Diskussionsrunde: Anthony Doerr - Alles Licht, das wir nicht sehen

Es gibt 47 Antworten in diesem Thema, welches 11.095 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

  • Hier könnt ihr ab 24. April über das Buch Anthony Doerr - Alles Licht, das wir nicht sehen diskutieren.


    Es gibt keine Abschnittseinteilung, da bis zu diesem Zeitpunkt alle das Buch komplett gelesen haben sollten.


    Viel Spaß!

    LG, Dani


    **kein Forums-Support per PN - bei Fragen/Problemen bitte im Hilfebereich melden**

  • Ich bin noch ein wenig unsicher, weil ich nicht genau weiß, wie oder wo ich anfangen soll. ;)
    Der Roman bietet finde ich sehr sehr viele Ansatzpunkte für eine Diskussion. Einfach nur über den Handlungsverlauf ... ich will ja keine reine Inhaltsangabe schreiben. ;)


    Ich habe mir aber überlegt welche Punkte ich als sehr wichtig empfunden habe und dabei fiel mir schon beim lesen immer wieder die verschiedenen Geräusche auf, die auch gerade die Blindheit von Marie-Laure unterstreichen.
    Wunderbar fand ich hier die Beschreibungen, die Doerr wählt um die Geräusche, Geschmäcker und das Fühlen zu verdeutlichen. "Sonne im Mund" als Marie-Laure die Pfirsiche isst. Das gefiel mir sehr. Das Spiel mit der Sprache um besondere Geräusche zu beschreiben oder auch klar zu machen, das sie nicht sehen kann.
    So lauscht sie der Dunkelheit (S. 42) Wunderbar! :herz:


    Oder auf S. 52: [...] "Sie kann das Licht auf den Flügeln, wie s jede einzelne Feder berührt"


    Überhaupt ist ja das Hören sehr wichtig, würde ich sagen. Das Radio ist ja auch eine Verbindung der Figuren (welche man aber erst am Ende erfährt.)


    Begeistert bin ich im nachhinein auch von der Covergestaltung die für den Roman perfekt ist.

  • Oh, ich hatte schon befürchtet als Letzte hier aufzutauchen. Ich musste das Buch erst noch ein wenig sacken lassen, da ich es erst gestern Nachmittag zu Ende lesen konnte.
    In meiner Vorstellung einer Postleserunde schrieb ich meine Meinung zu dem Buch, die dann weiter ins Detail gehen würde als üblich, besonders während der anschließenden Diskussion mit euch. Seltsamerweise klappte das nicht. Ich fing immer wieder von vorne an, nur um auch diesen Entwurf wieder zu verwerfen. Daher habe ich beschlossen es so zu halten, als würde ich ganz normal mit euch über meine Eindrücke und Fragen dazu reden.


    Gekauft habe ich mir das Buch übrigens weil ich von Anthony Doerr bereits Kurzgeschichten gelesen habe, die mir sehr gut gefallen hatten. Dazu kam dieser eigentümliche Titel, bei dem ich mich fragte, von welchem Licht spricht der Autor. Dazu dieses eher düster wirkende Cover, das Saint Malo zeigt. Das hat Holden ja schon zum Ausdruck gebracht. Auch die Inhaltsangabe weckte mein Interesse.


    Das Buch ist in 14 Abschnitte unterteilt, die wiederum in viele sehr kurze Kapitel aufgegliedert sind. Gerade bei so kurzen Kapiteln glaubte ich recht schnell voran zu kommen. Dabei war es eher umgekehrt. Einerseits lag es manchmal daran, dass ich mir immer wieder vergegenwärtigen musste in welcher Zeit ich gerade bin. Natürlich habe ich schon viele Bücher mit unterschiedlichen Zeitebenen gelesen, aber hier tat ich mich schwerer. Des öfteren musste ich im Inhaltsverzeichnis nachschlagen wann dieser Teil spielt. Andererseits lag es am Satzbau. Beim schnellen Lesen merkte ich, dass ich den Inhalt nicht vollkommen aufgenommen habe und las den Satz ein zweites Mal. Andere Sätze wollten ein zweites Mal gelesen werden, um den enthaltenen Gefühlen nachzuspüren. Dazu gehörte auch der von Holden bereits angeführte Satz mit dem Sonnenaufgang im Mund, nachdem Marie-Laure und Werner die letzte Dose Pfirsiche aßen.


    Dieses Buch ist sehr sinnlich. Wenn wir mit Marie-Laure unterwegs sind, werden wir des Augenlichts beraubt und erkunden die Welt mit ihren Sinnen, die auch wir besitzen, aber selten in dieser ausgeprägten Form nutzen wie sie. Das es jedoch Überschneidungen in gleicher Intensität gibt, sieht man am Beispiel Werners. Erst wenn Funksignale gehört werden, lassen sie sich orten.
    Auch Volkheimer ist ein gutes Beispiel im Bereich des Hörens, wenn auch wieder auf einer anderen Ebene, da er die Musik, der er so hingebungsvoll lauschen kann, als reinen Genuss aufnimmt.


    Manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich mir vorkam wie Werner und Jutta vor ihrem Radio. Wenn sie den Sendungen aus dem fernen Saint Malo lauschten. Dazu reichte ein Satz, wie etwa als von Rumpel die Kerze fallen lässt und Doerr durch von Rumpel die Frage stellt, warum die Flamme einer Kerze immer zum Himmel gerichtet ist. Es waren oft so Alltäglichkeiten, die, wie im vorangegangenen Beispiel hinterfragt, mich inne halten ließen. Dabei erstaunte mich der Autor mit seinen vielseitigen Recherchen zu diesem Roman. Das ist nun schon das zweite Buch innerhalb kurzer Zeit, das mir Mollusken als höchst interessante Tierchen präsentiert. :zwinker:


    Anthony Doerr, und hier sollte man sicher auch den Übersetzter, Werner Löcher-Lawrence, erwähnen, hat eine wunderbare Ausdrucksweise verwendet. Einprägsam, mit wenigen Sätzen auf den Punkt bringend. Gerade die kurzen Kapitel zeigen dies nur zu deutlich. Blitzlichter der Ereignisse, die verdeutlichen welche Vorgehensweisen und Schicksale, möglich waren.
    Er vermag die Grausamkeiten des Krieges in so unterschiedlicher Weise zu Ausdruck zu bringen. Sei es in den in Bratenfett und Kuchenduft schwelgenden Briefen Daniel Le Blancs oder in dem einen Satz, der Werner in einer Erdfontäne verschwinden ließ. Ich kann nicht sagen, was mir das Blut mehr in den Adern gefrieren ließ.


    Gut gefallen hat mir, dass die Geschichte über die Ereignisse des Jahres 1945 hinausgingen. Das rundete die Schicksale besser ab. Gerade das letzte Kapitel, dem ich nach dem ersten Lesen nicht ganz so viel abgewinnen konnte, fand ich dann sehr gut gewählt.


    Ich könnte noch so einiges dazu schreiben, aber ich möchte euch nicht mit ellenlangen Texten abschrecken. Mich würde interessieren, was ihr von Volkheimer haltet.

    Einmal editiert, zuletzt von yanni ()

  • yanni
    Bei der Chronologie musste ich auch sehr genau aufpassen. Zu Anfang hatte ich damit tatsächlich ein wenig Probleme. Andererseits hat es für mich trotzdem gepasst, nicht ganz chronologisch zu erzählen. Nach und nach war ich dann aber darauf gefasst. Bin aber sicher das es auch damit zu tun hatte, das ich einige Stunden am Stück lesen konnte. Das hat mir dann auch erleichtert mich im Roman zurecht zu finden.


    Ich hätte mir durchaus ein Nachwort gewünscht. Gerade hier wird ja doch ein gewisses historisches Grundwissen vorausgesetzt. Andererseits legt wohl nicht jeder Autor seine Recherchearbeit gerne offen. ;)


    Doerr hat übrigens den Publitzerpreis für diesen Roman gewonnen.


  • Doerr hat übrigens den Publitzerpreis für diesen Roman gewonnen.


    Das habe ich gestern auch gelesen.


    Die Verwobenheit der beiden Zeitebenen war für die Spannung ideal. Man wusste zwar dass Werner in Frankreich landet, aber welchen Weg er bis dorthin zurücklegen musste, nicht nur geographisch, wollte man ja auch wissen. Mit Hilfe der sehr kurzen Kapitel konnte Doerr auch sehr schnell und oft die Schauplätze wechseln.


    Worüber ich immer noch nachdenken muss, ist die Geschichte mit dem Frosch. Etienne glaubte, dass Madame Manec damit entweder sich selbst oder die Deutschen meinte. Ich hatte beim Lesen eher den Eindruck, sie meinte Etienne damit. Er saß nur im Haus ohne sich an irgendwelchen Aktivitäten zu beteiligen. Ihm drohte keine unmittelbare Gefahr.
    Erst nach Madames Tod, als Marie-Laure vom Brotholen nicht wiederkam, sprang er wie der Frosch im siedenen Wasser aus dem Topf.



    Ich hätte mir durchaus ein Nachwort gewünscht. Gerade hier wird ja doch ein gewisses historisches Grundwissen vorausgesetzt. Andererseits legt wohl nicht jeder Autor seine Recherchearbeit gerne offen. ;)


    Er hat in seiner Danksagung einige Werke anderer Autoren genannt, was dazu führt, dass demnächst Der Erlkönig von Michel Tournier in meinem Regal stehen wird. :zwinker: Wie er auf den Gedanken kam, dieses Buch überhaupt zu schreiben, würde mich auch interessieren.
    Mit Marie-Laure wählt er eine nicht alltäglich Figur als Protagonistin. Wer war wohl zuerst da: Marie-Laure oder Werner?

  • yanni
    Spontan würde ich vermuten: die Grundidee des Forschers. Da er ja schon eine Kurzgeschichte mit dieser Thematik geschrieben hat ;)


    Zum Frosch: Ich finde das ist so eine Szene in der man als Leser selbst entscheiden kann. Es gibt wie Du schon sagst ja mehrere Möglichkeiten die Szene zu lesen. Ich würde sogar sagen, sie meint alle drei.^^ In diesem speziellen Gespräch vielleicht Etienne umso stärker.


    Zu deiner Bemerkung der verschiedenen Schausplätze: Stimmt, dadurch wurde eine ganz eigene Dynamik möglich. Für mich war dadurch auch glaubwürdig wie die Zeit vergeht. Es sind ja schon mehrere Jahre, aber ich hatte auch wirklich den Eindruck die Zeit sei tatsächlich vergangen. Das hat Doerr meiner Meinung nach sehr überzeugend beschrieben.


  • Spontan würde ich vermuten: die Grundidee des Forschers. Da er ja schon eine Kurzgeschichte mit dieser Thematik geschrieben hat ;)


    Welche Kurzgeschichte meinst du? Ich habe irgendwo gelesen, dass er eine Kurzgeschichte, die in Zusammenhang mit diesem Buch steht, in einer Zeitschrift veröffentlicht hat. Oder meinst du eine aus seinen Büchern? Ich kenne nur teilweise die aus Der Muschelsammler.


    Sehr gut gewählt erscheint mir der Titel des Buches. Er klingt geheimnisvoll und lässt sich auf so viele Bereiche, die auch im Buch behandelt werden, anwenden. Ich denke, er meinte es auch in verschiedener Weise. Das sichtbare Licht nimmt so einen kleinen Teil ein im Spektrum. Licht, das Marie-Laure auch nicht sehen kann, dafür fühlen und schmecken. Licht als Bilder, Ereignisse, Lebensgeschichten, die uns verborgen geblieben sind. Geschichten, die wir nie gelesen oder gehört haben. Geheimnis, die ungelüftet geblieben sind.


    Neben diesen vielseitig anwendbaren Titel gefiel mir, dass Doerr das Leben und die Ereignisse vieler Menschen zumindest ausschnittsweise aus dem Dunkeln holt ohne dabei zu verurteilen. Er lässt seine Figuren meist passiven Widerstand leisten. Sie sind in ihren Rollen gefangen. Besonders empfand ich das bei der Szene in Berlin, als russische Soldaten auf Elena und die Mädchen treffen. Auch Frederick vermochte nicht aus der ihm vorgegebenen Rolle zu schlüpfen.

  • yanni
    Zum Titel: Das hast Du sehr schön gedeutet.


    Ich fand gerade auch Werner dabei spannend, seine Lebensgeschichte war glaubwürdig geschildert und klang nicht aus der Luft gegriffen. Z.B die Napola (Nationalpolitische Akademie), aber auch seine ganze Geschichte bis dahin, ich fand man konnte sehr gut verstehen, weshalb er sich eingegliedert hat. Und Frederick, das war so furchtbar. Ich fand aber das er sehr mutig war, auch wenn sein Leben dann zerstört wurde. Gerade hier war dann auch das ganze Ausmaß so krass deutlich. Alles was ihm jemals wichtig war, wurde in ihm ausgelöscht. Ich denke Frederick steht vor allem als Symbol dieser zerstörten Jugend von so vielen.
    Es hat mich dabei auch so traurig gemacht, das auch Werner diese Zeit nicht überlebt hat. Ich fand es zwar passend im ganzen Verlauf der Handlung, andererseits wäre sicher auch interessant gewesen, wie er mit seiner Schuld nach dem Krieg umgegangen wäre. Ob er das hätte ertragen können oder nicht.
    Ich fand übrigens die Szene mit den russischen Soldaten bei Elena und Jutte besonders unerträglich. Das hat Doerr perfekt beschrieben. Nichts zu sagen und dabei soviel. Ich konnte es fast nicht lesen.

  • Nachdem ich das Buch nun etwas nachwirken ließ, beginne ich langsam mit meinen Eindrücken, für die ich mir selbst eine kleine Aufteilung erstellt habe, damit mir nichts untergeht.


    1. Schreibstil/Aufbau
    2. Erzählstränge
    3. Motive/Bilder/besondere Sätze
    4. Personen


    Schreibstil/Aufbau


    Insgesamt gefällt mir die Verwendung der Zeitform Präsens sehr gut. So habe ich wirklich das Gefühl, die Geschichte, die an einem 7. August 1944 beginnt und sich im - meiner Meinung nach - Hauptteil mit Rückblenden bis zum 12. August 1944 und damit der entscheidenden Begegnung entwickelt, ist gegenwärtig. Die zum Teil kurzen mit Überschriften versehenden Kapitel ermöglichen einen leichten Lesefluss. Mir ging es oft so, dass ich dachte, obwohl ich eine Pause einlegen wollte Ach, nur noch ein Kapitel. Wobei es dabei nicht blieb.


    Außerdem sagt mir der Grundton der ruhigen, klaren und ausführlichen Erzählweise, die gleichwohl aber mit bemerkenswerten, aufrüttelnden, innigen, dramatischen, traurigen Momenten und einprägsamen Bildern aufwartet, zu.


    Erzählstränge


    Zunächst hat mir das, was über Werner berichtet wurde, besser gefallen, weil ich sein Leben, seinen Hintergrund interessanter fand. Ich hatte hier das eine oder andere beklemmende Gefühl, spürte Hilflosigkeit und Empörung zugleich. Maries Geschichte ist anfänglich eher ebenmäßig, obwohl natürlich ihre Erblindung ein enorme Veränderung bedeutete. Im Laufe der Zeit und Handlung legt Maries Geschichte an Inhalt und Charakter zu, die einen nicht los lassen.


    Gestört hat mich allerdings, dass sich Marie-Laures Vater fast in jedem Kapitel, in denen er anwesend ist, eine Zigarette anzündet. Vielleicht bin ich kleinlich oder als Nichtraucherin empfindlich. Jedoch habe ich im Grunde schon jedes Mal auf die Stelle "Zigarette" gewartet (und wurde meist nicht "enttäuscht"). Das ist für mich eine unnötige Wiederholung gewesen.


    Ab Juni 1940 wird dann ein neuer Erzählstrang eingeführt, der des Stabsfeldwebels Reinhold von Rumpel, der sich auf der Suche nach dem "Meer der Flammen" befindet, und durch ihn werden die Geschichten von Werner und Marie-Laure miteinander verknüpft.


    Motive/Bilder


    Nicht nur das Radio ist ein verbindendes Motiv zwischen Marie-Laure und Werner. Sondern ich sehe auch die Dunkelheit als ein solches an. Marie-Laure kann nichts sehen und schafft es trotzdem, sich zurechtzufinden. Werners Leben ist eigentlich vorherbestimmt, ein Malochen unter Tage, also auch in der Dunkelheit. Diesem Schicksal kann er sich auf Grund seiner technischen Begabung entziehen, wenngleich er sich dann einem anderen Dunkel ausgesetzt sieht, dem Bösen in Gestalt der Eliteschule, was er aber erst nach und nach zu erkennen vermag...

    Das Leben ist das schönste Märchen. Hans Christian Andersen


  • Da kann ich dir zustimmen, das ist Doerr sehr gut gelungen. Seine Beschreibungen sind sehr detailliert und können so deutlich nachempfunden werden. Gerade weil Marie-Laure nicht sehen kann, sind ihre anderen Sinne stärker ausgeprägt. Eben auch das Hören:


    "Sie hört sein Feuerzeug, das Saugen und Aufglühen des Tabaks." (Seite 87) - Ich bezweifle, ob ich das Aufglühen des Tabaks hören kann.


    Allerdings denke ich, dass sie, da sie ja ihr Augenlicht erst mit sechs/sieben verlor, durchaus noch Vorstellungen von den Dingen in ihrer Erinnerung hat, was ihr die Vorstellung möglicherweise erleichtert.

    Das Leben ist das schönste Märchen. Hans Christian Andersen


  • Das Buch ist in 14 Abschnitte unterteilt, die wiederum in viele sehr kurze Kapitel aufgegliedert sind. Gerade bei so kurzen Kapiteln glaubte ich recht schnell voran zu kommen. Dabei war es eher umgekehrt. Einerseits lag es manchmal daran, dass ich mir immer wieder vergegenwärtigen musste in welcher Zeit ich gerade bin. Natürlich habe ich schon viele Bücher mit unterschiedlichen Zeitebenen gelesen, aber hier tat ich mich schwerer. Des öfteren musste ich im Inhaltsverzeichnis nachschlagen wann dieser Teil spielt. Andererseits lag es am Satzbau. Beim schnellen Lesen merkte ich, dass ich den Inhalt nicht vollkommen aufgenommen habe und las den Satz ein zweites Mal. Andere Sätze wollten ein zweites Mal gelesen werden, um den enthaltenen Gefühlen nachzuspüren. Dazu gehörte auch der von Holden bereits angeführte Satz mit dem Sonnenaufgang im Mund, nachdem Marie-Laure und Werner die letzte Dose Pfirsiche aßen.


    Da hatte ich Glück, mir fiel der Wechsel überhaupt nicht schwer, ich habe mich gut zurecht gefunden. Vielleicht liegt es daran, dass ich regelmäßig verschiedene Bücher parallel lese und dementsprechend "umschalten" muss. Aber das Inhaltsverzeichnis ist durchaus hilfreich. Gerade wenn ich jetzt noch einmal etwas suche, verwende ich es.


    Viele Sätze sind eindringlich und wirklich nachdenkenswert.


    "Das Radio bindet Millionen von Ohren an einen einzigen Mund. Aus den Lautsprechern überall auf dem Gelände der zeche Zollverein wächst die Stakkatostimme des Reichs wie ein unerschütterlicher Baum, und die Untertanen beugen sich zu seinen Ästen hin, als wären es die Lippen Gottes. Und wenn Gott aufhört zu flüstern, suchen sie verzweifelt nach jemandem, der den Defekt zu reparieren weiß." (Seite 73)


    Ich finde dieses Absatz hervorragend formuliert und gebe zu, dass ich hier Unbehagen verspüre bei der Erinnerung, was dieser "Gottglauben" den Deutschen und den Völkern gebracht hat.



    Dieses Buch ist sehr sinnlich. Wenn wir mit Marie-Laure unterwegs sind, werden wir des Augenlichts beraubt und erkunden die Welt mit ihren Sinnen, die auch wir besitzen, aber selten in dieser ausgeprägten Form nutzen wie sie. Das es jedoch Überschneidungen in gleicher Intensität gibt, sieht man am Beispiel Werners. Erst wenn Funksignale gehört werden, lassen sie sich orten.
    Auch Volkheimer ist ein gutes Beispiel im Bereich des Hörens, wenn auch wieder auf einer anderen Ebene, da er die Musik, der er so hingebungsvoll lauschen kann, als reinen Genuss aufnimmt.


    Man kann sich dieser Art von anderer Sinnlichkeit gar nicht entziehen, so intensiv ist sie beschrieben.



    Gut gefallen hat mir, dass die Geschichte über die Ereignisse des Jahres 1945 hinausgingen. Das rundete die Schicksale besser ab. Gerade das letzte Kapitel, dem ich nach dem ersten Lesen nicht ganz so viel abgewinnen konnte, fand ich dann sehr gut gewählt.


    Ich finde den Abschluss gut gelungen, weil uns das Buch so nicht mit möglichen Fragen nach der Zukunft zurücklässt.

    Das Leben ist das schönste Märchen. Hans Christian Andersen

  • Ihr habt schon so viel geschrieben, dessen ich mich nur anschließen kann. Generell fand ich es ebenso wie ihr besonders gelungen, diese Geschichte im Präsens zu schreiben. So verliert man nicht die Nähe zum Geschehen, wie es einem doch sehr oft ergeht, wenn man historische Berichte liest. Da ist einem natürlich klar wie schlimm etwas ist, aber wenn man hier in der Gegenwartsform mit in die Story genommen wird, dann entsteht da ein ganz andere Nähe. Die Nähe entsteht aber auch, durch das Handicap welches Marie hat, denn dadurch müssen wir mir ihr hören und uns mit den Ohren orientieren.
    Ich fand von Beginn an den Vater faszinierend, der nicht an dem Schicksal seiner Tochter verzweifelte, sondern einfach versuchte und dem es auch gelang, aus der Blindheit das beste zu machen und einfach andere Wege zu finden, damit sie auf ihre Art und Weise sehen kann. Wenn ich bedenke, wie aufwendig diese Modelle der Städte sind, dann kann man daran ermessen, wie sehr er seine Tochter liebt.
    Das hat mich wirklich beeindruckt.


  • Und Frederick, das war so furchtbar. Ich fand aber das er sehr mutig war, auch wenn sein Leben dann zerstört wurde. Gerade hier war dann auch das ganze Ausmaß so krass deutlich. Alles was ihm jemals wichtig war, wurde in ihm ausgelöscht. Ich denke Frederick steht vor allem als Symbol dieser zerstörten Jugend von so vielen.


    Einmal das, aber Frederik verdeutlicht auch, warum eben manche mitmachten. Nicht weil sie böse waren, sondern weil sie gerechtfertigter Angst hatten. Wer kann schon wirklich sagen, wie er in so einer Situation, wie die mit dem Gefangenen im Hof reagieren würde. Ich würde ganz spontan sagen, dass ich mich nicht daran beteiligen würde, aber könnte ich es beschwören???
    Ich weiß nicht. Das macht mir Angst.
    Alles in allem fand ich Frederik einfach bewundernswert und unglaublich mutig.


  • Gestört hat mich allerdings, dass sich Marie-Laures Vater fast in jedem Kapitel, in denen er anwesend ist, eine Zigarette anzündet. Vielleicht bin ich kleinlich oder als Nichtraucherin empfindlich. Jedoch habe ich im Grunde schon jedes Mal auf die Stelle "Zigarette" gewartet (und wurde meist nicht "enttäuscht"). Das ist für mich eine unnötige Wiederholung gewesen.


    Das fand ich jetzt überhaupt nicht schlimm. Es war so, dass die Leute eher etwas zu rauchen, als zu essen hatten und es zeigt im Grunde den Gemütszustand. Natürlich hätte man den auch anders beschreiben können, aber schlimm fand ich das nicht. Es war so. Schau dir nur mal Filme aus dieser Zeit an. Was da geraucht wird, das geht auf keine Kuhhaut. :breitgrins:

  • Sehr gut gewählt erscheint mir der Titel des Buches. Er klingt geheimnisvoll und lässt sich auf so viele Bereiche, die auch im Buch behandelt werden, anwenden. Ich denke, er meinte es auch in verschiedener Weise. Das sichtbare Licht nimmt so einen kleinen Teil ein im Spektrum. Licht, das Marie-Laure auch nicht sehen kann, dafür fühlen und schmecken. Licht als Bilder, Ereignisse, Lebensgeschichten, die uns verborgen geblieben sind. Geschichten, die wir nie gelesen oder gehört haben. Geheimnis, die ungelüftet geblieben sind.


    Genau so habe ich es auch empfunden. Man kann Licht fühlen und man erahnt dann, dass da was ist.

  • Dann melde ich mich auch mal zu Wort. Ihr habt ja schon einiges geschrieben und es waren interessante Punkte dabei. Bei mir geht nur gerade alles drunter und drüber und mir fällt es gerade noch schwer mich richtig damit auseinanderzusetzen. Das war leider auch schon beim Lesen so. Ich habe eine Weile gebraucht um reinzukommen und musste mich fast überwinden mich auf die Geschichte einzulassen, aber ich vermute das lag weniger am Buch, sondern vielmehr an meiner privaten Situation momentan. Das tat mir fast leid, da ich besonders auch die Sprache sehr melodisch finde, es mir an manchen Stellen aber fast unpassend vorkam und ich manchmal leicht genervt war. Wenn ich dann tatsächlich mal eine ruhige Minute hatte, ich mir zum Lesen mehr Zeit nehmen konnte, dann habe ich schon mal innegehalten und den ein oder anderen Satz mehrmals gelesen und ihn richtig wirken lassen. Das hat mich dann besänftigt ;)
    Die kurzen Kapitel fand ich übrigens einerseits ganz toll, da es dann kein Problem war zumindest abends noch ein, zwei davon zu lesen, aber machten auch den Zugang etwas beschwerlich, fand ich. Ich fand mich manchmal dann etwas wieder aus der Geschichte herausgerissen. Das Präsens fand ich aber dagegen ziemlich gut gewählt. Es passte zu der Geschichte, es nahm der Geschichte ein wenig die Distanz.
    Ich mag es übrigens sehr, wenn Geschichten nicht ganz linear oder chronologisch erzählt werden, daher fiel es mir in dieser Hinsicht nicht schwer, den Überblick zu behalten. Aber sonst erging es mir wie gesagt ähnlich wie Svanvithe.

  • Einmal das, aber Frederik verdeutlicht auch, warum eben manche mitmachten. Nicht weil sie böse waren, sondern weil sie gerechtfertigter Angst hatten. Wer kann schon wirklich sagen, wie er in so einer Situation, wie die mit dem Gefangenen im Hof reagieren würde. Ich würde ganz spontan sagen, dass ich mich nicht daran beteiligen würde, aber könnte ich es beschwören???
    Ich weiß nicht. Das macht mir Angst.
    Alles in allem fand ich Frederik einfach bewundernswert und unglaublich mutig.


    Richtig. Bewundernswert. Vor allem auch wie er es tat. Er war jetzt ja nicht der große, starke Junge.
    Im Nachhinein ist es leichter gesagt, dass man es nicht getan hätte...auch ich könnte es nicht beschwören.
    Ich war mal auf einem Seminar, wir waren damals alle so 14,15... Wir wurden nachts geweckt und rausgescheucht. Ohne dass wir Zeit hatten uns was anzuziehen. Wir wurden 2km im Regen im Dauerlauf durch den Wald getrieben und am Ende ließen sie uns hinknien und mit der Hand auf dem Herz die Nationalhymne singen. Einige heulten, weil sie erschöpt, müde waren, aber auch aus Angst, Stress..die wenigsten weigerten sich. Warum? Das war die Frage, die wir uns danach stellten und die wir auch von den Leitern gestellt bekamen, als wir uns beschwerten. Warum habt ihr denn mitgemacht? Sie haben uns angeschrien und getrieben, ja, verbal ferig gemacht, aber mehr nicht. Doch dieser psychische Druck, der Psychoterror in einer Nacht hat schon ausgereicht, dass wir unseren Willen nicht durchsetzen konnten. Es mag damals anders gewesen sein, vor allem ging es da auch gegen andere Personen, aber diese Erfahrung hat mir ziemlich gut gezeigt, wie leicht man in manchen Momenten seine eigene Überzeugung vergessen kann.


  • Ich war mal auf einem Seminar, wir waren damals alle so 14,15... Wir wurden nachts geweckt und rausgescheucht. Ohne dass wir Zeit hatten uns was anzuziehen. Wir wurden 2km im Regen im Dauerlauf durch den Wald getrieben und am Ende ließen sie uns hinknien und mit der Hand auf dem Herz die Nationalhymne singen. Einige heulten, weil sie erschöpt, müde waren, aber auch aus Angst, Stress..die wenigsten weigerten sich. Warum? Das war die Frage, die wir uns danach stellten und die wir auch von den Leitern gestellt bekamen, als wir uns beschwerten. Warum habt ihr denn mitgemacht? Sie haben uns angeschrien und getrieben, ja, verbal ferig gemacht, aber mehr nicht. Doch dieser psychische Druck, der Psychoterror in einer Nacht hat schon ausgereicht, dass wir unseren Willen nicht durchsetzen konnten. Es mag damals anders gewesen sein, vor allem ging es da auch gegen andere Personen, aber diese Erfahrung hat mir ziemlich gut gezeigt, wie leicht man in manchen Momenten seine eigene Überzeugung vergessen kann.


    Das ist ein gutes Beispiel, Mira. Wenn man sich dann noch vorstellt, dass zu jener Zeit Kinder und Jugendliche Erwachsenen, besonders Lehrern und Ausbildern, gegenüber Gehorsam zu leisten hatten, ohne Widerspruch. Hätte sich dort einer der Jungen dauerhaft verweigert, wäre dies, wie Frederick schon befürchtete, nachteilig für seine Eltern gewesen, die sicher Sorge dafür getragen hätten, dass so etwas nicht wieder vorkam. Der Verlierer wäre stets der Zögling gewesen.


    Ich fand es entsetzlich, wie man die Jungen gegeneinander aufhetzt, denn nichts anderes war es doch, einen bestimmen zu lassen, wer der Schwächste sei. Was wäre wohl geschehen, wenn einer von vornherein bestätigt hätte, dass er es sei?
    Mir geht dabei immer Volkheimer durch den Kopf. Dieser große, starke Junge, der meiner Ansicht nach sehr bald für sich feststellte, dass er gegen das System nicht ankommen könne und resignierte. Ich weiß gar nicht mehr, ob über seine familiären Hintergründe etwas geschrieben wurde. Durch seine körperliche Erscheinung war er in einer Sonderstellung, wie Werner mit seinem Talent. Das verlieh ihnen sicher einen gewissen Schutz, sonst hätte Werner durch sein indirektes Festhalten an Frederick auch unter Anfeindungen in der Schule leiden müssen.



    Das fand ich jetzt überhaupt nicht schlimm. Es war so, dass die Leute eher etwas zu rauchen, als zu essen hatten und es zeigt im Grunde den Gemütszustand. Natürlich hätte man den auch anders beschreiben können, aber schlimm fand ich das nicht. Es war so. Schau dir nur mal Filme aus dieser Zeit an. Was da geraucht wird, das geht auf keine Kuhhaut. :breitgrins:


    Die Zigaretten fielen mir auch auf. Sie waren sein Ventil. Ein ausgleichender Genuß. Er musste Marie-Laure gegenüber stets Zuversicht ausstrahlen, sie mit Hoffnung erfüllen. Irgendwie musste seine Anspannung sich entladen. In seinem Fall durchs Rauchen.



    "Sie hört sein Feuerzeug, das Saugen und Aufglühen des Tabaks." (Seite 87) - Ich bezweifle, ob ich das Aufglühen des Tabaks hören kann.


    Allerdings denke ich, dass sie, da sie ja ihr Augenlicht erst mit sechs/sieben verlor, durchaus noch Vorstellungen von den Dingen in ihrer Erinnerung hat, was ihr die Vorstellung möglicherweise erleichtert.


    Wenn es um dich herum ruhig ist, dann kannst auch du dieses Geräusch hören. Wir Sehenden achten nur nicht so darauf.
    Marie-Laure Fähigkeit noch einige Jahre sehend durchs Leben zu gehen, hat ihr bestimmt das eine oder andere erleichtert. Man kann sich Dinge einfach besser vorstellen, wenn man sie schon einmal gesehen hat. Man sich zwar vieles ertasten, mit Gerüchen und Geräuschen identifizieren, aber so Sachen wie Farben können sich wahrscheinlich nur Menschen, die mal sehend waren, richtig vorstellen. Ich habe mir aber sagen lassen, dass die Erinnerung daran mit der Zeit verblassen kann.

  • Ich war mal auf einem Seminar, wir waren damals alle so 14,15... Wir wurden nachts geweckt und rausgescheucht. Ohne dass wir Zeit hatten uns was anzuziehen. Wir wurden 2km im Regen im Dauerlauf durch den Wald getrieben und am Ende ließen sie uns hinknien und mit der Hand auf dem Herz die Nationalhymne singen. Einige heulten, weil sie erschöpt, müde waren, aber auch aus Angst, Stress..die wenigsten weigerten sich.


    Um Himmels Willen, wo war das denn? :entsetzt: Das ist ja schlimm.

  • Ich habe etwas Probleme damit, meine vielen Kommentare, die ich während des Lesens aufgeschrieben habe, thematisch unter einen Hut zu bekommen und zusammenzufassen, damit nicht alles so unsortiert ist. Gar nicht so einfach - ich mache mal den Anfang mit dem
    Erzählstil:
    Sehr gelungen finde ich es, dass die die Einzelschicksale der beiden jungen Protagonisten wechselweise erzählt werden und schon zu Anfang angedeutet wird, dass sich die beiden Handlungsstränge zumindest kurzzeitig überschneiden werden.
    So hat man auch bei den vielen Zeitsprüngen stets im Hinterkopf, dass sich die beiden Geschichten fast schon auf unheilvolle Weise aufeinander zu bewegen, auch wenn man die Hintergründe noch nicht ganz erfassen kann.
    Das Ganze bringt eine unglaubliche Spannung in die Geschichte, die einen fast atemlos immer weiter lesen lässt und einen unheimlichen Sog auf mich ausgeübt hat.
    Die vielen Perspektiv-Wechsel haben mich zum Glück nicht irritiert, wobei ich schon bewusst darauf achten musste, zu welcher Zeit das Gelesene gerade angesiedelt ist.


    Etwas gestört haben mich anfangs die extrem kurzen Kapitel – aber Doerr gelingt es unglaublich gut auch in diesen kurzen Episoden so viel Emotionen und Atmosphäre zu vermitteln, dass auch noch Raum für die besonderen magischen Momente und vielen poetischen Bilder bleibt.
    So hält man trotzdem oft nach den Abschnitten inne und denkt über das aufrüttelnde Gelesene und tolle eindringliche Formulierungen nach.
    Sehr gut passt auch die gewählte Erzählzeit im Präsens die mich sehr gut in die Ereignisse jener Zeit eintauchen und mich vieles irgendwie hautnah miterleben ließen. Gerade den Empfindungen der blinden Marie-Laure fühlte ich mich oft sehr nahe und konnte ihre „sinnlichen“ Wahrnehmungen hervorragend nachvollziehen.


    Sehr erstaunt, war ich, dass die Geschichte dann noch nach Kriegsende zwei weitere Zeitepochen streift und damit die Schicksale einiger Figuren noch zusätzlich abrundet. Für mich hat es gepasst und den Figuren (v. a. Volkheimer und Jutta) noch mehr Tiefe gegeben.


    Der dritte Handlungsstrang rund um den geheimnisvollen Diamanten dem „Meer der Flammen“ und seinem legendären Fluch und der Jagd des fanatischen Stabsfeldwebels Reinhold von Rumpel nach dem Original bringt zusätzlich Spannung in die Geschichte, die ich für meinen Geschmack gar nicht noch zusätzlich gebraucht hätte.


    Die Schicksale von Werner und Marie-Laure sind zudem durch die Rundfunkübertragungen der Wissenssendungen von Etienne sehr mystisch miteinander verknüpft, was ja erst zum Ende hin durch das Stück Claire de Lune aufgelöst wird.
    Ich fand es so wahnsinnig berührend, dass diese Hör-Erlebnisse des kleinen Werner und seiner Schwester im Waisenhaus im Ruhrpott erst richtig den Funken haben überspringen lassen, ihm eine ganz neue Welt eröffnet haben und sein Interesse an den Naturwissenschaften geweckt haben.
    Im Nachhinein habe ich mich allerdings schon gefragt, wie sie als Kinder solch komplizierte Dinge auf Französisch verstehen konnten. :zwinker: