Dieses Buch habe ich schon vor längerer Zeit gelesen, aber in eindrucksvoller Erinnerung behalten.
Doris hat mich gerade dazu gebracht, meine alte Rezi rauszusuchen:
Junge, talentierte Autorin, Bestsellerlistentopper, Thema: eine eskalierende Mädchenfreundschaft, erzählt aus der Sicht der ewig unterdrückten Freundin. Klingt verdächtig nach Betroffenheitsliteratur im Stil der deutschen "Fräuleinwunder". Ist es aber zum Glück nicht!
Gestern abend habe ich "Dich schlafen sehen" von Anne-Sophie Brasme beendet, und ich muß zugeben, daß es selten vorkommt, daß ich bei einem Buch wirklich Herzklopfen bekomme, aber dieser schmale Roman war eines der raren Bücher, die das schaffen.
Thema ist die Freundschaft zwischen zwei ungleichen Mädchen. Charlène war ein fröhliches, wildes Kind und hatte auch eine beste Freundin, Vanessa. Doch als Vanessa wegzog, wurde alles anders. Mit Beginn der Pubertät wurde Charlène immer mehr zur Außenseiterin. Sie fühlt sich nicht wohl in der höheren Schule und findet keine Freunde, kommt sich hässlich und uninteressant vor und merkt eines Tages bei einem Asthmaanfall im Sportunterricht, wie leicht es wäre, einfach mit dem Atmen aufzuhören und das anstrengende Leben hinter sich zu lassen.
Zu diesem Zeitpunkt ist bereits Sarah in ihrer Klasse, die wie ein Magnet auf die anderen wirkt, vor allem aber auf Charlène. Sarah ist die einzige, die sie nach dem Zusammenbruch beim Sport im Krankenhaus besucht, und zwischen den beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Mit der Zeit bemerkt Charlène jedoch, daß Sarah sich von ihr zurückzieht und sie gelegentlich sogar brutal zurückweist, ihr haltlose Vorwürfe macht und ihr ohnehin geringes Selbstbewußtsein völlig vernichtet. Doch um Sarah nicht zu verlieren, erträgt sie jede Demütigung.
Mit sechzehn verliebt sie sich, zunächst widerstrebend, in ihren Klassenkameraden Maxime, und Sarah kann es nicht ertragen, Charlène glücklich in den Armen eines anderen zu sehen. Sie macht ihr so lange Vorhaltungen, bis sie sich mit der Begründung, er habe sie nicht verdient, von Maxime trennt. Um Sarahs willen, die sie dann wieder vor den Kopf stößt. Eines Tages erträgt Charlène die ständige Unterdrückung nicht mehr und bringt Sarah um.
Man weiß von Anfang an, daß das geschehen wird, doch diese Entwicklung bis zur Eskalation, diese Affenliebe Charlènes für ihre Peinigerin, ist so überzeugend realistisch geschildert, daß ich tatsächlich mit klopfendem Herzen die letzten 20-30 Seiten las und am Ende enttäuscht war, daß es schon fertig war. Das Erstaunliche an diesem Buch (und das ist nicht nur vom Klappentext abgeschrieben) ist für mich jedoch, daß die Autorin erst sechzehn war, als das Buch entstand. Da fragte ich mich, ob sie etwas Ähnliches selbst erlebt hat, um es so einfühlsam und mit reifer Beobachtungsgabe schildern zu können, oder ob sie über extrem viel Phantasie und psychologisches Feingefühl verfügt.
Faszinierend und gleichzeitig abstoßend war es, Zeugin zu werden, wie Charlène sich selbst immer wieder verleugnet, ja sich selbst absichtlich alle Chancen verbaut und ihre liebsten Menschen vor den Kopf stößt, nur um sich Sarahs Freundschaft zu erhalten. Manchmal hätte ich sie am liebsten geschüttelt in ihrer Trägheit und ihrem Unvermögen, sich aus dem zerstörerischen Verhältnis zu lösen, dann wieder konnte ich sie sehr gut verstehen.
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