Robert Seethaler - Ein ganzes Leben

Es gibt 19 Antworten in diesem Thema, welches 4.453 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von dodo.

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    Klappentext
    Als Andreas Egger in das Tal kommt, in dem er sein Leben verbringen wird, ist er vier Jahre alt, ungefähr – so genau weiß das keiner. Der Bauer Kranzstocker nimmt ihn widerwillig bei sich auf, und Egger wächst zu einem gestandenen Hilfsknecht heran, dem von seiner eigenen Herkunft nur ein vages Gefühl der Wärme geblieben ist. Als junger Mann schließt er sich einem Arbeitstrupp an, der eine der ersten Bergbahnen baut und mit der Elektrizität auch das Licht und den Lärm in das Tal bringt. Dann kommt der Tag, an dem vor seinen Augen der alte Hörnerhannes dem Tod von der Schippe springt und Egger zum ersten Mal vor Marie steht, der Liebe seines Lebens, die er jedoch wieder verlieren wird. Erst viele Jahre später, als die Welt längst eine andere geworden ist und Egger seinen letzten Weg geht, ist sie noch einmal bei ihm.


    Viel passiert nicht im Leben des Andreas Egger, selbst wenn man es mit anderen Menschen seiner Zeit vergleicht. Er kommt als Waise zu einem entfernten Verwandten, der ihn als billige Arbeitskraft sieht. In der rauhen Welt der Berge ist für Gefühle wenig Platz. Auch Freunde hat er keine. Diese Kindheit prägt ihn so, dass er immer ein Einzelgänger bleiben wird. Nur einmal findet er eine Frau, doch dieses Glück dauert nicht lang. Trotz eines verkrüppelten Beines bekommt er eine feste Arbeitsstelle, und selbst im Krieg findet man irgendwann Verwendung für ihn. Es hat seinen Platz in der Gemeinschaft, auch wenn er als Person austauschbar ist. Es würde kaum auffallen, wenn er nicht da wäre. Er lebt in Einklang mit der Natur und nimmt ohne zu klagen alles hin, wie es kommt, stellt nichts in Frage. Viele wesentliche Ereignisse gibt es ohnehin nicht, und von dieser einen Liebe, die er für kurze Zeit erleben durfte, zehrt er sein Leben lang.


    Egger trägt mit seiner Arbeit dazu bei, dass der Fortschritt in das Bergdorf einzieht, doch überzeugt ist er davon nicht. Aber es sorgt für sein Auskommen. Erst als er alt ist und nicht mehr arbeiten kann, gibt er seinen innersten Bedürfnissen nach Frieden und Einsamkeit nach und zieht sich aus dem Dorf zurück auf den Berg. Die neue moderne Dorfgemeinschaft kann ihm genauso wenig geben wie umgekehrt. Egger strebt nicht nach materiellen Werten. Er ist zufrieden, wenn seine wichtigsten existenziellen Bedürfnisse gestillt werden. Ihm ist auch klar, dass er eine Liebe wie zu Marie kein zweites Mal erleben wird. So bleibt ihm nur das geduldige Abwarten, bis er ihr in einer anderen Welt wieder begegnet.


    In aller Schlichtheit wunderschön und ergreifend beschrieben. Es ist schon bemerkenswert, wie ein Buch mit einer so minimierten Handlung eine solche Faszination ausüben kann. Seethaler schaffte es mit diesem Buch bis auf die Shortlist des Man Booker International Prize 2016.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

  • Seit er als elternloser kleiner Junge in das Dörfchen in einem abgelegenen Alpental kam, hat Andreas Egger dort gelebt und schon von Kindesbeinen an hart gearbeitet, trotz eines nach einem Unfall verkrüppelten Beins. Seine Kindheit war lieblos und freudlos, doch Andreas ist nicht verbittert, höchstens stoisch-resigniert. Er erwartet nichts vom Leben und ist umso überraschter, als er zum ersten Mal erlebt, was Liebe bedeutet, als er Marie kennenlernt.


    Ihr Glück ist groß, aber nicht von Dauer. Der 2. Weltkrieg bricht aus, Andreas wird Soldat, kehrt irgendwann aus der russischen Gefangenschaft zurück und sieht mehr verwundert als verärgert, wie die Welt sich ändert. Die Seilbahn, bei deren Bau er als junger Mann mitgearbeitet hat, lockt Feriengäste an, das einst so stille Tal wird immer mehr touristisch erschlossen. Andreas selbst bleibt wie schon sein ganzes Leben lang am Rand, ein schweigsamer Einzelgänger, den die Touristen als Kuriosität beäugen und die Einheimischen auch nicht so ganz verstehen.


    Ein ganzes Leben, zusammengefasst auf nicht einmal 200 Seiten. Geht das denn?


    Und wie das geht. Robert Seethaler findet für ein hartes, karges und fast ausschließlich auf ein einziges Tal fernab von allem beschränktes Leben schlichte und doch ausdrucksvolle Worte.


    Er erliegt nicht dem Drang, Andreas Egger als albernen Dorfdeppen oder aber als Lebensweisheiten versprudelnden putzigen Alm-Öhi zu zeichnen, sondern porträtiert ganz realistisch und sehr einfühlsam einen Menschen, der auf Außenstehende merkwürdig wirken mag, weil er sehr in sich zurückgezogen lebt und sich selbst genug ist.


    Der naturverbundene, genügsame Egger ist keiner, der gerne redet, über sich selbst schon mal gar nicht. Seinem Lebensweg und seinen Gedanken zu folgen, ist nichts für Leser, die Drama und Action suchen. Es ist ein Buch der leisen Töne, poetisch und kraftvoll zugleich, das zeigt, dass jedes Leben, und mag es noch so ereignislos wirken, eine Erzählung wert sein kann.


    5ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • ...dass jedes Leben, und mag es noch so ereignislos wirken, eine Erzählung wert sein kann.


    Was für ein schöner Satz, und wie wahr! Jeder Mensch hat eine Geschichte.


    Kennst du zufällig die Sendung "Lebenslinien" des BR3? Kommt immer Montag abends (heute nicht) und porträtiert oft Menschen, auf die genau dieser Satz zutrifft. Andreas Egger wäre ein Musterkandidat dafür. Wenn du an dem Buch solchen Gefallen gefunden hast, könnte die Sendung etwas für dich sein. Ich sehe sie seit über zehn Jahren regelmäßig.

  • Der Titel der Sendung sagt mir was, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie schon mal bewusst gesehen habe. Klingt aber tatsächlich interessant, danke!

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich hatte das Buch gestern kurz in der Hand. Die Prämisse erinnert mich an Franz Innerhofers "Schöne Tage", welches ebenfalls vom harten Leben an einem Bergbauernhof in der Nachkriegszeit handelt, genauer in den Salzburger Alpen. Das Buch ist aber nicht unbedingt etwas für schwache Nerven, beschönigt wird nichts und Brutalität und Grausamkeit begleiten den Leser permanent. Ich habe es damals für die Schule gelesen, weiß aber noch genau, wie schwer ich mir damit getan habe.

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

  • Doris: ja, das Buch wurde in den 80ern in einer ORF-Produktion verfilmt. Ich kenne allerdings nur das Buch.

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

    Einmal editiert, zuletzt von tári ()

  • Dann war es tatsächlich der Film, an den ich mich erinnere, und er muss gut gewesen sein, sonst wäre das längst aus meinem Gedächtnis verschwunden. Das Bergbauerndorf, von dem du schreibst, ist bei mir noch präsent; damit ähnelt es wirklich Seethalers Buch.

    Einmal editiert, zuletzt von Doris ()

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    Dieser kleine Roman des österreichischen Autors, der durch den Roman "Der Trafikant" bekannt wurde, erschien 2014.


    Zum Inhalt:


    Geschildert wird das einfache Leben des Andreas Egger zumeist in einem österreichischen Alpental von Beginn des letzten Jahrhunderts bis in dessen 70er Jahre. Andreas ist das Kind der verstorbenen Verwandten eines Bauern aus dem Tal, der den Jungen unwillig aufnimmt, als unbezahlte Arbeitskraft missbraucht und ihn, wenn ihm danach ist, auch mal kräftig verdrischt. Als Dreißigjähriger hat Andreas eine prägende Begegnung mit dem Tod und lernt fast zeitgleich Marie, seine große Liebe kennen. Sein Leben wird weiterhin bestimmt durch den Seilbahnbau, Naturkatastrophen und auch seine Teilnahme am Zweiten Weltkrieg mit der darauffolgenden langen russischen Gefangenschaft sowie durch den aufkommenden Ski- und Wandertourismus.


    Meine Meinung:


    Ein unspektakuläres, aber sehr intensives Leben, weil sich Egger immer vorbehaltlos in das einfindet, was sein Leben ihm bietet. Dadurch empfindet auch der Leser dieses Leben als reich, obwohl es eigentlich einfach und einsam ist. Ein schönes kleines Buch, das uns klar macht, wie dämlich wir unser Leben eigentlich durch unsere ganzen überzogenen Ansprüche verkomplizieren und uns dadurch auch ein Portion Lebensglück nehmen. Das zu vermitteln gelingt Seethaler, ohne dass er jemals einen moralischen Zeigefinger hebt.

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Beitrag von finsbury ()

    Dieser Beitrag wurde von Saltanah gelöscht ().
  • Ein ganzes Leben war für mich eines der Highlights 2015 - vielleicht auch eines der Highlights überhaupt. Ich fand die Geschichte um Andreas Egger unglaublich beeindruckend. Obwohl er kein leichtes Leben hatte und Schicksalsschläge ertragen musste, war er dennoch ein zufriedener Mensch. Ich habe mich oft gefragt, warum er dennoch nicht mit seinem Leben gehadert hat. Ich denke, es liegt daran, dass er nie auf andere geschaut und sich mit ihnen verglichen hat. Er hat SEIN Leben gelebt.


    Dieses Buch zeigt, dass wir nicht viel brauchen, um (nein, ich sage nicht glückliches, sondern) zufriedenes Leben zu führen.


    5ratten :tipp:

  • Wie schön, dass es Euch beiden auch so gut gefallen hat!



    Ein schönes kleines Buch, das uns klar macht, wie dämlich wir unser Leben eigentlich durch unsere ganzen überzogenen Ansprüche verkomplizieren und uns dadurch auch ein Portion Lebensglück nehmen. Das zu vermitteln gelingt Seethaler, ohne dass er jemals einen moralischen Zeigefinger hebt.


    Wunderbar zusammengefasst.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Meine Meinung
    Ich stimme meinen begeisterten Vorrednerinnen zu. In Andreas' Leben passiert nichts Besonderes, es ist ein Leben wie von vielen anderen Menschen auch, die in den Dörfern der österreichischen Alpen gelebt haben. Trotzdem ist es auch ein bisschen anders. Denn Andreas ergibt sich nicht seinem Schicksal. Er ist ein Macher, der sich innerhalb seiner bescheidenen Möglichkeiten ein gar nicht so kleines Glück verschafft. Als dieses Glück wieder vergeht, macht er einfach weiter. Er ist nicht verbittert, er nimmt die Veränderungen hin und sieht nach vorne. Nur manchmal erlaubt er sich einen Blick in die Vergangenheit. Dass er aus dem Krieg Briefe an seine verstorbene Frau geschrieben hat, zeigt dass er mehr in ihm steckt. Aber das zeigt er nicht, wem denn auch.


    Ein ganzes Leben erzählt von einem Leben, das nicht immer schön war. Aber es war ein gutes Leben und es ist ein sehr gutes Buch.
    5ratten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Ich habe dieses Buch heute gelesen und wie auch die anderen Bücher von Robert Seethaler hat es mir ausgesprochen gut gefallen. Ich mag die Schreibweise von Robert Seethaler, wie er es mit einfachen Worten und ohne verschwurbelte Sätze schafft, eine Person so zu beschreiben, dass man sich ihr nahe fühlt. Obwohl nicht so wahnsinnig viel passiert in dem Buch, habe ich Andreas Egger tief in mein Herz geschlossen und die eine oder andere Träne im Laufe des Buches vergossen.


    Ein Buch, das man meiner Meinung nach unbedingt lesen sollte.


    5ratten und :tipp:

    Bücher kaufen und Bücher lesen sind zwei völlig verschiedene Hobbys.

  • Ich helfe gerade bei einer Buchvorstellung zu diesem Buch.

    Lehrer haben ja oft sehr genaue Vorstellungen, was sie haben wollen. Nun gibt es so Punkte wie "Entstehungszeit, historisches Umfeld, persönliche Situation des Autors, Wirkung auf folgende Literatur"

    Österreich 2014... Naja, da fällt uns jetzt nicht viel ein, vor allem nicht viel für das Buch relevantes. Auch bei der Wirkung sehe ich eher schwarz, dafür ist es einfach noch zu neu, oder?

    Hat vielleicht jemand von euch noch einen Geistesblitz zu irgendetwas aus der Liste? Wir haben ein Zitat vom Autor gefunden, dass er Berge schon immer mochte und die ihn inspiriert haben. Aber ansonsten :gruebel: Jeder Gedanke hilft und ist erwünscht :)


    Valentine vielleicht?

  • Ich glaube auch eher nicht, dass das Buch eine große Wirkung auf die Literaturwelt hatte in dem Sinne, dass es einen Trend losgetreten oder viele andere Autoren beeinflusst hat :gruebel:


    Die Entstehungszeit halte ich auch für eher wenig wichtig, m. E. wollte Seethaler einfach die Geschichte des simplen Lebens in den Bergen erzählen, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten gewesen ist. Das hätte er aber genausogut zehn Jahre früher oder später schreiben können. Ob Seethaler selbst diese Lebensweise kennengelernt hat oder ein konkretes Vorbild für Andreas im Kopf hatte, weiß ich leider nicht, aber vielleicht lässt sich dazu ja noch was rausfinden?

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen