Astrid Lindgren - Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-45

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  • Habe heute angefangen und bin echt begeistert:


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    Schon komisch; Kriegstagebücher sind sonst gar nicht meine Sache, aber dieses ist wirklich liebevoll gestaltet, mit Bildern der echten Tagebücher, ein paar Fotos und marmorierten (gedruckten) Seiten, die jeweils das neue Jahr einleiten. Und dann hat Lindgren, jedenfalls auf Deutsch, diesen sehr einlullenden Satzbau, der immer an der Grenze zwischen beruhigend und interessant ist. Man schläft nicht ein, aber wird irgendwie eingelullt.


    LG von
    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()

  • Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-45


    Ach, das gibt es schon auf Deutsch? Das ist doch erst dieses Jahr in Schweden erschienen. Es liegt bei mir leider noch ungelesen rum.

    Wir sind irre, also lesen wir!

    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Das ist wohl kürzlich rausgekommen. Denis Scheck hat es kürzlich auch (sehr wohlwollend) erwähnt.


    Ich war mal so frech, das aus dem "Was lest Ihr"-Thread herauszulösen, weil Keshia schon eine schöne Einschätzung abgegeben hat. Wäre schade, wenn das unterginge.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Okay, ich habe keine offizielle Rezension eingestellt, weil ich wirklich wenig über das Buch sagen kann. Ich lese es jetzt zum zweiten Mal, und kann erst mal mangels Wissen ihre Informationen schlecht beurteilen.


    Interessant ist der Gegensatz zwischen den Infos, die Astrid über den Krieg sammelt und ihrem doch relativ "normalen" Leben in Schweden. Es gibt Geburtstage und Weihnachtsvöllereien, Seite an Seite mit Lebensmittelknappheit und Angst um Einberufungen. Interessant fand cih, wenn ich das nicht überlesen habe, dass sie sehr viel von ihrer kleinen Tochter (5 Jahre bei Kriegsausbruch) schreibt, und detailliert deren Geschenke zu Weihnachten und Geburtstag auflistet, sowie Aktivitäten mit der Tochter beschreibt, aber vom Sohn viel weniger erzählt, obwohl der auch erst im Teenageralter ist. Mein Eindruck war, dass "Lasse" nicht so in ihrem Fokus stand, was im Lichte verschiedener Dokus, in denen sie darüber erzählt, dass sie zeitlebens Schuldgefühle aufgrund der ersten Jahre, die ihr Sohn ohne sie verbringen musste, hatte. Das kam für mich in diesem (okay, Kriegs-) Tagebuch gar nicht so rüber.


    Auffällig war für mich der angenehme Leserhythmus, wobei es schwer fällt, diesen dem Original oder der Übersetzung zuzuordnen.
    Es gibt ja Bücher, die sich aufgrund des Satzbaus sehr langsam lesen lassen, auch wenn die Sprache nicht schwierig ist - dieses gehört definitiv in die gegenteilige Kategorie.


    Schon in der Buchhandlung fiel mir das Gewicht auf: Das Buch ist viel schwerer als die Mannbiografie, die mMn noch ein paar Seiten mehr hat. Woran das liegt, konnte ich nicht feststellen, ob also der Einband so schwer ist oder das Papier so dickt (es kommt einem nicht so vor).


    Überrascht hat mich die Hartnäckigkeit (?) mit der Astrid Zeitungsartikel gesammelt hat. Heute ist das ja doch recht einfach - man googelt "Terror in Paris" und hat zahlreiche Infos in Klickweite. Damals war das doch noch viel schwieriger und ganz nebenbei musste die Zeitung noch gekauft werden und ggf. überlegt werden, ob man dafür am Zucker sparen muss. Und dann noch alles gelesen, bewertet, ausgeschnitten, eingeklebt werden. Und das alles in einem Krieg, in dem man sich Sorgen um den Ehemann macht und die Kinder noch bei Lauen halten, sowie den Alltag organisieren muss.


    Interessant war auch eine Zahl (fragt mich nicht, wo): Schweden hätte schon 50.000 Flüchtlinge aufgenommen und könnte nicht mehr verkraften. Heute rechnet man mit 190.000 Flüchtlingen im Jahre 2015. Vielleicht sagt das doch auch etwas über unsere Ansichten und geänderten Verhältnisse.


    ______________________
    Ich denke mal, wenn man das Buch wirklich ernsthaft rezensieren wollte, müsste man ziemlich fit im Kriegsverlauf und den Hintergründen sein - die meines Wissens noch nicht ganz geklärt wird, jedenfalls betreffend Schwedens Rolle im Krieg - sowie in Lindgrens Lebenslauf und dann mit diesem Wissen etwas zum Buch sagen. Das kann ich leider zur Zeit nicht, da ich nur eine Biografie von Lindgren gelesen habe und ein paar Dokus gesehen habe.



    LG von
    Keshia


    PS
    Mich würde aber eine echte Rezension von jemandem, der mehr Hintergrundinfos hat und das Buch besser bewerten kann, sehr interessieren! :zwinker: :zwinker: :zwinker:

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    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

    Einmal editiert, zuletzt von Keshia ()

  • Astrid Lindgren - Die Menschheit hat den Verstand verloren (Tagebücher 1939 - 1945)


    Wie die meisten kenne ich Astrid Lindgren als erfolgreiche Kinderbuchautorin, die bis ins hohe Alter aktiv war. Als ich von diesem Buch hörte war ich gleich interessiert, denn ich erwartete eine ganz andere Seite und so war es auch.


    Das Buch ist collagenartig gestaltet - pro Jahr gibt es zuerst Lindgrens eigene Aufzeichnungen und Gedanken zum 2. Weltkrieg, wenn auch recht knapp die Auflistung persönlicher Ereignisse wie Ferien, Geburtstage, Weihnachten, Radtouren und kurze Erwähnung alltäglicher Begebenheit sowie Kriegseinflüsse auf den Alltag, wie Rationierungen z.B.

    Ergänzt wird das Ganze durch die Abbildung aus den Originaltagebüchern inkl. der eingeklebten Artikel, und einer Übersetzung all ihrer eingeklebten Artikel.


    Es ist immer wieder eine besondere Erfahrung, Tagebücher aus dieser Zeit zu lesen - denn man ist ja in einem Wissensvorteil gegenüber dem Schreiber. Überraschend bzw. interessant fand ich dabei den Aspekt der "schwedischen " Sicht zum einen als eines der wenigen verschonten Länder und zum anderen welche Schauplätze, Schicksale und Verhandlungen größeren Raum einnehmen, als man selbst es kennt. So fanden die Ereignisse in Finnland und auch in Norwegen sehr viel Platz in Zeitungsausschnitten (1945 v.a. Quislings Prozess) und persönlichen Gedanken, wie auch die immer bleibende Angst vor den Russen.

    Wie gut es der Familie Lindgren ging erfährt man besonders in der Auflistung der Geschenke zu Geburtstagen und Weihnachten und der Einträge über das Essen, welche es zu Festen gab.

    Im Gegensatz zu Keshia empfand ich es nicht so, dass ihr Sohn Lasse weniger Raum einnimmt, als Ihre Tochter Karin. Oft werden Radtouren mit ihm erwähnt, Schulprobleme, Geburtstage und Weihnachten. Er war einfach schon um einiges größer und hat schon vieles selbstständig gemacht, während Karin zu Kriegsbeginn ja gerade 5 Jahre alt war. Insgesamt fand ich diese Einblicke sehr schön und wichtig für den persönlichen Charakter.


    Dass diese Tagebücher etwas besonders sind, genau wie Astrid Lindgren selbst wurde mir an 2 Punkten so richtig klar - sie ist nach Stockholm gegangen und hat einen unehelichen Sohn (der als Kleinkind in Kopenhagen zur Pflege lebte) und sie war in ihrer Zeit interessiert und verfolgte das politische Geschehen und schrieb diese Tagebücher. Karin schreibt in ihrem Nachwort, dass diese Tagebücher für sie ganz normal waren und auch ihr erst später aufgegangen ist, dass sie es nicht sind.


    Keshia verstehe ich auch dahingehend nicht, dass sie glaubt das Buch mangels Detailkenntnissen zum 2.WK nicht beurteilen zu können - ich finde man kann dieses Buch für sich stehen lassen - es zeigt genau den Einblick in ein Weltgeschehen was sie ganz genau so erlebt hat. Das ist ihre Wahrnehmung und genau das ist spannend daran.


    Für mich ein absoluter Buchtipp.


    Viele Grüße

    schokotimmi

  • Astrid Lindgren konnte schon schreiben, als sie noch gar nicht so richtig damit begonnen hat. Das hat sie mit ihren Kriegstagebüchern bewiesen.


    Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben, schreibt sie in ihrem ersten von siebzehn in Leder eingebundenen Tagebüchern. Astrid Lindgren war 32, verheiratet, Mutter zweier Kinder und hatte erst einige Kurzgeschichten in Zeitschriften veröffentlicht.

    Persönlich bekamen sie nicht viel vom Krieg mit: Ja, es gab Lebensmittelrationierungen, manchmal war der öffentliche Verkehr lahmgelegt, der Ehemann hatte militärischen Bereitschaftsdienst und die Preise stiegen.


    Und doch war jeder Tag geprägt von Angst, Angst, dass der Krieg auch zu ihnen kommen könnte.


    Warum sie diese Tagebücher begann, geht nicht aus ihnen hervor. Später sagte Astrid Lindgren mal in einem Interview, dass sie zu dieser Zeit das erste Mal eine politische Überzeugung hatte. Die ganze Familie diskutierte mit, selbst den Kindern las sie aus den Tagebüchern vor.

    Durch ihre Arbeit in der Abteilung für Postzensur im Stockholmer Zentralpostamt erfuhr sie, welche Auswirkungen der Krieg auf die Menschen hatte. Einige der Briefe, die sie während dieser Tätigkeit lesen musste, schrieb sie ab (obwohl das streng verboten war) und fügte sie den Tagebüchern hinzu.


    Schweden war, wie einige wenige andere Länder auch, neutral. Doch an den Grenzen gab es schon brenzlige Situationen. Besonders auf dem Meer, wo ein schwedisches U-Boot versank. Über diese Neutralität lässt sich wahrscheinlich diskutieren. Schweden verdiente am Krieg, ja auch die Familie Lindgren hat daran verdient.

    Aber Schweden konnte dadurch anderen Ländern mit seinen Ressourcen helfen. Und: Einer muss ja neutral sein, sonst würde es doch keinen Frieden geben - aus Mangel an Friedensvermittlern.


    Immer wieder blitzt auch die Angst vor den Russen durch. Astrid Lindgren verriet, lieber mit den Deutschen zu paktieren, als sich den Sowjets auszuliefern.

    Sie verstand auch die deutschen Menschen nicht: Mit einem Volk, das im Abstand von etwa 20 Jahren so gut wie die ganze übrige Menschheit gegen sich aufbringt, kann etwas nicht stimmen.


    Ich emfand das Lesen dieser Tagebücher als sehr interessant. Bisher habe ich ja meist Bücher gelesen, in denen einzelne Opfer berichten, aber so einen allumfassenden Überblick über diese Jahre - den habe ich nun in diesem Buch erfahren.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 91


    Gesamt seit März 2007: 1012

  • Als der 2. Weltkrieg ausbricht, ist der Name Astrid Lindgren noch ein völlig unbekannter. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Stockholm, arbeitet als Sekretärin und schreibt regelmäßig in ihr Tagebuch. Entsetzt stellt sie nicht lange nach Kriegsbeginn fest: "Die Menschheit hat den Verstand verloren!" Alles gerät aus den Fugen, nie gekannte Ängste und Sorgen plagen auch die Menschen selbst in einem neutralen Land wie Schweden. Die Zukunft ist vollkommen unsicher, und jedes Jahr an Silvester hofft Astrid erneut, dass dieses Jahr nun endlich den Frieden bringen möge.


    Lindgren verfolgt das Kriegsgeschehen an diversen Schauplätzen aufmerksam, sammelt Zeitungsausschnitte, die sie in ihr Tagebuch klebt und kommentiert. Viele davon sind als Faksimiles im Buch abgedruckt und komplett ins Deutsche übersetzt, damit verständlich wird, worauf genau sie an bestimmten Stellen Bezug nimmt. Das ist nicht nur optisch sehr ansprechend, sondern auch eine inhaltlich interessante Ergänzung zu Lindgrens persönlichen Aufzeichnungen, die einige Wissenslücken schließen kann. Über die Rolle Schwedens im 2. Weltkrieg, über die braune Regierung in Norwegen und die langen bitteren Auseinandersetzungen in Finnland, wo immer wieder die russischen Truppen vorstoßen und Land an sich reißen, wusste ich bislang wenig bis gar nichts.


    Anrührende authentische Zeitzeugnisse sind auch die Briefe, die Astrid Lindgren in der Zeit, als sie bei der Briefzensur arbeitete, heimlich abschrieb, um sie für die Nachwelt zu bewahren (was natürlich strengstens verboten war).


    Doch die Tagebücher sind nicht nur Chronik des Krieges, sondern erzählen auch von Astrid Lindgrens eigenem Leben in dieser Zeit. Manchmal schämt sie sich fast, weil es ihr so gut geht, ihr Mann eine gute Stelle hat, die Kinder gedeihen, trotz der immer schwieriger werdenden Versorgungslage immer genug zu essen auf dem Tisch steht, irgendwann dann die ersten Erfolge als Schriftstellerin. Und manchmal sind es die persönlichen Sorgen, die sie noch mehr belasten als die weltpolitische Lage - die häufige Krankheit ihrer Tochter, die miserablen Schulleistungen ihres pubertierenden Sohnes und schließlich das Allerschlimmste, das Fremdgehen ihres Mannes (wobei das nur angedeutet wird, doch man spürt, wie sehr sie leidet).


    Schon in ihren Tagebuchaufzeichnungen, die sie ja ursprünglich nur für sich selbst festgehalten hat, wird deutlich, wie gut Lindgren zu schreiben verstand und was für eine großartige Einstellung sie zu vielen Dingen hatte. Ihre Einträge sind klug, nachdenklich, besonnen, ehrlich, manchmal auch wütend angesichts ihrer Machtlosigkeit gegen all den Irrsinn in der Welt und oft von einer herrlichen Ironie.


    Die Hardcoverausgabe ist ausgesprochen schön aufgemacht mit einem schlicht, aber hübsch gestalteten Einband unterm Schutzumschlag, farbigen, den Originaltagebüchern nachempfundenen Zwischenseiten am Beginn jedes Jahres und den bereits erwähnten Originaldokumenten. Eingeleitet wird das Buch durch ein einfühlsames Vorwort von Antje Rávic Strubel und abgerundet durch ein umfangreiches Personenregister, erwähnenswert ist auch die ausgezeichnete Übersetzung von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs.


    Ein eindrucksvolles Zeitdokument aus der Feder einer tollen Frau.


    5ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Der Zweite Weltkrieg aus einer recht ungewohnten Sicht: Von einer Familienfrau (aber mit mit genaueren Einblicken..) wahrgenommen - und das von einem relativ unbeteiligten Land im Norden aus.

    Naturgemäß liegt ein großes Gewicht der "aktuellen Berichterstattung" auf den Ländern Finnland und Norwegen - das ist ungewohnt und beleuchtete bei mir einige dunkle Informationsecken. Insgesamt fand ich es lohnend, die Übersetzungen der (Faksimile-)Zeitungsartikel wirklich zu lesen - auch wenn ich einige Details zu Qisling am Ende dann doch nur noch überflogen habe.

    Besonders deutlich dargestellt und beeindruckend (weil von Lindgren auch so wahrgenommen) ist der Gegensatz zwischen den Kriegsgeschehnissen und einem relativ normalen Familienleben - und ganz nebenbei erleben wir die "Geburt" einer Schriftstellerin..


    Ein Buch, das ich behalten werde.

  • Besonders deutlich dargestellt und beeindruckend (weil von Lindgren auch so wahrgenommen) ist der Gegensatz zwischen den Kriegsgeschehnissen und einem relativ normalen Familienleben - und ganz nebenbei erleben wir die "Geburt" einer Schriftstellerin..

    Wie sie das darstellt, hat mir auch gut gefallen. Sie hat ja oft geradezu ein schlechtes Gewissen, dass das Familienleben, abgesehen von Rationierungen und Brennstoffmangel, recht normal weitergeht.

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    Leonard Cohen