Christine Wunnicke - Der Fuchs und Dr. Shimamura

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    Christine Wunnicke - Der Fuchs und Dr. Shimamura


    Amazon-Kurzbeschreibung:
    Vom Fuchs besessen, und das auch noch in Japan! Klarer Fall für Neurologen mit geschärftem Sinn für Menschen - vorzugsweise Frauen - neben der Spur. Dr. Shimamura (den es wirklich gab) reist in der Abendröte des 19. Jahrhunderts durch die Provinz, wo das burleske Krankheitsbild zur Folklore gehört. Ein liebestoller Student begleitet ihn, geht aber bald verloren, dafür fängt der Doktor sich selbst einen Fuchs ein (den es vielleicht auch gab). Da hilft nur noch Europa, und so flieht Shimamura auf Bildungsurlaub gen Westen, besteht neurologisch aufschlussreiche Abenteuer in Paris, Berlin und Wien. Allein, der Fuchs lässt ihn nicht los - auch nicht Jahrzehnte später zurück in Japan, wo sich dieses seltsame Leben, beäugt von allerhand weiblichem Familienanhang, seinem Ende zuneigt. Und so bleibt der Fuchs der unsichtbare Protagonist dieses zauberhaft fernöstlich getönten Gegenwartsromans.


    Meine Meinung:


    Leider habe ich diesen "zauberhaft fernöstlich getönten Gegenwartsroman" in dem Buch nicht finden können. Ja, der Protagonist Dr. Shimamura ist Japaner, aber daraus ergibt sich nicht automatisch ein fernöstlich getönter Roman - erst recht nicht, wenn besagter Protagonist (der nicht mal ein echter Dr. ist) sich über einen nicht unerheblichen Teil der Handlung in Europa aufhält. In den dort spielenden Rückblenden merkt man zwar, dass Shimamura mit dieser ihm völlig fremden Kultur zu kämpfen hat, aber stellenweise stellt er sich dabei für meine Sicht auch ziemlich umständlich an. Die sich daraus ergebenden Episoden werfen dann auch eher einen Blick auf das damalige Europa und bieten keine Einblicke in die japanische Zivilisation.


    Zauberhaft wird der Roman auch nicht dadurch, dass eine unerklärliche Krankheit die Bewohner entlegener japanischer Dörfer befällt, die gemeinhin "der Fuchs" genannt wird. Die Beschreibungen dieser Krankheit und des Verhaltens der Bewohner hätte einen guten Absprungpunkt für einen Ausflug in die japanische Mythologie und den Volksglauben bieten können, aber stattdessen durfte man als Leser nur miterleben, wie sich Shimamura vor seinen Landsleuten abwechselnd geekelt und angeödet gefühlt hat.


    Zu guter letzt habe ich auch nicht erkannt, was diesen Roman zu einem Gegenwartsroman macht - der Großteil der Handlung spielt in verschiedenen Vergangenheitsebenen und diese bestimmen maßgeblichen den äußerst handlungsarmen (und exzentrischen) Gegenwartsteil. Das ist nicht das, was ich unter "Roman über ein Thema aus der unmittelbaren Gegenwart" verstehe.


    Aus meiner Sicht gab es ein paar Punkte, aus denen man einen interessanten Roman hätte entwickeln können, aber so bleibt nur ein stellenweise wirres, stellenweise exzentrisches Werk, das weder zauberhaft, noch fernöstlich getönt, geschweige denn ein Gegenwartsroman und meiner Meinung nach auf keinen Fall preisverdächtig ist.


    2ratten

  • Ich habe das Buch am Wochenende gelesen und komme zu einem etwas wohlwollenderen Ergebnis als Du, liebe Myriel.


    Mir gefällt die Geschichte um Dr. Shimamura, der im Japan des späten 19. Jahrhunderts unterwegs ist, um Frauen zu untersuchen, die angeblich "vom Fuchs" befallen sind und allerlei hysterisches Verhalten oder andere psychische und körperliche Auffälligkeiten an den Tag legen. Im Laufe seiner Untersuchungs- und Forschungsreisen, die ihn u.a. nach Europa führen, wird jedoch deutlich, dass auch er selbst empfänglich für gewisse psychische Ausfälle ist, und so war ich als Leser bei der Schilderung seiner Erinnerungen nie ganz sicher, was Realität ist, was Einbildung und was Fieberwahn. Insbesondere, da sich am Ende so manches Ereignis anders als gedacht herausstellt, aber das wird hier aus Spoilergründen nicht verraten. :zwinker:


    Schön und bisweilen ziemlich komisch fand ich die Schilderung der häuslichen Umgebung Dr. Shimamuras, insbesondere seiner Mutter und seiner Schwiegermutter, die rüstigen und rührigen alten Damen des Hauses, die um sein Wohl besorgt sind. Und zu der singenden Haushälterin, deren Namen er sich partout nicht merken kann, hegt er eine ganz eigene Zuneigung. :breitgrins:


    Interessant zu lesen war auch, wie einige der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa tätigen Geisteswissenschaftler wie Charcot, Tourette, Breuer und Freud in die Geschichte eingebaut wurden. Dem Klappentext auf der Rückseite des Buches ist übrigens ein Gemälde von André Brouillet von 1887 unterlegt, das Charcot und seinen Assistenten Babinski dabei zeigt, wie sie an der Salpêtrière, dem damals berühmten Pariser Nervenkrankenhaus, die hysterische Patientin Blanche Wittman in hypnotisiertem Zustand vorführen (Bild in der Wikipedia: -> klick).


    Die schöne Aufmachung dieses kleinen Büchleins hat mir überhaupt ganz gut gefallen, insbesondere die schönen Abbildungen von Holzschnitten mit Fuchsmotiven im Buch und auf dem Cover.


    Was mich jedoch beim Lesen immer wieder ins Stocken brachte, weil es relativ häufig vorkam, und was ich der Autorin oder einem etwas zu nachsichtigen Lektorat anlaste, ist die transitive Verwendung des Begriffs "erinnern" (also wie z.B. in der Wendung: "Er erinnerte den Geburtstag..."). Für mich klingt so etwas immer wie ein missglückter Anglizismus ("to remember sth."), habe mich aber auch schon belehren lassen müssen, dass diese Formulierung in einigen Regionen umgangssprachlich geläufig sein soll. Ich finde sie allerdings furchtbar und bin der Meinung, sie hätte für die Druckfassung korrigiert werden müssen. Auch der Zwiebelfisch ist kein Freund von ihr. :zwinker:



    Zauberhaft wird der Roman auch nicht dadurch, dass eine unerklärliche Krankheit die Bewohner entlegener japanischer Dörfer befällt, die gemeinhin "der Fuchs" genannt wird. Die Beschreibungen dieser Krankheit und des Verhaltens der Bewohner hätte einen guten Absprungpunkt für einen Ausflug in die japanische Mythologie und den Volksglauben bieten können, aber stattdessen durfte man als Leser nur miterleben, wie sich Shimamura vor seinen Landsleuten abwechselnd geekelt und angeödet gefühlt hat.


    Ja, da hast Du nicht ganz unrecht. Sagen wir mal so: Es wird einiges an Kenntnis der fernöstlichen bzw. der japanischen Mythologie und Kunstgeschichte vorausgesetzt, wie z.B. die Rolle des Fuchses oder der Fuchsgöttin Inari im Glauben der Bevölkerung, einiges wird aber auch erklärt oder kurz angerissen.



    Zu guter letzt habe ich auch nicht erkannt, was diesen Roman zu einem Gegenwartsroman macht - der Großteil der Handlung spielt in verschiedenen Vergangenheitsebenen und diese bestimmen maßgeblichen den äußerst handlungsarmen (und exzentrischen) Gegenwartsteil. Das ist nicht das, was ich unter "Roman über ein Thema aus der unmittelbaren Gegenwart" verstehe.


    An der Klassifizierung als "Gegenwartsroman" würde ich mich jetzt nicht zu sehr festbeißen. Diejenigen, die den Klappentext verfassen, müssen nicht unbedingt das Buch gelesen haben. :zwinker:


    Insgesamt hat mir die Geschichte um Dr. Shimamura recht gut gefallen, und ich vergebe:
    4ratten

  • Und ich frage mich jetzt lesen oder doch nicht lesen?


    [quote author=MacOss link=topic=38125.msg935676#msg935676]
    Es wird einiges an Kenntnis der fernöstlichen bzw. der japanischen Mythologie und Kunstgeschichte vorausgesetzt, wie z.B. die Rolle des Fuchses oder der Fuchsgöttin Inari im Glauben der Bevölkerung, einiges wird aber auch erklärt oder kurz angerissen.
    [/quote]


    Versteht man das Buch beziehungsweise zieht man einen Genuss aus der Lektüre, wenn man keinerlei Vorkenntnisse hat? Ich bin, nachdem ich deine Meinung gelesen habe, sehr interessiert, habe aber von japanischer Mythologie oder gar Kunstgeschichte überhaupt keine Ahnung.

    Einmal editiert, zuletzt von dodo ()

  • Ich bin der Meinung, dass man das Buch auch ohne entsprechende Kenntnisse verstehen kann. Aber da das Buch sich ja ausdrücklich mit dem Fuchs beschäftigt, sollte man schon wissen, dass der Fuchs in Japan eine ganz besondere Bedeutung hat und sowohl als Glücks-, aber auch als Unheilsbringer gesehen wird. In der japanischen Mythologie und in den überlieferten Geschichten tauchen häufig vielschwänzige Fuchsgötter auf oder Füchse, die Menschengestalt annehmen können. In Japan drückt sich die Fuchsverehrung auch heute noch dergestalt aus, dass an vielen Orten - insbesondere in oder bei shintoistischen Schreinen - Fuchsstatuen stehen (z.B. solche), die auch heute noch oft als Zeichen der Verehrung Tücher umgebunden bekommen, wie z.B. hier eine Statue der Fuchsgöttin Inari: klick.

  • Schöne Rezi, MacOss!



    Was mich jedoch beim Lesen immer wieder ins Stocken brachte, weil es relativ häufig vorkam, und was ich der Autorin oder einem etwas zu nachsichtigen Lektorat anlaste, ist die transitive Verwendung des Begriffs "erinnern" (also wie z.B. in der Wendung: "Er erinnerte den Geburtstag..."). Für mich klingt so etwas immer wie ein missglückter Anglizismus ("to remember sth."), habe mich aber auch schon belehren lassen müssen, dass diese Formulierung in einigen Regionen umgangssprachlich geläufig sein soll. Ich finde sie allerdings furchtbar und bin der Meinung, sie hätte für die Druckfassung korrigiert werden müssen. Auch der Zwiebelfisch ist kein Freund von ihr. :zwinker:


    Wahrscheinlich wundert es Dich jetzt nicht, dass ich das auch hasse wie die Pest, weil es mir damit GANZ genauso geht wie Dir. (Und die regional übliche Verwendung lasse ich nicht gelten, denn demnach wäre ja auch "besser wie" statt "besser als" zulässig!)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Dr. Shimamura ist alt und krank, er lebt mit Frau, Mutter und Schwiegermutter zusammen, die sich um ihn kümmern. Was er hat, wird nicht ganz klar, vielleicht ist es auch etwas psychologisches, war das doch sein Thema als Mediziner. Im ausgehenden 19. Jahrhundert untersuchte er zunächst in Japan Fälle von Fuchsbesessenheit, um nach einigen unglücklichen Ereignissen, die einen Skandal hätten ergeben können auf Forschungsreise durch Europa zu ziehen. In Paris, Berlin und Wien trifft er die Väter der europäischen Psychologie.


    Der erste Eindruck war positiv, die Zeichnung auf der ersten Seite gefällt mir sehr gut. Leider ging es nicht so angenehm weiter. Die Kombination Psychologie und Japan fand ich interessant, aber bis zum Schluss blieb ich unentschlossen, was dieses Buch denn nun von mir will. Die Autorin schreibt sehr kleinteilig, detailverliebt, benutzt lieber drei Worte statt einem, um etwas auch ganz genau zu beschreiben. Das gefiel mir sogar ganz gut, es trägt dazu bei eine ganz besondere Stimmung einzufangen. Allerdings kann ich den von der Autorin erzählten Begebenheiten keinen Sinn, dem Roman keinen roten Faden entnehmen. In gewisser Weise ist es damit ein typisch japanischer Roman, aber es fehlt der Charme der Fremdheit, die ich an japanischen Büchern mag und die mich über meine Verständnislosigkeit für gewöhnlich hinwegtröstet Die Fremdheit dieses Buches empfinde ich nicht als faszinierend, sondern eher als unangenehm und (ver-)störend.


    Ich kann schon verstehen, warum dieses Buch 2015 für den deutschen Buchpreis nominiert war, es bietet unendlich viele Interpretationsansätze, aber es hat mir längst nicht so viel Spaß gemacht, wie ich es mir erhofft hatte.


    3ratten

    Einmal editiert, zuletzt von illy ()

  • 4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:


    Ich muss zugeben, dass mir der Einstieg in dieses Buch nicht gerade leicht fiel. Der junge Neurologe Dr. Shimamura reist 1891 in die japanische Provinz um Frauen zu untersuchen, die vom Fuchsgeist besessen sein sollen. Fuchsgeist? Besessene Frauen? Soll damit die Tollwut gemeint sein? Bevor ich weitergrübelte, recherchierte ich ein bisschen und stieß auf eine Seite der OAG, der Ostasiatischen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, die mir die besondere Beziehung der japanischen Gesellschaft zum Fuchs deutlich machte (siehe oag.jp/images/publications/oag_notizen/Notizen_Feature_Fuchs_und_Fuchsglaube_in_Japan.pdf). Danach fiel mir das Lesen deutlich leichter :breitgrins:
    Doch ich blieb beim Recherchieren. Denn nicht nur Dr. Shimamura (wie auf der Umschlagseite vermerkt) war eine reale Person, auch alle anderen auftauchenden Figuren, denen er während seines Stipendiums in Europa begegnete, waren existent, sodass ich mir nach und nach einen umfangreichen Überblick über die Anfänge der Neurologie verschaffen konnte. Alle äußeren Merkmale wie auch öffentliche Beziehungen scheinen wahrheitsgetreu wiedergegeben worden zu sein - das Ganze dann angereichert durch die vermutlich fiktiven persönlichen Merkmale der Einzelnen und deren Verhältnis zu Dr. Shimamura.
    Diese Verflechtung von Realität und Fiktion wirkt mustergültig - als ob die Autorin als Zeitgenossin an den Geschehnissen beteiligt gewesen wäre. Wer über das reine Lesen des Buches hinaus sich ein wenig mit den darin vorkommenden Personen beschäftigt, wird vielleicht bald von der Geschichte der Neurologie und Psychoanalyse gefesselt sein (siehe beispielsweise spiegel.de/einestages/jean-marie-charcot-und-die-hysterieforschung-in-der-pariser-salpetriere-a-951005.html). Mir ist es zumindest so ergangen und so hat das Lesen dieses dünnen Büchleins wesentlich länger gedauert als gedacht :breitgrins: Und mich nicht nur sehr gut unterhalten, sondern auch mein Wissen erweitert.

    Je mehr sich unsere Bekanntschaft mit guten Büchern vergrößert, desto geringer wird der Kreis von Menschen, an deren Umgang wir Geschmack finden.    Ludwig Feuerbach (1804 - 1872)