01 - bis Seite 70

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  • Unser erster Leseabschnitt - Anfang bis einschließlich Seite 70.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Erst nach dem Auspacken aus der Folie merkt man, wie edel der Einband wirklich ist. Es fühlt sich ganz samtig an und die Muscheln schimmern so schön. Muscheln wie Gehirnwindungen. Allein dafür sollte es schon einen dicken Stern geben. Und wie mir gerade erst auffällt passt es optisch auch zu "Alles Licht...". Tolles Verlagskonzept. :klatschen:


    Ich habe mich gar nicht genau damit befasst, worum es in dem Büchlein wirklich gehen wird, sondern einfach beworben, weil ich von "Alles Licht, das wir nicht sehen" so beeindruck war. Und nach dem ersten Kapitel bin ich total baff und überrascht über die Entwicklung dieser Geschichte.
    Es ist meine erste Novelle in einer Leserunde und ich habe das Gefühl, obwohl das Buch ja so dünn ist, dass sooo viel drinnen ist, wie in vielen sehr dicken Schmökern nicht annähernd.


    Schon das Gedicht am Anfang hat mich bewegt. Dazu muss ich einfach eine kurze Geschichte loswerden, denn seit zwei Jahren beschäftigt mich die Bedeutung des Gedächtnisses viel mehr als früher. Eines nachts hat meine Mutter angerufen und meinte, sie fühle sich so seltsam, sie befürchte, sie hätte einen Schlaganfall gehabt oder etwas ähnliches. Mein Mann und ich haben sie sofort abgeholt und ins Krankenhaus gefahren. Der Weg dorthin dauerte etwa 20 Minuten. In dieser kurzen Zeit hat sie 3 oder 4-Mal das Gleiche erzählt und gesagt. Also z.B. was sie am Nachmittag gemacht hatte, dass sie vor dem Fernseher eingeschlafen wäre und sich nach dem Aufwachen so seltsam gefühlt hätte. Sie fragte auch im 5-Minuten-Takt, wo wir sie den hinbrächten, was für ein Tag heute wäre... und dann fing sie wieder von vorne an.
    Wir mussten im Krankenhaus 2 Stunden auf einen Arzt warten (toller Service in der Nacht) und am Ende war ich fix und fertig, nachdem ich gefühlte 100 Mal meiner Mutter immer wieder das Selbe erzählen musste, weil sie ununterbrochen danach frage. Datum, Uhrzeit, Krankenhaus usw.
    Der Arzt erklärte uns, sie habe eine spezielle Form der Amnesie, die vor allem Frauen um die 70 hätten und - jetzt wird es seltsam - die nach wenigen Tagen wieder verschwinden würde. Es würde vor allem das Kurzzeitgedächtnis betreffen und man nehme an, es könnte eine Durchblutungsstörung sein. Aber genaues wisse man nicht. Meine Mutter hatte es wohl schon den ganzen Nachmittag und abend, denn sie konnte sich nicht erinnern, was sie genau gemacht hatte und ihr Freund, den sie besucht hatte, meinte auch, sie hätte sich seltsam benommen aber er hätte halt nicht so drauf geachtet, weil sie auf einer großen Feier gewesen wären.
    Tatsächlich war das Kurzzeitgedächtnis nach 2 Tagen wieder da und seitdem ist meine Mutter wieder gesund und munter wie vorher - ohne jedweden Aussetzer - zumindest kann ich nichts mehr feststellen. Aber diese zwei Tage waren der Horror - für uns, sie weiß ja von nichts - und ich kann mir ansatzweise vorstellen, wie es ist, wenn ein Mensch sein Gedächtnis verliert.


    Und genau so kommt es auch in diesem Buch vor. Als Pheko Alma in die Klinik fährt und sie 6mal fragt, wohin es geht. Natürlich hat sie noch viel mehr vergessen. Dieser Prozess des Vergessens und wie sie sich Schritt für Schritt auflöst, wird wirklich sehr eindringlich beschrieben. Die Zettel und Bilder überall, die kurzen hellen Augenblicke und dann wider ihre Verwirrtheit.


    Die Überraschung in diesem Buch ist natürlich, dass hier Erinnerungen aufgezeichnet werden können. Ich fragte mich schon, warum sie eine Perücke tragen muss und dann kam die Lösung. Die Vorstellung ist faszinierend und erschreckend zugleich. Ich habe zwar noch keine krankhafte Gedächtnisschwäche sondern nur die ganz "normale", die wohl jeden mal ereilt und würde mich nur allzu gerne an die schönsten Augenblicke meines Lebens so eindringlich erinnern können wie Alma mit dieser Maschine (z.B. als meine Jungs noch klein waren). Die Vorstellung ist verlockend. Allerdings sieht man auch gleich, dass hier Schindluder damit getrieben wird.


    Wie der Arzt fragt, ob sie meint, es wäre besser mit ihrem Gedächtnis geworden, da habe ich fast lachen müssen. So eine bescheuerte Frage an Alma, die nach 2 Minuten nicht mehr weiß, wo sie hingefahren wird. :grmpf:


    Roger will also mit Hilfe Luvos die Erinnerung finden, die ihn zum Fundort eines seltenen Dinosaurierskeletts führen könnte. Es ist ja eh verwunderlich, dass Alma in der Nacht noch nichts Schlimmeres passiert ist, wenn sie so ganz allene in ihren Haus bleibt. Eine Szene, die wie für's Kino gemacht ist (wie die ganze Geschichte, finde ich) wie Alma da jede Nacht ihre 3 Eier pult (und dann morgens keinen Hunger hat) und Rogers bei ihr steht während der Junge die Erinnerungen durchsucht. Lustig, wie sie ihn anpöbelt und wie durchscheint dass die zarte verwirrte Alma sicher mal eine resolute und durchaus schwierige Frau war. Eine, die die Rassentrennung gut fand und die wenig für "Schwarze" übrig hatte. (Auch das war mir gar nicht bewusst, dass das Buch in Kapstadt spielt. Da ich da nächstes Frühjahr hin will, lese ich gerade ständig Bücher über Südafrika und Memory Wall passt perfekt - ohne das ich es vorher wusste.)

    :lesen:





    Einmal editiert, zuletzt von gagamaus ()

  • Also ich bin total begeistert von der schönen Sprache - leise, raubtierhafte Autos :smile:. Erinnerungen ernten :rollen:


    Und von den Charakteren. Pheko, treu, ehrlich und arm wie eine Kirchenmaus. Die Beschreibungen des "Townships", in dem er wohnt ist erschütternd. Und wenn er jetzt keinen Job mehr hat (ab Montag) was soll dann nur aus ihm und seinen kleinen Sohn werden. :sauer: Ich hoffe, auch hier gibt es noch eine überraschende Wendung. Hab ich das richtig gedeutet, dass er seinen kleinen Jungen am Samstag mit ins Haus von Alma bringt, weil im Township eine Krankheit ausgebrochen ist? Dann müssten die beiden jetzt ja nachts im Haus sein, wenn Roger und Luvo wiederkommen?


    Und Luvo der Erinnerungszapfer (was für ein Begriff) - ich schätze mal, der Junge wird die richtige Erinnerung noch finden und Rogers hoffentlich nichts davon sagen. Luvo hatte ja bis jetzt ein schreckliches Leben und ich habe das Gefühl, dass Almas Erinnerungen zu seinen eigenen werden, da er selber kaum welche zu haben scheint als Waisenkind. Ich bin gespannt ob er den Gorgonops findet.


    Ach ja, und was ist auf Kassette 4510? :zwinker:

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  • Ach ja, und was ist auf Kassette 4510? :zwinker:


    Die Frage beschäftigt mich gerade auch am meisten: Was ist auf Kasette 4510? Es muss irgendeine grandiose (?) oder entsetzliche (?) Erinnerung sein, die Alma ruhig stellt und der Schlüssel zu ? ist.




    Hab ich das richtig gedeutet, dass er seinen kleinen Jungen am Samstag mit ins Haus von Alma bringt, weil im Township eine Krankheit ausgebrochen ist? Dann müssten die beiden jetzt ja nachts im Haus sein, wenn Roger und Luvo wiederkommen?


    Pheko hat seinen kleinen Sohn zu Miss Amanda gebracht (bis S. 70 zumindest nicht in Almas Haus). Das ist seine Lehrerin, wo er tagsüber ist. Ich weiß nicht, ob es Pheko wagen würde, seinen Sohn mit zu Alma zu nehmen.





    Also ich bin total begeistert von der schönen Sprache - leise, raubtierhafte Autos :smile:. Erinnerungen ernten :rollen:


    Auch ich finde die bildhafte Sprache toll: Wie der Ozean, das Wetter und die Lichter der Stadt immer wieder beschrieben werden, ist großartig.
    Ich frag mich in diesem Zusammenhang, was das Dingsymbol wohl sein soll: Die Standuhr?


    Ansonsten muss ich sagen bin ich über die agierenden Menschen entsetzt:


    Alma, die Rassistin, die auch überhaupt kein Verständnis für die Begeisterung ihres Mannes für Fossilien und Erdzeitgeschichte überhaupt aufbringen kann. Sie will immer nur mit ihm abhängen und auf Partys gehen. Was für eine lieblose Ehe muss das gewesen sein? Umso mehr hat es mich überrascht, dass sie auf seiner letzten Fahrt dabei war. Das finde ich mehr als seltsam und mir kam in den Sinn, dass sie vielleicht etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun hat.
    Wie negativ Alma ist zeigt schon die Tatsache, dass ihre Erinnerungen eigentlich alle negativ sind.


    Dann der Arzt, der dementen Menschen Elektroden ins Hirn pflanzt, um Erinnerungen auf Kassetten zu konservieren und damit einen riesigen Reibach macht. Und damit nicht genug: Offensichtlich werden Waisenkinder von ihm ebenfalls operiert, um Erinnerungen von anderen zu stehlen und nutzbar zu machen. Ein Szenario wie aus Frankenstein.


    Die einzigen positiven Charaktere sind Pheko, der Bedienstete von Alma, der sich um seinen Sohn und um Alma kümmert, ohne deren Hilflosigkeit auszunutzen und das, obwohl sie ihn in der Vergangenheit wie Dreck behandelt hat; und Harold, der Pheko die Operation seines Sohnes bezahlt hat und deshalb trotz seines Reichtums mitfühlende, soziale und wegen seiner Begeisterungsfähigkeit menschliche Züge bekommt.


    Welche Gedanken mir noch in den Sinn kamen: Ich finde es unmenschlich, was die Medizin bzw. deren ausführende Organe mit Menschen anstellen. Ich würde mir niemals solche Elektroden ins Hirn pflanzen lassen. Da ist jedes Vergessen besser, zumal es den Verfall der Selbstbestimmtheit nicht aufzuhalten vermag.

  • Pheko hat seinen kleinen Sohn zu Miss Amanda gebracht (bis S. 70 zumindest nicht in Almas Haus). Das ist seine Lehrerin, wo er tagsüber ist. Ich weiß nicht, ob es Pheko wagen würde, seinen Sohn mit zu Alma zu nehmen.


    :redface: Danke, da hab ich mal wieder zu schnell gelesen. Kam mir schon komisch vor.

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  • Welche Gedanken mir noch in den Sinn kamen: Ich finde es unmenschlich, was die Medizin bzw. deren ausführende Organe mit Menschen anstellen. Ich würde mir niemals solche Elektroden ins Hirn pflanzen lassen. Da ist jedes Vergessen besser, zumal es den Verfall der Selbstbestimmtheit nicht aufzuhalten vermag.


    Ich habe auch darüber nachgedacht. Ich finde aber, Alma macht einen glücklichen Eindruck, wenn sie ihre Erinnerungen anschauen darf. Auch wenn sie sie sofort wieder vergisst. Im Augenblick, in dem sie die Erinnerungen "anschaut" empfindet sie wohl schon so etwas wie Glück. Das finde ich irgendwie schön. Und gerade da sie ja sonst ganz alleine ist und sich niemand um sie kümmert, ist es doch zumindest ein kleines Stückchen Freude. Was würde sie sonst den ganzen Tag machen? Rumsitzen? Fernsehen? Ich kann es nicht rundweg ablehnen, aber wie alles müsste man halt Gesetze und Regeln schaffen, dass so etwas richtig genutzt werden kann.


    Und es wird ja angedeutet, dass es u.U. sogar hätte helfen können, die Krankheit zu verlangsamen. Ich kenne die Theorie auch von anderen Gehirnerkrankungen, dass man die Dinge nur in anderen ungenutzten Teilen des Gehirns ablegen muss.

    :lesen:





  • Hallo :winken:


    Auch mir hat ein Einband des Buches sehr gut gefallen. Dieses glänzende Material, smaragdfarbener Hintergrund, goldene Schrift und dann die Ammoniten, wirklich sehr schön.


    Es ist das erste Buch, das ich von Anthony Doerr lese und der Schreibstil ist wunderschön, anschaulich und bildhaft. Schon jetzt habe ich mir "Alles Licht, das wir nicht sehen" auf meine Wunschliste gesetzt.


    Die Idee mit einer "Memory Wall" für Alma, die ihr Gedächtnis verliert, hat mir gut gefallen. Nur schade, dass das Bild von dem jungen Harold, wie er aus dem Wasser steigt, das einzige Stückchen ist, das eine Erinnerung in ihr hervorruft. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass es Alma trotzdem gut tut, die Kassetten zu "sehen". Auch wenn sie sofort wieder alles vergisst.
    Aber was hat es mit dieser besonderen Kassette auf sich, die Pheko in der Küche aufbewahrt? Ist es möglicherweise genau die, die Roger und Luvo suchen?


    Ist es wirklich so, dass Alma bei fortschreitendem Gedächtnisverlust sogar das Atmen vergisst? Hat der Arzt da Recht? Ich hatte gedacht, dass das Atmen ein Reflex wäre.


    Was für eine furchtbare Vorstellung, einem Waisenkind bei einer schlampig durchgeführten Operation Löcher in den Schädel zu bohren. Ob dieser Eingriff durch den gleichen Arzt durchgeführt wurde, der auch Alma behandelt? Zumindest muss es jemand sein, dem diese "Behandlungsmethode" vertraut ist.


    Harold scheint ein feiner Mensch gewesen zu sein. Er ging in seiner Arbeit auf, gesellschaftliche Aktivtäten waren ihm nicht wichtig. Und er hat die Augenoperation für den kleinen Temba bezahlt. Wie soll es nur für Pheko und seinen Sohn weitergehen, wenn das Haus verkauft wird und seine Dienste nicht mehr benötigt werden? Und dann grassiert auch noch eine ansteckende Krankheit.


    Ich bin sehr gespannt, was die zweite Hälfte der Novelle bringt, mir gefällt das Buch sehr gut.

    Das sind keine Stirnfalten. Das ist ein Sixpack vom Denken.


  • Und Luvo der Erinnerungszapfer (was für ein Begriff) - ich schätze mal, der Junge wird die richtige Erinnerung noch finden und Rogers hoffentlich nichts davon sagen.


    Genau "Erinnerungszapfer", wie gruselig. Ob es noch mehr Kinder wie Luvo gibt? Immerhin gibt es dafür schon eine eigene Bezeichnung.
    Ich denke auch, dass Luvo der noch fehlenden Erinnerung auf die Spur kommt und evtl. auf eigene Faust auf die Suche geht.



    Was für eine lieblose Ehe muss das gewesen sein? Umso mehr hat es mich überrascht, dass sie auf seiner letzten Fahrt dabei war. Das finde ich mehr als seltsam und mir kam in den Sinn, dass sie vielleicht etwas mit dem Tod ihres Mannes zu tun hat.


    Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Ehe lieblos war. Alma fühlte sich wohl einsam, wenn sie alleine zuhause war, während Harold seinen Ausgrabungen nachging, aber sie hat ihn geliebt. Immerhin weckt das Foto von Harold immer noch eine Erinnerung in ihr und sie war auf seiner letzten Fahrt dabei. Er ist ja an einem Herzinfarkt gestorben, ich gehe da im Moment nicht von einem Fremdverschulden aus.

    Das sind keine Stirnfalten. Das ist ein Sixpack vom Denken.

  • Ich habe das Buch vor kurzem gelesen und die Erinnerungen sind noch ganz frisch, daher lese ich hier gerne ein wenig mit.



    Dann der Arzt, der dementen Menschen Elektroden ins Hirn pflanzt, um Erinnerungen auf Kassetten zu konservieren und damit einen riesigen Reibach macht. Und damit nicht genug: Offensichtlich werden Waisenkinder von ihm ebenfalls operiert, um Erinnerungen von anderen zu stehlen und nutzbar zu machen. Ein Szenario wie aus Frankenstein.


    Die Erinnerungen zu konservieren und den Betroffenen immer wieder vorzuspielen, um sie ihnen wieder "einzupflanzen", mag sich erst wie Scharlatanerie anhören, aber wer weiß, welche Methoden noch zur Anwendung kommen werden, um den Krankheitsverlauf zu verlangsamen oder vielleicht sogar zum Stillstand zu bringen.
    Wenn ich anderswo davon lese, dass man den Menschen schon bald Chips implantieren kann, die mit allen möglichen eletronischen Geräten interagieren können, erstaunt mich dies hier gar nicht mehr so sehr.
    Aus unserer momentanen Sicherheit heraus denken wir bestimmt anders, als zu einem Zeitpunkt, an dem wir direkt betroffen sind.


    Alma scheint sich bei der Anwendung ja nicht eigentlich zu erinnern, sondern die Szene erneut zu durchleben. Man versuchte dabei wohl eine Erinnerung an eben dies "neu-durchlebte" zu speichern und somit zu erhalten.


    Dass das Institut oder eben dieser Arzt auch die OP bei Luvo durchgeführt hat, glaube ich eher nicht. Das war ein Arzt, der die OP-Methode kopierte und sich die Materialien geschaffen konnte. Denn wie beschrieben sind die Elektroden auf Luvos Kopf nicht symetrisch angebracht und auch nicht so gut plaziert. Alma lebt mir ihren schon einige Jahre, aber Luvo hat jetzt schon körperliche Beschwerden. Sie nässen und verursachen ihm Schmerzen.



    Harold muss ein feiner Mensch gewesen sein. Da möchte man es glatt bedauern, dass Alma ihn überlebt hat.


    Bedauert habe ich auch, dass der Verlag aus Anthony Doerrs Buch Memory Wall nur die titelgebende Geschichte übersetzt und veröffentlicht hat. Was ist mit den restlichen 6 Geschichten aus dem Buch?

  • Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Ehe lieblos war. Alma fühlte sich wohl einsam, wenn sie alleine zuhause war, während Harold seinen Ausgrabungen nachging, aber sie hat ihn geliebt. Immerhin weckt das Foto von Harold immer noch eine Erinnerung in ihr und sie war auf seiner letzten Fahrt dabei. Er ist ja an einem Herzinfarkt gestorben, ich gehe da im Moment nicht von einem Fremdverschulden aus.


    Ich fand die Ehe auch nicht lieblos. Sie hat Harold halt nicht immer verstanden. Und nicht alles akzeptiert aber das kommt ja bei Eheleuten schon mal vor. Sind ja keine siamesischen Zwillinge. Aber geliebt hat sie ihn doch schon sehr, hatte ich das Gefühl.

    :lesen:





  • Ist es wirklich so, dass Alma bei fortschreitendem Gedächtnisverlust sogar das Atmen vergisst? Hat der Arzt da Recht? Ich hatte gedacht, dass das Atmen ein Reflex wäre.


    An Alzheimer kann man auf jeden Fall sterben , wenn die Zellen absterben, die für das Schlucken verantwortlich sind. Die Kranken bekommen dann öfters z.B. Lungenentzündung weil sie sich verschlucken. Vielleicht gibt es auch Zellen, die für das Atmen zuständig sind?

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  • Die Erinnerungen zu konservieren und den Betroffenen immer wieder vorzuspielen, um sie ihnen wieder "einzupflanzen", mag sich erst wie Scharlatanerie anhören, aber wer weiß, welche Methoden noch zur Anwendung kommen werden, um den Krankheitsverlauf zu verlangsamen oder vielleicht sogar zum Stillstand zu bringen.
    Wenn ich anderswo davon lese, dass man den Menschen schon bald Chips implantieren kann, die mit allen möglichen eletronischen Geräten interagieren können, erstaunt mich dies hier gar nicht mehr so sehr.
    Aus unserer momentanen Sicherheit heraus denken wir bestimmt anders, als zu einem Zeitpunkt, an dem wir direkt betroffen sind.


    Alma scheint sich bei der Anwendung ja nicht eigentlich zu erinnern, sondern die Szene erneut zu durchleben. Man versuchte dabei wohl eine Erinnerung an eben dies "neu-durchlebte" zu speichern und somit zu erhalten.


    Dass das Institut oder eben dieser Arzt auch die OP bei Luvo durchgeführt hat, glaube ich eher nicht. Das war ein Arzt, der die OP-Methode kopierte und sich die Materialien geschaffen konnte. Denn wie beschrieben sind die Elektroden auf Luvos Kopf nicht symetrisch angebracht und auch nicht so gut plaziert. Alma lebt mir ihren schon einige Jahre, aber Luvo hat jetzt schon körperliche Beschwerden. Sie nässen und verursachen ihm Schmerzen.


    Da hast du Recht, es war vermutlich irgendein Metzger, der auch Geld damit machen will. Dass Luvo mit dieser Methode behandelt wurde, passt nicht zu der Luxusklinik, in der Alma operiert wurde. Dort werden vermutlich nur Weiße mit entsprechendem Bankkonto behandelt.


    Aber ist es nicht erstaunlich, wie akzeptiert solche Methoden sind? Heißt das nicht im Grunde genommen, dass wir uns praktisch nur über unsere Erinnerung definieren?


    Und noch etwas ist mir in den Sinn gekommen: Eigentlich ist Alma genauso hilflos ihrer Umwelt ausgeliefert wie Pheko. Ihr ganzer Reichtum nützt ihr nichts mehr, sie ist diesem Roger hilflos ausgeliefert, wird von ihrem Buchhalter praktisch entmündigt und wird in irgendeinem Pflegeheim landen.

  • Ich bin mit dem ersten Abschnitt durch (den zweiten habe ich mir aufgespart, um nicht zu schnell durch das Buch zu rennen).


    Ich habe mir den Klappentext bewusst nicht durchgelesen und war somit ziemlich überrascht. Ich hatte damit gerechnet, dass es sich um
    das Porträt einer alten Dame handelt, die an Alzheimer erkrankt. Das ist es natürlich auch, aber eben nicht nur.


    Zu Beginn habe ich mich gefragt, was zum Geier es mit diesen Mini-Plastikkassetten auf sich hat, die neben Almas Zettelwirtschaft an ihrer "Erinnerungswand" hängen, mit der sie versucht hat, ihre sich eintrübende Welt zu strukturieren und dem schwindenden Gedächtnis entgegenzuwirken. Zunächst hatte ich an altmodische Audiokassetten gedacht, aber dafür war das Format viel zu klein.


    Anthony Doerr macht das gut, anfangs Fragen aufzuwerfen, die sich nicht aus dem Kontext beantworten lassen und sich erst aufklären, wenn man weiterliest, etwa die Schritte auf der Treppe, die ich erst Almas verwirrtem Geisteszustand zugeschrieben und als eingebildet abgetan hatte.


    Auch Almas Perücke war so ein Thema. Ich dachte, sie hat ihre Haare vielleicht infolge einer Chemotherapie oder einer Krankheit verloren, doch dann war von den vier Ports in ihrem Kopf die Rede, und es wurde klar, dass wir uns nicht in der Gegenwart befinden oder zumindest nicht in der Realität.


    Erinnerungen auf Medien zu transferieren, um sie jederzeit abrufen zu können, klingt zunächst wie eine tolle Idee, birgt aber, wie man sieht, auch Gefahren. Was für eine gruselige Vorstellung, dass dieser zwielichtige Roger irgendein Waisenkind von der Straße aufsammelt, ihm Ports in den Kopf bohren lässt und versucht, aus Almas Erinnerungen Hinweise auf Harolds potentiellen Fossilienfund abzugreifen :entsetzt: Und Alma erlebt das hautnah mit, spricht mit den beiden, isst Eier mit ihnen und kann sich doch an nichts erinnern. Wie schrecklich!


    Alma selbst lässt mich gespalten zurück. In der Gegenwartshandlung tut sie mir leid. Es muss ganz furchtbar sein, zu spüren, wie einem das Gedächtnis und somit die Realität und eigene Identität immer stärker entgleitet, und ich kann verstehen, dass sie sich fast wie eine Süchtige mit Hilfe des Stimulators in Erinnerungsschleifen flüchtet. Auch, dass quasi hinter ihrem Rücken ihr Haus verkauft werden soll, finde ich schlimm, obwohl sie natürlich nicht mehr alleine leben und mittlerweile auch der treue Pheko die Defizite nicht mehr auffangen kann.


    In den Rückblenden bzw. Erinnerungsfetzen erscheint sie mir hingegen nicht sehr sympathisch, eher mürrisch, zänkisch und die typische nörgelnde Rentnerehefrau, während sich ihr Mann seines Ruhestandes freut, weil er endlich seinem Hobby nachgehen kann. Und rassistisch ist sie obendrein. Harold hingegen hört sich wie ein gutherziger, verantwortungsvoller Mann an.


    Entsetzt haben mich die Verhältnisse, in denen Pheko und sein kleiner Sohn leben müssen. Ich hoffe, die erwähnte Epidemie verschont die beiden. Es gefällt mir gut, wie Pheko trotz allem versucht, Temba ein gutes Leben zu ermöglichen und ein guter Vater zu sein.


    Sprachlich und stilistisch gefällt mir das Buch wieder sehr gut. Doerr kann mit knappen Worten so viel vermitteln, das hat mich schon in "Alles Licht, das wir nicht sehen" sehr beeindruckt. Und das schillernde Cover finde ich toll.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()


  • Wenn ich anderswo davon lese, dass man den Menschen schon bald Chips implantieren kann, die mit allen möglichen eletronischen Geräten interagieren können, erstaunt mich dies hier gar nicht mehr so sehr.


    Daran musste ich auch denken, ich habe das neulich bei einem Bericht über die CeBIT gesehen und fand es unglaublich gruselig. Irgendwelche Implantate, die keinen medizinischen Nutzen haben, finde ich ziemlich krank.



    Bedauert habe ich auch, dass der Verlag aus Anthony Doerrs Buch Memory Wall nur die titelgebende Geschichte übersetzt und veröffentlicht hat. Was ist mit den restlichen 6 Geschichten aus dem Buch?


    Das wusste ich gar nicht, aber das ist ja wirklich doof. Vielleicht will man nach Doerrs großem Erfolg mit "Alles Licht..." die Geschichten häppchenweise herausbringen, weil's mehr einbringt? :rollen:



    Alma scheint sich bei der Anwendung ja nicht eigentlich zu erinnern, sondern die Szene erneut zu durchleben. Man versuchte dabei wohl eine Erinnerung an eben dies "neu-durchlebte" zu speichern und somit zu erhalten.


    Besonders gut scheint das aber nicht zu funktionieren, Alma baut weiterhin ab, und die Erinnerungen funktionieren nur, wenn sie am Gerät hängt. Hm.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Das wusste ich gar nicht, aber das ist ja wirklich doof. Vielleicht will man nach Doerrs großem Erfolg mit "Alles Licht..." die Geschichten häppchenweise herausbringen, weil's mehr einbringt? :rollen:


    Möglich, aber der gesamte Band hat 260 Seiten, da bleiben nur 120 Seiten für die restlichen 6 Geschichten, das wären wirklich winzige Häppchen :gruebel:.

    Das sind keine Stirnfalten. Das ist ein Sixpack vom Denken.

    Einmal editiert, zuletzt von Delena ()

  • Ich hatte bisher nichts von Anthony Doerr gelesen und bin auch ganz unvoreingenommen an das Buch herangegangen.


    Bei den ersten Seiten hat es mich noch sehr gestört, dass das Buch im Präsens geschrieben ist. Gerade den ersten Satz fand ich seltsam: "Die vierundsiebzigjährige Alma Konachek wohnt in Vredehoek..." Das liest sich doch eher wie ein Zeitungsartikel oder ein Schüleraufsatz. Als man dann mehr über Alma und ihre Situation erfahren hat, fand ich die Zeitform dann wieder passend. Alma lebt ja selbst nur in der Gegenwart, an ihre Vergangenheit kann sie sich nicht erinnern. Jedes Ereignis aus Almas Sicht kann also nur im Hier und Jetzt stattfinden.


    Genauso gut passen die kurzen Kapitel, bei denen sich manchmal nicht auf den ersten Blick der Zusammenhang erschließt, zu Almas Situation. Das finde ich wirklich geschickt gemacht von Anthony Doerr.


    Ich war dann auch sehr überrascht, als herauskam, dass auf diesen kleinen Kassetten Almas Erinnerungen gespeichert werden, die sie wieder und wieder erleben kann. Die Gefahren, die diese neue Technologie birgt, bekommen wir dann ja auch direkt in Person von Roger und Luvo präsentiert. Alles, was ursprünglich vielleicht mal als Hilfe für die Menschen erfunden wurde, wird eben früher oder später auch von Personen mit krimineller Energie genutzt.


    Grundsätzlich finde ich ja, dass für so eine kurze Geschichte ganz schön viel los ist. Es geht ja nicht nur um Alma und ihre Krankheit, sondern auch um Pheko, seinen Sohn, seine Lebensumstände, um Roger, der Gewinn aus einer Erinnerung schlagen will, um Luvo, der dafür benutzt wird und dann ist da ja auch noch der verstorbene Harold, der vor seinem Tod noch eine wichtige Entdeckung gemacht hat. Ich bin gespannt, wie das alles aufgelöst wird und welches Ende diese Personen finden.

    ~~better to be hated for who you are, than loved for who you&WCF_AMPERSAND're not~~<br /><br />www.literaturschaf.de

  • Möglich, aber der gesamte Band hat 260 Seiten, da bleiben nur 120 Seiten für die restlichen 6 Geschichten, das wären wirklich winzige Häppchen :gruebel:.


    Ich finde es auch schade, dass nicht alle Geschichten übersetzt wurden, kann mir aber auch gut vorstellen, dass der Rest dann noch separat herausgebracht werden soll. So viel hat Anthony Doerr ja noch nicht geschrieben und nach dem Erfolg von "Alles Licht..." will man sicher mit dem wenigen Material möglichst viel Gewinn machen.


    Ich habe übrigens mal ins Inhaltsverzeichnis der englischen Ausgabe geschaut. "Unsere" Geschichte hat dort 86 Seiten. Bleiben ja noch über 200 Seiten für die restlichen Geschichten.

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  • Alma lebt ja selbst nur in der Gegenwart, an ihre Vergangenheit kann sie sich nicht erinnern. Jedes Ereignis aus Almas Sicht kann also nur im Hier und Jetzt stattfinden.


    Das ist eine sehr gute Beobachtung! Daran hatte ich gar nicht gedacht, wahrscheinlich, weil ich "Alles Licht ..." kenne und Doerr da auch im Präsens schreibt.

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    Leonard Cohen





  • Hallo ihr Lieben,


    Ich lese zwar auch schon seit Sonntag, aber immer nur häppchenweise, und bin deswegen erst heute morgen bei Seite 70 angekommen. Die Novelle nimmt mich ziemlich gefangen und gefällt mir sehr gut zu lesen, obwohl sie mir vom ersten Moment an auch Unbehagen bereitet, gepaart mit einer gewissen Melancholie angesichts des Verfalls des Lebens, den wir hier so hautnah miterleben dürfen.


    Was ist der Mensch ohne seine Erinnerungen? Ein leeres Gefäß, möchte man annehmen. Für diese Geschichte hat sich Anthony Doerr wohl die Frage gestellt, was passiert, wenn man das Gefäß wieder füllt, mit genau den gleichen Erinnerungen, die es einmal hatte. Das fühlt sich dann beim Lesen einigermaßen utopisch und auch gruselig an, denn die Erinnerungen laufen ja nicht chronologisch ab, sondern völlig ungeordnet und außerhalb jeden Kontextes.


    Als "Mittlerfigur" steht uns hierbei Luvo zur Verfügung, der Almas Erinnerungen nacherlebt - aus kriminellen Beweggründen seines "Mentors" heraus. Das finde ich ziemlich gut aufgezogen, denn aus welchem Grund sollte denn schon ein Fremder in Erinnerungen eines anderen kramen? Hier geht es also um die Auffindung eines Fossils, das dem Finder jede Menge Geld bringen soll. Luvo sößt dabei auch auf das Problem, dass es bei den Kassetten keine vernünftige Reihenfolge gibt und er sich einfach auf die nächste einlassen muss, in der Hoffnung, auf sein Ziel zu stoßen.


    Schön, wie hierbei der Bogen zur Welt der Archäologie gespannt wird; ein passendes Thema, um gerade die Vergänglichkeit des Lebens aus einer noch ganz anderen Perspektive zu beleuchten. "Wir sind Zwischenformen" denkt sich Luvo und löst dabei bei mir ein seltsames Gefühl der Bedeutungslosigkeit aus. Er selbst übrigens tut mir furchtbar leid, denn er hat überhaupt keine eigenen Erinnerungen und dient ebenfalls nur als Gefäß für die Zwecke anderer.


    Ansonsten herrscht für mich über die ganze Handlung hinweg eine beklemmende Atmosphäre, die vor allem mit dem Schauplatz Kapstadt zusammenhängt. Die Armut in Phekos Zeltstadt erschüttert mich, ebenso seine Ausgeliefertheit ans das System der Reichen, die ihn zwar jahrelang gut brauchen konnten, jetzt aber gnadenlos abschieben, wo Alma nicht mehr alleine leben kann und wohl in eine gut bewachtes und behütetes Seniorenheim kommen wird. Seine Überlegungen, Gegenstände aus dem Haus mitzunehmen und zu Geld zu machen, kann ich gut nachvollziehen.


    Ursprünglich war wohl Harold sein Gönner, der ihm Job und andere lebensnotwendigen Dinge wie die Augenoperation von Tembo verschafft hat. Harold ist ein Gegenentwurf zu Alma; sie waren zwar jahrelang verheiratet und gemeinsam im Immobiliengeschäft, aber am Ende des Berufslebens zeigen sich doch die Klüfte zwischen ihnen sehr deutlich. Sie hätte gerne weiter ein Leben in Saus und Braus geführt, mit Partys, Konzerten und Schicki-Micki, er hat nur seine Fossilien im Sinn und flieht in die Berge, um dort zu graben. Angelegt ist diese Kluft doch bereit in jungen Jahren, als sie gemeinsam im Museum sind und den Gorgonops betrachten. Diese Szene korrespondiert übrigens direkt mit Almas Traum am Ende des Abschnitts (hallo, sie hat ja doch noch eine Art von eigenen Erinnerungen, wenn auch nur in der Form von (Alb-)Träumen!), als sie plötzlich den lebendig gewordenen Gorgonops durchs Fenster sieht. Eine echt starke Szene!


    Für vergleichweise wenig Seiten hat der Autor ganz schön viel in die Handlung hineingepackt; wie ihr seht, mich beschäftigt das Buch ziemlich, und mir fällt jede Menge dazu ein. Was mir auch wahnsinnig gut gefällt, ist Anthony Doerrs Schreibstil. Er ist sehr wandelbar und passt immer perfekt zu den Szenen; mal bildhaft und umschreibend, aber auch kurz und präzise, wenn es darauf ankommt. Mich erinnert das alles ein wenig an Penelope Lively, die in ihren frühen Romanen auch gerne über Archäologie, Zeit und Vergänglichkeit geschrieben hat.

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel