mensch. Und auch die Mythen, die sich um manche Stücke ranken, sind von Menschen in die Welt gesetzt worden. Sicher kann der Glaube unter Umständen Berge versetzen, aber letztendlich ist es der Mensch selbst und nicht das Vehikel, das er dafür nutzt.

  • Ich habe zwar noch ca. 30 Seiten zu lesen, weil es gestern abend einfach schon zu spät war, aber ich möchte mich wenigstens schon einmal kurz zu Wort melden. Heute abend, wenn ich fertig bin und meine Notizen zur Hand habe, gibt es noch etwas mehr Senf. Ich fürchte, das wird ein halber Roman - ich werde erst mal relativ unsortiert meine Eindrücke aufschreiben, bevor ich mich mit Euren Beiträgen befasse.


    Anfangs war ich noch nicht so sicher, wie mir Doerrs Schreibstil zusagt, aber dieses Kurze, Knappe, Komprimierte gefällt mir jetzt ausgesprochen gut, weil er es schafft, trotzdem sehr viel zu vermitteln an Atmosphäre und Emotionen. Auch die Traumbilder, die gerade bei Werner immer wieder auftauchen, mag ich. In anderen Büchern finde ich sowas oft wirr und nervig, aber hier passt es sehr gut, in diese aufgewühlte, konfuse, schreckliche Zeit.


    Die beiden Protagonisten sind gut gewählt, beide sind auf ihre Art anders als ihre Altersgenossen und haben eine besondere Art, die Welt zu betrachten - Marie-Laure aufgrund ihrer Blindheit, Werner aufgrund seines Aufwachsens im Waisenhaus und seiner technisch-mathematischen Begabung. Auch Jutta ist eine tolle Figur, von ihr hätte ich gerne noch mehr erfahren, aber das ist natürlich eher Wernes und Marie-Laures Geschichte.


    Die Situation der beiden nach den Bombenangriffen ist gleichermaßen beklemmend. Ich weiß nicht, wessen Lage schlimmer ist - das blinde Mädchen, das ganz allein im Haus ist, den Eindringling hört, sich irgendwie retten will, oder Werner, im Keller verschüttet, der nicht weiß, ob er jemals wieder Tageslicht sehen wird oder, wie sein Vater im Bergwerk, dort unten zugrunde gehen wird. Und beide sind im gesamten Verlauf ihrer Geschichte auf ihre eigene Weise mutig. Marie-Laure als Botin für die Widerstandsbewegung und Werner, als er verschweigt, was er über den Sender hört. (Dass Marie-Laure mit Henri verwandt ist, den Werner und Jutta als Kinder gehört haben, ist zwar einerseits ein bisschen viel des Zufalls, andererseits fand ich das aber auch sehr anrührend.)


    Und beide sind auf ihre Art durch eine harte Schule gegangen. Marie-Laure, als sie lernen musste, ohne Augenlicht zurechtzukommen und sich nach und nach die Welt zurückerobert hat, Werner auf der Napola. Was den erschreckend jungen Leuten da eingehämmert wurde an Menschenverachtung und blindem Führergehorsam, hat mich wieder einmal zutiefst abgestoßen. Aber Werner behält wenigstens das Fünkchen Zweifel in sich, das ihn trotz allem noch menschlich bleiben lässt. Dass er für Frederick nicht stärker eingetreten ist, hat mich zunächst ein wenig enttäuscht, aber die Konsequenzen wären bitter gewesen und er ist noch sehr jung. Dafür habe ich meinen Hut vor ihm gezogen, als er Etiennes und Marie-Laures Sendungen für sich behalten hat.


    Die Begegnung zwischen den beiden hat mich sehr berührt, und einen kurzen Moment lang hatte ich einen Funken Hoffnung, es könne eine Zukunft für die beiden geben. Aber nein. Werners Ende hat mich überrascht und geschockt. War das Absicht oder stand er völlig neben sich, als er auf den verminten Strand hinausgelaufen ist?


    Der Schauplatz lässt mir die ganze Geschichte noch stärker ans Herz gehen, als sie es sowieso schon getan hätte. Saint-Malo kenne ich von mehreren wunderschönen Urlaubsreisen und finde die Altstadt "intra-muros", innerhalb der Stadtmauern, sehr faszinierend. Die Porte Saint-Vincent, das Château, der Plage du Môle, das Fort National (bei Flut sieht das so aus), die Kathedrale, einige Straßennamen sind mir vertraut, ich kann Marie-Laure richtiggehend folgen in den granitgrauen Gassen. Über das Bombardement, die Brände und die Zerstörung zu lesen hat mir schier das Herz gebrochen :traurig: Mir war auch nicht so richtig bewusst, dass sich die Deutschen dort verschanzt hatten und es Angriffe der Alliierten waren, die zur Zerstörung führten.


    Mir gefällt das Buch ausgesprochen gut. Wenn es Doerr nicht noch auf den letzten Seiten versemmelt, wird das eines meiner Jahreshighlights.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()


  • Die Situation der beiden nach den Bombenangriffen ist gleichermaßen beklemmend. Ich weiß nicht, wessen Lage schlimmer ist - das blinde Mädchen, das ganz allein im Haus ist, den Eindringling hört, sich irgendwie retten will, oder Werner, im Keller verschüttet, der nicht weiß, ob er jemals wieder Tageslicht sehen wird oder, wie sein Vater im Bergwerk, dort unten zugrunde gehen wird.


    Mich hatte die Situation von Marie-Laure, als von Rumpel in das Haus eindrang, erst etwas verwirrt. Denn sie verhielt sich sofort ängstlich, als sie seine Schritte hörte. Wusst, dass er ihr gefährlich werden würde. Das klärte sich ein paar Kapitel später dann ja auf. Die Geschichte hatte sich in diesem Punkt sozusagen überholt. Ihr Wissen um die Gefahr basierte auf eine Begegnung der beiden, die wir als Leser erst später präsentiert bekommen. Daher kannte sie diese typische Schrittfolge.




    Die Begegnung zwischen den beiden hat mich sehr berührt, und einen kurzen Moment lang hatte ich einen Funken Hoffnung, es könne eine Zukunft für die beiden geben. Aber nein. Werners Ende hat mich überrascht und geschockt. War das Absicht oder stand er völlig neben sich, als er auf den verminten Strand hinausgelaufen ist?


    Auf den verminten Strand ist er gelaufen, nachdem der Zwischenfall mit der jungen Frau und dem Mädchen im Schrank passierte. Über diesen Vorfall kam nicht drüber weg. Das hat ihn sicher so verwirrt, dass er ohne darüber nachzudenken an den Strand gelaufen ist. Vielleicht war er sich der Gefahr im Unterbewusstsein klar und riskierte sogar absichtlich in die Luft gesprengt zu werden.
    Über das verminte Feld später hat er, glaube ich, nichts gewusst.


  • Mich hatte die Situation von Marie-Laure, als von Rumpel in das Haus eindrang, erst etwas verwirrt. Denn sie verhielt sich sofort ängstlich, als sie seine Schritte hörte. Wusst, dass er ihr gefährlich werden würde. Das klärte sich ein paar Kapitel später dann ja auf. Die Geschichte hatte sich in diesem Punkt sozusagen überholt. Ihr Wissen um die Gefahr basierte auf eine Begegnung der beiden, die wir als Leser erst später präsentiert bekommen. Daher kannte sie diese typische Schrittfolge.


    Das ging mir genauso, da habe ich mich momentan gefragt, wo sie dem humpelnden Deutschen schon mal begegnet ist.



    [quote author=yanni]Über das verminte Feld später hat er, glaube ich, nichts gewusst.[/quote]


    Sorry, das Feld meinte ich natürlich, nicht den Strand :redface: (das kommt davon, wenn man aus dem Gedächtnis zitiert). Die andere Szene ist klar. Das Mädchen im Schrank hat ihn, glaube ich, bis zum Schluss nicht mehr losgelassen :traurig:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Oh Valentine, ich habe eben erst bemerkt, dass die Schauplätze von dir verlinkt wurden. Sind das deine eigenen Bilder? Wunderbar! Nun kann ich es mir wesentlich besser vorstellen. Das Fort National, war das nicht die Insel, auf der die französischen Männer inhaftiert waren?

  • Die sind nicht von mir, aber ich stelle heute abend mal noch ein paar von meinen eigenen rein, wenn ich Zeit habe.


    Ja, im Fort National waren die Männer inhaftiert. Es wurde ja erwähnt, dass die Frau des Gefängnisvorstehers (oder was auch immer der war), bei Ebbe Essen rübergebracht hat, darum habe ich die Ebbe- und Flut-Bilder ausgesucht. Selbst bei niedriger Flut ist das Fort eine Insel.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Sorry, ich schaff das heute nicht mehr mit den Fotos, weil ich sie erst noch verkleinern und hochladen muss, aber in den nächsten Tagen dann, versprochen!

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Anfangs war ich noch nicht so sicher, wie mir Doerrs Schreibstil zusagt, aber dieses Kurze, Knappe, Komprimierte gefällt mir jetzt ausgesprochen gut, weil er es schafft, trotzdem sehr viel zu vermitteln an Atmosphäre und Emotionen.


    Ich hatte jetzt noch ein wenig Zeit, dass sich die Geschichte ein wenig setzen konnte, aber auch mir gefallen die kurzen Kapitel gut, weil sie nämlich nicht die Geschichte immer wieder in ihrem Verlauf stören, sondern im Gegenteil sich exzellent ergänzen.
    Ich habe sogar das Bild vor Augen, dass sich die einzelnen Kapitel auf einandern zubewegen, genau wie Marie-Laure und Werner, um dann in einem Showdown aufeinander zutreffen und letztendlich war es auch so. Ausgesprochen gelungen und im Gegensatz zu dem Wort "Showdown" nicht im mindesten reisserisch



    Die beiden Protagonisten sind gut gewählt, beide sind auf ihre Art anders als ihre Altersgenossen und haben eine besondere Art, die Welt zu betrachten - Marie-Laure aufgrund ihrer Blindheit, Werner aufgrund seines Aufwachsens im Waisenhaus und seiner technisch-mathematischen Begabung. Auch Jutta ist eine tolle Figur, von ihr hätte ich gerne noch mehr erfahren, aber das ist natürlich eher Wernes und Marie-Laures Geschichte.


    Jute fand ich auch immer klasse, weil sie es eben durchschaut hat und die immun gegen die Gehirnwäsche der Nazis war, wobei Werner es da aber auch viel schwerer hatte. Auch ich hätte gerne mehr von ihr erfahren, aber das hätte dann wohl den Rahmen gesprengt oder wäre dann auf Kosten der anderen beiden geschehen. Insofern ist es schon OK so.



    Die Situation der beiden nach den Bombenangriffen ist gleichermaßen beklemmend. Ich weiß nicht, wessen Lage schlimmer ist - das blinde Mädchen, das ganz allein im Haus ist, den Eindringling hört, sich irgendwie retten will, oder Werner, im Keller verschüttet, der nicht weiß, ob er jemals wieder Tageslicht sehen wird oder, wie sein Vater im Bergwerk, dort unten zugrunde gehen wird.


    An Werners verschütteten Vater hatte ich gar nicht mehr gedacht. Jetzt habe ich im Nachhinein noch Mitleid mit ihm, Wie fürchterlich. Genau darum ist er doch auch weg vom Waisenhaus, weil sein größte Befürchtung war, eines Tage unter Tage zu müssen.
    Für Marie war es gleichermassen schlimm. Natürlich hat sie sich an ihre Blindheit adaptiert und andere Fähigkeiten ausgebildet, damit umzugehen, aber dennoch wäre sie auf Grund ihrer Erblindung im Nachteil gewesen.



    Und beide sind im gesamten Verlauf ihrer Geschichte auf ihre eigene Weise mutig. Marie-Laure als Botin für die Widerstandsbewegung und Werner, als er verschweigt, was er über den Sender hört. (Dass Marie-Laure mit Henri verwandt ist, den Werner und Jutta als Kinder gehört haben, ist zwar einerseits ein bisschen viel des Zufalls, andererseits fand ich das aber auch sehr anrührend.)


    Da gefiel mir sogt, was Marie sagte, dass sie eben nicht, wie alle immer sagten mutig sei, sondern lediglich versuchte zu leben. Diese Aussage beschreibt sehr gut ihren Charakter.



    Und beide sind auf ihre Art durch eine harte Schule gegangen. Marie-Laure, als sie lernen musste, ohne Augenlicht zurechtzukommen und sich nach und nach die Welt zurückerobert hat, Werner auf der Napola. Was den erschreckend jungen Leuten da eingehämmert wurde an Menschenverachtung und blindem Führergehorsam, hat mich wieder einmal zutiefst abgestoßen.


    Dieser Gehirnwäsche zu widerstehen, war icht leicht, aber in Werner waren ja immer Restzweifel geblieben.



    Aber Werner behält wenigstens das Fünkchen Zweifel in sich, das ihn trotz allem noch menschlich bleiben lässt. Dass er für Frederick nicht stärker eingetreten ist, hat mich zunächst ein wenig enttäuscht, aber die Konsequenzen wären bitter gewesen und er ist noch sehr jung. Dafür habe ich meinen Hut vor ihm gezogen, als er Etiennes und Marie-Laures Sendungen für sich behalten hat.


    Darum kann ich ihn auch nicht verurteilen. Er ist in gewisser Weise ebenso ein Opfer



    Die Begegnung zwischen den beiden hat mich sehr berührt, und einen kurzen Moment lang hatte ich einen Funken Hoffnung, es könne eine Zukunft für die beiden geben.


    JA, der Gedanke schoss ich mir kurz durch den Kopf, aber das wäre zuviel gewesen und hätte den Geist des Romanes gestört.



    Werners Ende hat mich überrascht und geschockt. War das Absicht oder stand er völlig neben sich, als er auf den verminten Strand hinausgelaufen ist?


    Man war versöhnt mit ihm und dann das, aber dennoch finde ich das Ende so in Ordnung. Welche Zukunft hätte es für Werner geben können? Er hätte immer mir den Geistern seiner Vergangenheit gelebt und niemals vergessen. Er wäre irre geworden oder hätte Suizid verübt. Zumindest wer das wahrscheinlich, wenn man seinen Charakter anschaut. Ich denke übrigens nicht, dass er bewusst auf die Mine getreten ist. Ich glaube nicht, dass er in diesem Moment daran dachte.



    Der Schauplatz lässt mir die ganze Geschichte noch stärker ans Herz gehen, als sie es sowieso schon getan hätte. Saint-Malo kenne ich von mehreren wunderschönen Urlaubsreisen und finde die Altstadt "intra-muros", innerhalb der Stadtmauern, sehr faszinierend.


    Das ist ein absoluter Vorteil für dich und ich denke, du hast die Geschichte noch viel intensiver miterlebt, als wir anderen. Ich habe immer wieder beim Lesen Bilder von Saint Malo gegoogelt um es mir vorstellen zu können und dennoch fehlt natürlich was. Du hast dazu noch die Geräusche und die Gerüche der Stadt im Kopf.



    Mir gefällt das Buch ausgesprochen gut. Wenn es Doerr nicht noch auf den letzten Seiten versemmelt, wird das eines meiner Jahreshighlights.


    Glaube mir, das tut er nicht. :breitgrins:

  • Recht hast Du, Tina! :smile:


    Mir wird das Buch auch noch lange im Gedächtnis bleiben. Zum einen wegen der Geschichte, die es erzählt, mit all den kleinen, feinen Details, zum anderen wegen der wunderschönen Sprache. Auch ich möchte ein großes Lob an den Übersetzer aussprechen. Es gab so viele Momente, in denen ich schier Gänsehaut hatte, weil Doerr mit ganz wenigen, treffenden Worten so viel gesagt hat, und ich hatte oft Tränen in den Augen, weil die Sprache zum Niederknien schön war und gleichzeitig das, was geschildert wurde, so furchtbar traurig.


    Die letzten Kapitel haben mir gut gefallen, es war schön, einen Ausblick in die Zukunft von Jutta und Marie-Laure zu haben. Wenn schon Werner nicht länger leben durfte, so hatte zumindest Marie-Laure offenbar ein erfülltes und auch glückliches Leben nach dem Krieg, auch wenn es sicher wahr ist, was Doerr schreibt:

    Zitat

    Es war schwer, den Krieg in Frankreich miterlebt zu haben, ohne dass sich für den Rest des Lebens alles um ihn dreht. (...) Und sie erträgt es auch nicht, Namenslisten zu hören: Die Aufstellungen von Fußballmannschaften (...), das alles erinnert sie zu sehr an die Gefangenenlisten, die nie den Namen ihres Vaters enthielten.

    Oft sind es ja gerade solche vermeintlichen Nichtigkeiten, die an alte Traumen rühren können.


    Sehr schön fand ich auch Marie-Laures Überlegung zum Schluss, was da wohl alles unsichtbar an Gedanken und Worten durch den Äther schwirrt, gerade im Zeitalter von SMS und E-Mail. Und dass jede Stunde "jemand aus dieser Welt fällt, für den der Krieg eine Erinnerung war", ließ mir wieder einmal bewusst werden, dass die Zeitzeugen ja allmählich wirklich aussterben, 70 Jahre danach.


    Das Hören in all seinen Ausprägungen ist wirklich eine verbindende Klammer über das ganze Buch hinweg, auch die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten der Funktechnik. Dass Militärfunk und Unterhaltungsradio eigentlich nur zwei Seiten derselben Medaille sind, war mir zwar eigentlich schon klar, aber hier wird das noch mal so richtig deutlich. Überhaupt die Bedeutung des (Rund)Funks in Kriegszeiten - Verständigung zwischen den Truppen ebenso wie zwischen Widerstandsgruppierungen; Ablenkung und Propaganda fürs Volk (der für alle erschwingliche Volksempfänger war ja an sich schon ein cleverer Propagandaschachzug), aber auch Vermisstenmeldungen.


    Als Etienne seine Radios abgeben musste, die jahrzehntelang seine einzige Verbindung zur Außenwelt war, tat mir das in der Seele weh :traurig: Und als Werner und Jutta ihre Radioskala bastelten, fiel mir Omas altes Radio ein, auf dem auch noch zusätzlich zu den Senderfrequenzen Städtenamen zu sehen waren.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Zitat von HoldenCaulfield

    Zum Frosch: Ich finde das ist so eine Szene in der man als Leser selbst entscheiden kann. Es gibt wie Du schon sagst ja mehrere Möglichkeiten die Szene zu lesen. Ich würde sogar sagen, sie meint alle drei.


    Das sehe ich genauso. In bestimmten Situationen passt das Bild auf alle.


    Zitat von yanni

    Sehr gut gewählt erscheint mir der Titel des Buches. Er klingt geheimnisvoll und lässt sich auf so viele Bereiche, die auch im Buch behandelt werden, anwenden. Ich denke, er meinte es auch in verschiedener Weise. Das sichtbare Licht nimmt so einen kleinen Teil ein im Spektrum. Licht, das Marie-Laure auch nicht sehen kann, dafür fühlen und schmecken. Licht als Bilder, Ereignisse, Lebensgeschichten, die uns verborgen geblieben sind. Geschichten, die wir nie gelesen oder gehört haben. Geheimnis, die ungelüftet geblieben sind.


    Ich denke da auch an all die Geschichten, die mit den Menschen untergegangen sind, die im Krieg ums Leben kamen, und mit den Häusern, die zerstört wurden.


    Die Zigaretten von Maries Vater haben mich auch nicht gestört. Im Gegenteil. Ich fand das ziemlich realistisch.


    Zitat von Tina

    Einmal das, aber Frederik verdeutlicht auch, warum eben manche mitmachten. Nicht weil sie böse waren, sondern weil sie gerechtfertigter Angst hatten. Wer kann schon wirklich sagen, wie er in so einer Situation, wie die mit dem Gefangenen im Hof reagieren würde. Ich würde ganz spontan sagen, dass ich mich nicht daran beteiligen würde, aber könnte ich es beschwören???


    Ich wäre da selber auch vorsichtig. Eine solche Extremsituation wie damals kann man sich aus heutiger Sicht ja kaum in all ihrer Heftigkeit vorstellen. Wenn schwere Repressalien drohen oder gar das Wohl der eigenen Familie oder Freunde auf dem Spiel steht, ist es gar nicht so leicht, sich gegen eine Obrigkeit von solcher Härte und ideologischer Verblendung aufzulehnen.


    Zitat

    Man war versöhnt mit ihm und dann das, aber dennoch finde ich das Ende so in Ordnung. Welche Zukunft hätte es für Werner geben können? Er hätte immer mir den Geistern seiner Vergangenheit gelebt und niemals vergessen. Er wäre irre geworden oder hätte Suizid verübt.


    Da ist wohl leider etwas dran. Ich glaube auch, dass es ihm sehr schwer gefallen wäre, mit dem Erlebten abzuschließen.


    Zitat

    Das ist ein absoluter Vorteil für dich und ich denke, du hast die Geschichte noch viel intensiver miterlebt, als wir anderen. Ich habe immer wieder beim Lesen Bilder von Saint Malo gegoogelt um es mir vorstellen zu können und dennoch fehlt natürlich was. Du hast dazu noch die Geräusche und die Gerüche der Stadt im Kopf.


    Das hat Anthony Doerr wirklich großartig eingefangen - das Meeresrauschen, die Möwenschreie, diesen besonderen leicht salzig-fischigen Geruch ...

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Als Etienne seine Radios abgeben musste, die jahrzehntelang seine einzige Verbindung zur Außenwelt war, tat mir das in der Seele weh :traurig: Und als Werner und Jutta ihre Radioskala bastelten, fiel mir Omas altes Radio ein, auf dem auch noch zusätzlich zu den Senderfrequenzen Städtenamen zu sehen waren.


    Für Etienne muss es sich schrecklich angefühlt haben, als er endlich sein Zimmer verließ und seine geliebten Radios verschwunden waren. Aber noch schlimmer wäre es für ihn gewesen, Stück für Stück entschwinden zu sehen.
    Diese vielen Radios haben mich fasziniert. Man stelle sich das vor: Da sitzt man in seinem Sessel und aus so vielen Geräten erklingt das gleiche Stück. Heute nennt man das Dolby Surround. :breitgrins:


    Wir haben hier auch noch zwei dieser alten Geräte stehen mit den Städtenamen in der Skala. Diese alten Röhrenradios haben schon was.


  • Für Etienne muss es sich schrecklich angefühlt haben, als er endlich sein Zimmer verließ und seine geliebten Radios verschwunden waren. Aber noch schlimmer wäre es für ihn gewesen, Stück für Stück entschwinden zu sehen.


    Oder gar, sie selbst wegtragen zu müssen :traurig:


    Zitat

    Diese vielen Radios haben mich fasziniert. Man stelle sich das vor: Da sitzt man in seinem Sessel und aus so vielen Geräten erklingt das gleiche Stück. Heute nennt man das Dolby Surround. :breitgrins:


    Etiennes Dachboden hat mich überhaupt total fasziniert. Ich frage mich auch, was wohl aus ihm geworden wäre ohne dieses Kriegstrauma.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen