Anne-Sophie Brasme - Dich schlafen sehen

Es gibt 10 Antworten in diesem Thema, welches 12.034 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von elsabina.

  • Dieses Buch habe ich schon vor längerer Zeit gelesen, aber in eindrucksvoller Erinnerung behalten.


    Doris hat mich gerade dazu gebracht, meine alte Rezi rauszusuchen:


    Junge, talentierte Autorin, Bestsellerlistentopper, Thema: eine eskalierende Mädchenfreundschaft, erzählt aus der Sicht der ewig unterdrückten Freundin. Klingt verdächtig nach Betroffenheitsliteratur im Stil der deutschen "Fräuleinwunder". Ist es aber zum Glück nicht!


    Gestern abend habe ich "Dich schlafen sehen" von Anne-Sophie Brasme beendet, und ich muß zugeben, daß es selten vorkommt, daß ich bei einem Buch wirklich Herzklopfen bekomme, aber dieser schmale Roman war eines der raren Bücher, die das schaffen.


    Thema ist die Freundschaft zwischen zwei ungleichen Mädchen. Charlène war ein fröhliches, wildes Kind und hatte auch eine beste Freundin, Vanessa. Doch als Vanessa wegzog, wurde alles anders. Mit Beginn der Pubertät wurde Charlène immer mehr zur Außenseiterin. Sie fühlt sich nicht wohl in der höheren Schule und findet keine Freunde, kommt sich hässlich und uninteressant vor und merkt eines Tages bei einem Asthmaanfall im Sportunterricht, wie leicht es wäre, einfach mit dem Atmen aufzuhören und das anstrengende Leben hinter sich zu lassen.


    Zu diesem Zeitpunkt ist bereits Sarah in ihrer Klasse, die wie ein Magnet auf die anderen wirkt, vor allem aber auf Charlène. Sarah ist die einzige, die sie nach dem Zusammenbruch beim Sport im Krankenhaus besucht, und zwischen den beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Mit der Zeit bemerkt Charlène jedoch, daß Sarah sich von ihr zurückzieht und sie gelegentlich sogar brutal zurückweist, ihr haltlose Vorwürfe macht und ihr ohnehin geringes Selbstbewußtsein völlig vernichtet. Doch um Sarah nicht zu verlieren, erträgt sie jede Demütigung.


    Mit sechzehn verliebt sie sich, zunächst widerstrebend, in ihren Klassenkameraden Maxime, und Sarah kann es nicht ertragen, Charlène glücklich in den Armen eines anderen zu sehen. Sie macht ihr so lange Vorhaltungen, bis sie sich mit der Begründung, er habe sie nicht verdient, von Maxime trennt. Um Sarahs willen, die sie dann wieder vor den Kopf stößt. Eines Tages erträgt Charlène die ständige Unterdrückung nicht mehr und bringt Sarah um.


    Man weiß von Anfang an, daß das geschehen wird, doch diese Entwicklung bis zur Eskalation, diese Affenliebe Charlènes für ihre Peinigerin, ist so überzeugend realistisch geschildert, daß ich tatsächlich mit klopfendem Herzen die letzten 20-30 Seiten las und am Ende enttäuscht war, daß es schon fertig war. Das Erstaunliche an diesem Buch (und das ist nicht nur vom Klappentext abgeschrieben) ist für mich jedoch, daß die Autorin erst sechzehn war, als das Buch entstand. Da fragte ich mich, ob sie etwas Ähnliches selbst erlebt hat, um es so einfühlsam und mit reifer Beobachtungsgabe schildern zu können, oder ob sie über extrem viel Phantasie und psychologisches Feingefühl verfügt.


    Faszinierend und gleichzeitig abstoßend war es, Zeugin zu werden, wie Charlène sich selbst immer wieder verleugnet, ja sich selbst absichtlich alle Chancen verbaut und ihre liebsten Menschen vor den Kopf stößt, nur um sich Sarahs Freundschaft zu erhalten. Manchmal hätte ich sie am liebsten geschüttelt in ihrer Trägheit und ihrem Unvermögen, sich aus dem zerstörerischen Verhältnis zu lösen, dann wieder konnte ich sie sehr gut verstehen.


    5ratten


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    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





    Einmal editiert, zuletzt von Alfa_Romea ()

  • Danke für Deine tolle Rezension, Valentine!


    Mir erging es während des Lesens ähnlich wie Dir - ein ständiges Schwanken zwischen Verständnis für die einsame Schülerin, die ihre einzige Freundin nicht verlieren will, und Fassungslosigkeit über ihre Passivität angesichts der Demütigungen, die sie erträgt.


    Ich habe in einem Interview gelesen, das A.-S. Brasme tatsächlich eine Freundschaft hatte, die nach einem ähnlichen Schema verlaufen ist - allerdings nicht so intensiv und ohne tödliches Ende. Von daher weiß sie natürlich, wovon sie schreibt. Was mich aber noch mehr begeistert hat als das Einfühlungsvermögen, mit dem sie Charlene beschreibt, ist ihr eindringlicher und tief gehender Stil. Mit sechzehn haben manche Menschen bereits einschneidende Erlebnisse gemacht, aber kaum einer findet die richtigen Worte, um sich so auszudrücken.


    Mich hat das Buch sehr bewegt. Bei Amazon habe ich entdeckt, dass es mittlerweile ein zweites Buch von Brasme gibt: "Das erste Mal sah ich sie an einem Samstagnachmittag". Ich hoffe sehr, dass sie damit stilistisch an ihr erstes Buch anknüpfen kann.


    Liebe Grüße
    Doris

  • Danke auch Dir, Doris, für den Hinweis auf Brasmes neues Buch, das muss ich mir mal gelegentlich ansehen.


    Als ich "Dich schlafen sehen" gelesen habe, gab es das noch nicht.

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    Leonard Cohen





  • Ich habe das Buch gestern abend beendet und bin wirklich beeindruckt. Normalerweise lese ich solch dünne Bände gar nicht, aber Valentines Rezi hatte mich doch neugierig gemacht. :zwinker:


    Mir ging es genau wie euch. Einerseits tat mir Charlène sehr leid, andererseits hätte ich sie gerne zu einem (guten) Psychologen geschickt, der ihr aus diesem Teufelskreis heraushilft.


    Charlénes Gefühle waren sehr glaubhaft dargestellt. Situationen in denen sie der Lächerlichkeit preis gegeben wird, oder sie fünftes Rad am Wagen ist, haben mir richtig in der Seele weh getan.
    Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Charlène am Ende die Kraft hat, Sarah zur Rede zu stellen und ausnahmsweise mal sie in die Enge zu treiben. Am liebsten wäre ich Sarah selber "an die Gurgel" gegangen. Ich konnte sehr gut verstehen, dass Charlène den Mord nicht bereut.


    Ich frage mich, wie es überhaupt so weit kommen konnte? Wo der Punkt war, ab dem sich Charlène so krankhaft auf sie versteift hat? Und ob Sarah von Anfang an so berechnend war, oder ob die Veränderung erst in den Ferien kam.


    Auf jeden Fall ein Buch, was man so schnell nicht vergisst. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Autorin etwas Ähnliches selber erlebt hat.

  • Zitat von "Thanquola"

    Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Charlène am Ende die Kraft hat, Sarah zur Rede zu stellen und ausnahmsweise mal sie in die Enge zu treiben. Am liebsten wäre ich Sarah selber "an die Gurgel" gegangen. Ich konnte sehr gut verstehen, dass Charlène den Mord nicht bereut.


    Ich kann mir gut vorstellen, dass eine solche massive Manipulation öfter mit dem Tod eines der beiden Betroffenen endet, als man denkt, denn diese Situationen gibt es im wirklichen Leben auch oft genug, wobei sie dann zusätzlich noch mit körperlicher Gewalt gekoppelt sind. Wenn man sich in diesem Maß von einer anderen Person abhängig macht, ist für den Unterdrückten ein Entkommen wahrscheinlich nur möglich, wenn es für einen der beiden mit dem Tod endet. Ich möchte fast behaupten, dass einige Selbstmorde in unserer Gesellschaft darauf zurückzuführen sind.


    Zitat von "Thanquola"

    Und ob Sarah von Anfang an so berechnend war, oder ob die Veränderung erst in den Ferien kam.


    So wie ich mir Sarah vorstelle, war sie schon immer so. Wenn sie Charlène nicht gefunden hätte, hätte es eine andere getroffen.


    Liebe Grüße
    Doris

  • Ich lese gerade dieses Buch und war anfangs etwas skeptisch, ob mir ein Buch einer 16jährigen gefällt. Ob es schon die Tiefe, Einfühlungsvermögen und Weitsicht einer reiferen Autorin aufweisen kann.
    Und wie es kann! :anbet: Es übertrifft vieles was ich bisher gelesen habe.
    Klare Sprache und dennoch sehr, sehr lyrisch. Der Verlauf der Freundschaft, die mit dem Tod Sahras endet, ist psychologisch differenziert beschrieben.


    Es erinnert mich manchmal an Francoise Sagan, die mit 18, als sie durch ihre Abiturprüfung fiel, innerhalb von zwei Wochen Bonjour tristesse schrieb, was sofort zum Bestseller wurde.


    :tipp: Unbedingt lesen!


    Lg
    Germa

  • Hallo zusammen,


    ich habe gestern "Dich schlafen sehen" zu ende gelesen und bin ebenfalls sehr begeistert von diesem Buch. Es ist wirklich beeindruckend.


    Sehr faszinierend fand ich zum Beispeil, dass ich als Leserin sehr dazu geneigt war mich mit der Protagonistin zu indentifizieren. Das ist hier wirklich außergewöhnlich gut gelungen. Charlène tat mir leid und Sarah, dieses Miststück, fand ich wirklich schrecklich. Es hat etwas gedauert bis ich mir wieder der rein subjektiven Sichtweise bewusst wurde, und dass eigentlich keinesfall klar ist, ob Sarah tatsächlich so schrecklich ist und wenn ja, was sie dazu gebracht hat. Einzig die Stelle mit der Reaktion der anderen Mädchen auf der Silvesterfeier deutet darauf hin, dass Charlies Interpretation stimmig ist. Aber es bleibt die Frage, was dem tatsächlich voran gegangen ist? Auf mich wirkte Charlène überhaupt nicht wahnsinnig. Ich fand sie vielmehr reflektiert, gefühlvoll und intelligent. Ich konnte ihr Denken sehr gut verstehen. Das fand ich sehr interessant, denn objektiv betrachtet bleibt doch auch noch eine andere Möglichkeit. Der Gedanke, dass Sarah eventuell doch nur ein ganz normales (vielleicht sogar sehr hilfsbereites) Mädchen sein könnte, das lediglich den wahnhaften Kostrukten eines psychisch kranken Mädchens zum Opfer gefallen ist, kam mir erst bei dem einen Telefonat (nach den vielen Anrufen).
    Ich bin absolut begeistert davon, wie überzeugend die Figur der Charlène dargestellt ist und wie sehr man mit ihr leidet und sich mit ihr verbündet und dabei vergisst, dass man nur die eine Sicht der Dinge hat.


    Ebenfalls bemerksenswert ist die schöne und gefühlvolle Ausdrucksweise der jungen Autorin Brasme. "Dich schlafen sehen" ist wirklich ein tolles Buch und ich bin froh, dass ich durch das Forum darauf aufmerksam geworden bin.


    5ratten


    Liebe Grüße
    Tia

  • Ich habe das Buch vor ein paar Jahren gelesen...kann mich leider kaum dran erinnern, außer das es mir sehr gefallen hatte...wird wohl Zeit für einen Re-Read :zwinker:

    Books are the ultimate Dumpees: put them down and they’ll wait for you forever; pay attention to them and they always love you back.<br />John Green - An Abundance of Katherines<br /><br />:lesewetter: Caprice

  • Hi,


    bei mir ist es nun schon gut sechs Jahre her, dass ich es gelesen habe und ich weiß noch, ich habe es verschlungen.
    Mir gefiel hier vor allem die Einfühlsamkeit mit der diese doch sehr anspruchsvolle Geschichte zweier Mädchen erzählt wurde.
    Fast nicht zu glauben, dass die Autorin selbst damals erst 16 Jahre alt war. Doch sie schaffte es tatsächlich Tiefe zu erzeugen,
    mich zum Nachdenken zu bringen.
    Zu schade, dass ich mir damals nicht mehr dazu aufgeschrieben habe...
    Dennoch ein Buch welches ich mit gutem Gewissen gerne weiterempfehle. :zwinker:


    Grüssle
    Marion :winken:

    "Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt." Mahatma Gandhi

  • Hallo!


    Ich kann mich meinen Vorrednerinnen nur anschliessen. Dich schlafen sehen ist ein Buch das berührt. Die Geschichte der Freundschaft zwischen Charlène und Sarah kann überall passieren. In den meisten Freundschaften ist eine Person dominanter, aber bei den beiden Mädchen nimmt die Freundschaft eine dramatische Wendung. Dabei war ich mir anfangs bei Charlène nicht sicher weil ihre Probleme mit Familie und Mitschülern wie die unzähliger junger Mädchen in ihrem Alter klangen. Doch je mehr Sarah das Geschehen und Charlène beherrschte, desto mehr konnte ich mit Charlène mitfühlen und auch verstehen, warum sie sich nicht aus ihrem Griff befreien konnte. Man weiß von Anfang an dass die Geschichte tragisch endet, aber es geht hier nicht um das Ende, sondern um den Weg dahin.



    Das Erstaunliche an diesem Buch (und das ist nicht nur vom Klappentext abgeschrieben) ist für mich jedoch, daß die Autorin erst sechzehn war, als das Buch entstand. Da fragte ich mich, ob sie etwas Ähnliches selbst erlebt hat, um es so einfühlsam und mit reifer Beobachtungsgabe schildern zu können, oder ob sie über extrem viel Phantasie und psychologisches Feingefühl verfügt.


    Diese Gedanken gingen mir beim Lesen auch immer wieder durch den Kopf.


    5ratten


    Liebe Grüße
    Kirsten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • „Dich schlafen sehen“ ist das bewegende Debut der französischen Schriftstellerin Anne-Sophie Brasme. In ihrem Roman beschreibt sie wie wunderschön und gleichzeitig erschreckend Freundschaften zwischen jungen Mädchen sein können.


    Charlene und Sarah könnten nicht unterschiedlichere Charaktere sein. Die eine hat all das, was die andere nicht hat und sich sehnlichst wünscht, und weiß, wie sie diese Tatsache zu ihren Gunsten nützen kann.


    Sarah kann man wirklich nur als grausam bezeichnen. Wenn sie Charlene braucht, ist sie nett zu ihr, ansonsten beachtet sie sie nicht und beleidigt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Charlene ist so auf diese Freundschaft (Liebe) fixiert, dass ihr die Gemeinheiten auf der einen Seite nichts ausmachen und sie auf der anderen Seite davon überzeugt ist, selbst etwas falsch gemacht zu haben.


    Beide Mädchen sind sehr ausdrucksstark beschrieben und gewähren so tiefe Einblicke in ihrer beider Leben und ihre Freundschaft.


    Mit 192 Seiten ist der Roman eher kurz gehalten, überzeugt jedoch durch eine einfache Sprache (in der Charlene als Ich-Erzähler auftritt) und viele gefühlvolle Momente.