John Boyne, A History of Loneliness/Die Geschichte der Einsamkeit

Es gibt 37 Antworten in diesem Thema, welches 7.320 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Lilli33.

  • John Boyne - Die Geschichte der Einsamkeit - PIPER


    Dublin, 1955-2012


    Der junge Odran Yates wächst in einem traditionsreichem katholischen Irland auf. Die Priester werden verehrt, die Religion rechtfertigt alles. Schnell ist man dabei einen Sündenpfuhl zu wittern, die ehelose Partnerschaft ist ein Sakrileg, einer geschiedenen Frau verweigert die Kirche die heilige Kommunion. Lieber verdammen als vergeben. Die Priester vertreten einen rachsüchtigen Gott, flammende Reden hallen gehässig in der kleinsten Kapelle wider.
    Doch das Volk huldigt seine Glaubensvertreter, weil es sie fürchtet.
    Odrans Mutter hat Angst, dass das neue Nachbarsmädchen ihren Sohn verdirbt und hat eine Offenbarung: Odran soll Priester werden und wer ist der frischgeküsste Junge schon, um die Worte seiner strengen Mutter anzuzweifeln. Der Verlust des Vaters und des Bruders in der Kindheit haben ihn geprägt, das Abenteuer als Teenager hat seine Mutter im Keim erstickt.
    Odran ist nun in Rom und wird ein Mann der Kirche, es scheint der richtige Weg für ihn zu sein, er fühlt sich berufen.
    Pater Yates hat ein gutes Herz und eine gewisse Leichtigkeit umgibt ihn, aber auch ihn erschüttert ein Skandal. Odran erfährt mit 23 was Versuchung ist und verliebt sich in eine römische Kellnerin..
    40 Jahre später resümiert er und fühlt sich pfadlos. Würdenträger werden nicht mehr glorifiziert, sein Irland hat sich verändert.


    Dieses Buch ist wie ein Fluss, schnell, kurvig, steinig mit Untiefen.
    John Boyne ist einer jener Autoren, die den Leser ab der ersten Seite in die Geschichte hineinziehen und nicht mehr loslassen.
    Uneingeschränkte Leseempfehlung!


    Danke an Literaturschock und den Piper-Verlag!


    5ratten


    Nach Korrektur erfolgt Streuung!


    Witziger Zufall, mein Neffe liest gerade in der Schule "Der Junge mit dem gestreiften Pyjama".

    Einmal editiert, zuletzt von SABO ()

  • Was für ein wunderbares Buch!
    Ein sehr sympathischer und in allen Zügen menschlicher Pater Yates erzählt aus seinem Leben.
    Mit deinen Höhen und Tiefen, seinen Abgründen und Spannungen.
    Ich mochte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen.
    Missbrauch an Kindern ist ein sehr sensibles Thema, mit dem Autor entsprechend umgeht.
    Auch wenn es dem Leser schnell klar wird, welches Spiel des Paters "bester Freund" spielt und wo die Probleme mit dem Neffen Aidan herrühren - dass Pater Yates die Zeichen nicht erkennt, nicht deutet und wahrscheinlich die Augen vor der unfassbaren Wahrheit verschließt, ist so unglaublich menschlich.
    Ich bin der Meinung, an die Nase können wir uns alle fassen. Leider!
    Von mir sehr gerne 5ratten.

    🐌

  • Kaufen* bei

    Amazon
    * Werbe/Affiliate-Link


    A history of loneliness ist mir direkt aufgefallen, als es im Forum das erste Mal auftauchte. Bis dahin hatte ich noch nichts von John Boyne gelesen, aber die begeisterten Kommentare haben mich neugierig gemacht.


    Bis jetzt
    Wenn eine Geschichte mit dem Tag beginnt, an dem ein Mann feststellt dass seine Schwester langsam den Verstand verliert, kann es keine fröhliche Geschichte sein. Gleich zu Beginn fällt mir auf, wie viele Vorwürfe sich Odran macht. Er hat seine Schwester zu selten besucht, sich nicht ausreichend um seine Neffen gekümmert und auch als Priester scheint er in seinen Augen versagt zu haben. Er wirkt traurig, resigniert und ich wollte herausfinden, warum das so ist.


    Dass er Priester wurde, kam mehr von seiner Mutter als von ihm. Die beschloss irgendwann, dass er dazu berufen war. Trotzdem kommt es mir so vor, als ob er mit dieser Entscheidung im Gegensatz zu manchen Jungen im Seminar nicht unglücklich gewesen ist. Die Geschichte seiner Mutter ist fast schon ein eigenes Buch wert. Im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen ihres Alters hat sie keinen Beruf gewählt, der nur eine Warteposition war bis sie endlich heiraten würde. Sie war Stewardess und hat ihren Beruf sehr geliebt. Als sie Ordans Vater trifft, ist es keine Liebe auf den ersten Blick, sondern eher Faszination.


    Ich finde es jedes Mal wieder unglaublich wenn ich lese, dass eine verheiratete Frau ihren Beruf aufgeben musst. Noch schlimmer fand ich allerdings, dass der Gemeindepfarrer sie förmlich gezwungen hat, bei ihrem Mann zu bleiben. Der hatte keine geregeltes Einkommen,vertrank das meiste Geld und zog sich immer mehr von der Familie zurück. Eine Trennung wäre sicher besser gewesen und wenn er die Familie hätte verlassen wollen, wäre das irgendwie gebilligt worden. Aber sie darf nicht einmal daran denken, denn natürlich ist es ihre Schuld dass er so ist, wie er ist. Sie hat ihn offensichtlich nicht genug unterstützt :grmpf:


    Was für eine Heuchelei, die es wahrscheinlich nicht nur in Irland gab.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

    Einmal editiert, zuletzt von Kirsten ()

  • Ist Odran wirklich so ahnungslos, wie er immer sagt? Ich habe bei ihm eher das Gefühl, dass er viele negative Dinge einfach nicht sehen will und sie deshalb ausblendet. Auf der anderen Seite ist er aber auch sehr offen, was ich bei einem katholischen Priester in Irland nicht erwarten würde. Es scheint ihn nicht im Geringsten zu stören, dass sein Neffe homosexuell ist. Und die Szene, als er seine Tätigkeit bei einer besorgten Mutter mit ihrem Sohn mit Gabriel Byrne in In Treatment vergleicht, hat mich zum Lächeln gebracht. Aber das war bis jetzt auch die einzige Szene, in er er nicht schwermütig klingt.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

    Einmal editiert, zuletzt von Kirsten ()


  • Ist Ordan wirklich so ahnungslos, wie er immer sagt? Ich habe bei ihm eher das Gefühl, dass er viele negative Dinge einfach nicht sehen will und sie deshalb ausblendet. Auf der anderen Seite ist er aber auch sehr offen, was ich bei einem katholischen Priester in Irland nicht erwarten würde. Es scheint ihn nicht im Geringsten zu stören, dass sein Neffe homosexuell ist.


    Gerade diese verschiedenen Facetten haben Odran für mich so glaubwürdig erscheinen lassen.


    Dass seine Mutter ihren Beruf aufgeben musste, nachdem sie geheiratet hatte, fand ich auch bescheuert. Aber das war damals sicherlich kein Einzelfall.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Dass seine Mutter ihren Beruf aufgeben musste, nachdem sie geheiratet hatte, fand ich auch bescheuert. Aber das war damals sicherlich kein Einzelfall.


    Meine Mutter hat sich einmal mit meiner Schwiegermutter über das Thema unterhalten. Bei meiner Schwiegermutter war das auch noch so üblich, aber sie hat zumindest bis zum ersten Kind weitergearbeitet.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Mir war nie bewusst, welches Ansehen ein Priester haben kann. So, wie die Mitreisenden von Ordan gebuhlt haben um ihm einen Gefallen tun zu dürfen- da kann ich schon verstehen dass ihm das peinlich war. Aber er sagt erst etwas, als es schon zu spät ist und dann kommt der ganze Frust über die Situation durch. Und ausgerechnet die Frau von der er sich das meiste Verständnis erhofft hatte, bringt seine Situation auf den Punkt und zeigt ihm seine Schwäche auf. Was zwar bedeutet, dass sie ihn wirklich versteht, ihm aber nicht weiterhilft.


    Mittlerweile werden die Zeichen immer deutlicher, was mit seinem Freund Tom nicht stimmt. Aber er sieht immer noch nichts, obwohl er schon fast mit der Nase darauf gestoßen wird.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

    Einmal editiert, zuletzt von Kirsten ()


  • Mir war nie bewusst, welches Ansehen ein Priester haben kann.


    Das war hier früher auch so. Mein Stiefvater hat sich immer tierisch aufgeregt über eine Situation in seiner früheren angeheirateten Verwandtschaft: seine erste Frau hatte einen Onkel, der Priester war und sich mit seinen zwei unverheirateten Schwestern eine Wohnung teilte. Die beiden lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab, jedes Wort aus seinem Mund war quasi das Evangelium, und kritisieren durfte man den heiligen Mann schon gleich gar nicht. Ürgs!

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Mittlerweile habe ich das Buch beendet und das ganze ein bisschen sacken lassen. Die Geschichte ist sicherlich nicht neu. Aber das so offen darüber geschrieben wurde wie sie unter den Teppich gekehrt wurde, habe ich so noch nicht gelesen.


    Das letzte Zusammentreffen von Odran und Tom war beeindruckend. Endlich gibt er zu, dass er nicht so ahnungslos war, wie er immer vorgegeben hat. Dass er es nicht sehen wollte und die Zusammenhänge nicht gemacht hat, ist etwas anderes. Aber Odran ist in in vielen Dingen so unschuldig, dass ich ihm das auch abnehme. Ganz anders Tom: er verdreht die Wahrheit und sieht sich als Opfer, das nicht aufhören konnte und deshalb auf ein Eingreifen von außen gewartet hat. Das fand ich ein starkes Stück.


    Trotz des schwierigen Themas ist A history of loneliness ein Buch, das aus der langen Liste meiner gelesenen Bücher herausragt.
    5ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.


  • Das letzte Zusammentreffen von Odran und Tom war beeindruckend. Endlich gibt er zu, dass er nicht so ahnungslos war, wie er immer vorgegeben hat. Dass er es nicht sehen wollte und die Zusammenhänge nicht gemacht hat, ist etwas anderes. Aber Odran ist in in vielen Dingen so unschuldig, dass ich ihm das auch abnehme.


    Das hat Boyne extrem gut gemacht. Mir hat auch gefallen, dass er mit Odran eine Priesterfigur geschaffen hat, die zwar ihre Fehler hat, aber dennoch sympathisch ist, statt den ganzen Stand in Bausch und Bogen zu verdammen.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Schön, dass Dir das Buch auch so gut gefallen hat. Ich habe letzte Woche mit meiner Buchhändlerin darüber gesprochen, die ist auch ganz begeistert.

  • Das hört sich interessant an. Ich kenne nur eine Verfilmung von Der Junge im gestreiften Pyjama und die hatte sehr gute Ansätze.


    Ich setze das Buch mal auf meine imaginäre SUB Liste...

  • Ich wollte schon längst von John Boyne etwas lesen, und nachdem mir vor einigen Wochen sein Jugendbuch "Der Schiffsjunge" schon gut gefallen hat, habe ich meinen Plan nun endlich in die Tat umgesetzt.


    Stilistisch ist "Die Geschichte der Einsamkeit" ein ganz anderes Kaliber - schließlich ist es für Erwachsene gedacht - trifft aber mit seiner sachlichen und dennoch einfühlsamen Art meinen Geschmack. Seine Schilderungen der Lebensabschnitte der Protagonisten und die Vorgänge an den verschiedenen Schauplätzen empfand ich als sehr realistisch. Die einzelnen Charaktere wurden gut dargestellt; allein bei Odran hatte ich Zweifel, weil er gegenüber Tom so blauäugig war und tatsächlich nichts bemerkt haben wollte. Darüber hinaus ist es schlecht vorstellbar, dass er so völlig ohne körperliche Bedürfnisse lebte. Ist das nicht vielmehr ein erfolgreiches Negieren oder Unterdrücken von Gefühlen?


    Das Thema selbst ist leider ein Dauerbrenner und trifft einen Nerv bei den Leserinnen. Nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Mal habe ich mir die Frage gestellt, warum das Zölibat von der katholischen Kirche so konsequent beibehalten wird. Es gibt genügend Religionen, die beweisen, dass es auch anders geht. Wenn die Geistlichen ein Leben mit Frau und Familie führen dürften, würde sich das Problem drastisch verringern. In dieser Hinsicht ist die Institution Kirche völlig überholt. Im Gegensatz zu Odran war das Vorgehen der kirchlichen Vorgesetzten äußerst glaubhaft. Die Kirche alleine als Ursache hinzustellen, wäre aber falsch. Viele der Täter waren früher selbst Opfer, allein das birgt schon Potenzial für ein Fehlverhalten.


    John Boyne spricht mit seinem Buch eine brisante Thematik an und hat sich damit sicher nicht nur Freunde gemacht.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

  • Broschiert: 416 Seiten

    Verlag: Piper Paperback (5. Oktober 2015)

    ISBN-13: 978-3492060141

    Originaltitel: A History of Loneliness

    Übersetzung: Sonja Finck

    Preis: 16,99 €

    auch als Taschenbuch, als E-Book und als Hörbuch erhältlich


    Ansichten eines Priesters


    Inhalt:

    Odran Yates war schon immer ein eher passiver Typ. So gehorcht er auch ohne Murren, als seine Mutter dem siebzehnjährigen Jungen einredet, er sei zum Priestertum berufen, und tritt in ein Dubliner Seminar ein. Hier fühlt er sich äußerst wohl, abgeschirmt von den Versuchungen der Welt, auf einem vorgegebenen Weg. Gerne verschließt Odran die Augen vor Dingen, die nicht sein dürfen, die er nicht sehen will - auch in seinem weiteren Leben.


    Meine Meinung:

    John Boyne ist ein großartiger, vielseitiger Erzähler, so auch in „Die Geschichte der Einsamkeit“, in dem er Jahrzehnte aus dem Leben eines irischen katholischen Priesters schildert, das sehr authentisch wirkt und viele Probleme der Kirche offenlegt.


    Eindrücklich erzählt Boyne vom teilweisen Untergang der Kirche. Anfangs, in den 1970er Jahren, wird Odran von der Bevölkerung jede Menge Respekt entgegengebracht, später wird er beschimpft und bespuckt, obwohl er selbst nichts getan hat. Oder weil er nichts getan hat? Zu viel ist passiert in dieser Kirche, die für die Menschen dasein soll und nicht sie zerstören. Und Odran sieht all die Jahre nicht, was los ist. Er lebt nach dem Motto „Scheuklappen auf und durch“. Der Bischoff wird ihn schon richtig leiten. Erst sehr spät kommt Odran ins Grübeln, was seine mögliche Mitschuld betrifft. Hätte er erkennen können oder gar müssen, was andere Geistliche für Verbrechen begehen? Hätte er etwas dagegen tun können?


    Diese Fragen können die Lesenden auch für sich selbst beantworten, und nicht nur in Bezug auf die Missstände in der Kirche, sondern in allen Lebensbereichen. „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ darf nicht unsere Devise sein!


    Zuweilen hätte ich Odran schütteln können, weil er so blauäugig durchs Leben geht, obwohl es so eindeutig ist, dass da etwas nicht stimmt. So war einiges für mich auch schon früh vorhersehbar. Als Odran später dann aus allen Wolken fällt, war ich wenig überrascht über die Enthüllungen.


    Fazit:

    In diesem Roman nimmt sich John Boyne eines aktuellen Themas an, das nicht nur die irische Kirche betrifft, sondern auch die anderer Länder, leider auch die deutsche. Toll erzählt und sehr lesenswert!


    ★★★★☆