04 - Teil 3, Sieben bis Neun (S. 202-296)

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  • Hier könnt Ihr zum Inhalt von Seite 202 bis 296 schreiben.
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    Auch hier: mea culpa, die Kapiteleinteilung stimmte nicht mit den Seiten überein. Jetzt passt's! LG, Valentine

    Liebe Grüße

    Tabea

    Einmal editiert, zuletzt von Valentine ()

  • Warum Eric Albrecht nicht ausstehen kann, wird bei ihrer Wiederbegegnung sehr schnell deutlich. Von sich selbst überzeugt bis zum Anschlag, sich keiner Schuld bewusst und offenbar auch in Bezug auf die Besatzer ein Opportunist. Und sein Antisemitismus schlägt dem Fass den Boden aus :kotz:


    Tante Rosies Skepsis gegenüber der Wiederbewaffnung Deutschlands kann ich gut verstehen, aber ihre Annahme, dass Deutsche im Fall der Fälle nicht auf Deutsche schießen würden, halte ich für ziemlich blauäugig, auch und gerade nach alledem, was im Dritten Reich geschehen ist und was Deutsche da Deutschen angetan haben. Und damit, dass es nur dem Namen nach keine Nazis mehr gibt und das entsprechende Gedankengut alles andere als tot ist, hat sie leider auch recht (heute mehr denn je :traurig: ).


    Erics Vater spricht in seinen Aufzeichnungen aus dem Gefängnis einen interessanten Aspekt an, den ich für glaubwürdig halte, dass es auch jüdischstämmige Menschen gab, die im Grunde antisemitische Ansichten hegten, weil sie den Glauben ihrer Vorfahren nicht mehr praktizierten und mit der Religion im allgemeinen und im besonderen nichts anfangen konnten.


    Was ich hier allerdings nicht ganz verstanden habe: war er wirklich krank oder hatte man ihm erzählt, er habe Krebs? Oder war das nur eine Lüge, die man Tante Rosie aufgetischt hat?


    Dass es nun tatsächlich zwischen Nora und Eric kriselt, tut mir vor allem für Nora leid. Ich finde ja, dass sie recht hatte, ihn zur Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit zu zwingen und sich von diesem Haufen unsortierter, diffuser Gefühle zu befreien.


    Seinen verallgemeinernden Aussagen zum Wesen der Deutschen kann ich aber nur bedingt zustimmen. Ich wage zu behaupten, dass ein solches Regime auch in so ziemlich jedem anderen Staat der Welt hätte passieren können bzw. immer noch passieren kann. Auch Franz' Kulturpessimismus kann ich nicht hundertprozentig nachvollziehen. Es stimmt überhaupt nicht, dass es nach dem Krieg keine Kultur mehr in Deutschland gab (man denke etwa an die Schriftsteller der Gruppe 47). Einem Großteil der Bevölkerung wird natürlich der wirtschaftliche Wiederaufbau wichtiger gewesen sein, was ich auch völlig nachvollziehbar finde. Womit er natürlich recht hat, ist, dass der Verlust so vieler jüdischer Künstler eine unwiederbringliche, große Lücke gerissen hat.


    Gerhard mit nach England zu nehmen ist eine gute Idee, die dem jungen Mann genauso guttun kann wie Eric, der vielleicht durch diese Verantwortung in der Gegenwart endlich abgelenkt ist von all dem Vergangenen, das ihn quält.


    Dass Eric nicht ausgeflippt ist, als er merkte, dass die Damen heimlich einen Besuch bei Grubach vereinbart haben, hat mich gewundert. Und letztendlich hat er sich als genau das herausgestellt, was ich vermutet hatte, bei aller Leutseligkeit nämlich als Altnazi, der nicht einmal den Mut hat, zu seiner Vergangenheit zu stehen. Da habe ich schon mehr Respekt vor Joachim, obwohl es natürlich auch naiv von ihm war zu glauben, dass die Amerikaner ihn für seine Ehrlichkeit bewundern würden. Ich verstehe aber seine Verärgerung auch irgendwie. Und ich finde es nach wie vor skandalös, wie viele Nazis am Ende rehabilitiert wurden, ohne dass groß ein Wort über ihre Vergangenheit verloren wurde.


    Nun bin ich gespannt, wie es Eric nach seiner Rückkehr nach England ergeht ...


    Die Erzählerin empfinde ich übrigens immer mehr als ziemlich überflüssig. Sie dient nur dazu, als neutrale Beobachterin zu erzählen und die Begegnung mit Grubach in Gang zu bringen.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Erics Cousin Albrecht entpuppt sich als selbstgerechter Altnazi ebenso wie später Grubach und dessen Sohn bzw. fügen die sich eher bequem in einen nahtlosen Übergang in der deutschen Regierung ein, der nicht weh tut. Das sind ebenso Klischees wie auch Wahrheiten. Wirklich bemerkenswert, das dies eine Amerikanerin in den 1950ern geschrieben hat - die Autorin scheint eine ebenso kluge wie feinfühlige und empathische Person gewesen zu sein! Sie fühlen sich an nichts schuldig: "Das sind nicht meine Hände, ich bin nur ein Werkzeug. Ein Nichts und ein Nichts kann nun einmal keine Schuld empfinden." (223) und
    "Sie bedauern, den Krieg verloren zu haben, aber nicht, ihn angefangen zu haben" (225)


    Ein anderes Beispiel dafür ist die Darstellung von Rosies Glauben auf Seite 221: für mich eine echte Schlüsselszene!


    Die Tagebucheinträge von Erics Vater waren fast zu viel für mich, dass der Arzt, der seinen Dienst an Deutschland tun wollte, daran sterben musste, das konnte ich fast nicht ertragen. Und sein Tod war die Gefangenschaft auch, man konnte Wort für Wort verfolgen, wie er dahinsiechte. Sehr ergreifend und unglaublich eindrucksvoll!


    Und nun soll auch noch Gerhard mit nach England - ob sich die Devons da nicht zu viel zumuten? Klar, für Eric ist es eine Art Wiedergutmachung an Franz, aber wie ist es für Nora? Sie freut sich vielleicht, weil sie keine Kinder hat, aber das wird kein niedliches Baby, sondern ein schwieriger Teen!


  • Seinen verallgemeinernden Aussagen zum Wesen der Deutschen kann ich aber nur bedingt zustimmen. Ich wage zu behaupten, dass ein solches Regime auch in so ziemlich jedem anderen Staat der Welt hätte passieren können bzw. immer noch passieren kann. Auch Franz' Kulturpessimismus kann ich nicht hundertprozentig nachvollziehen. Es stimmt überhaupt nicht, dass es nach dem Krieg keine Kultur mehr in Deutschland gab (man denke etwa an die Schriftsteller der Gruppe 47). Einem Großteil der Bevölkerung wird natürlich der wirtschaftliche Wiederaufbau wichtiger gewesen sein, was ich auch völlig nachvollziehbar finde. Womit er natürlich recht hat, ist, dass der Verlust so vieler jüdischer Künstler eine unwiederbringliche, große Lücke gerissen hat..


    Das sehe ich genauso und finde, Du hast das sehr, sehr gut dargestellt! Das ist das, was ich mit den Klischees meinte, aber ich denke mir, dass es trotz allem ein Novum war, so früh, seine Gedanken diesbezüglich so klar zu formulieren!

  • Dieser Abschnitt jat mich wirklich sehr nachdenklich zurückgelassen. Auslöser waren natürlich zum einen das Tagebuch von eric´s Vater aus dem gefängnis, zum anderen aber auch die "Einstellung/Sichtweise" von den Herren Grubach. So sehr wie ich das eine (Tagebuch) bewundere und so ich das andere (Grubach) verabscheue, stellt sich mir doch unweigerlich die Frage WIE ich mich verhalten hätte?
    Mit dem Wissen von heute und dem Geburtsjahr 1972 denkt man sich, dass man natürlich nicht gefolgt wäre, dass man sich widersetzt hätte. Aber hätte man das tatsächlich, wenn man gefoltert wird oder noch schlimmer die Kinder körperlich und seelisch bedroht werden?
    Un d wie kann man hinterher mit der Schuld und dem schlechten Gewissen leben? Verdrängt man, wie Eric oder verherrlicht man wie Grubach, wird man ein Stück weit zynisch, aber auch weise und milde wie Tante Rosie? Keine Ahnung! Man kann es tatsächlich nicht beantworten.
    Und ich frage mich auch, wie meine Großeltern (Jahrgänge 1915 - 1929und alle schon verstorben) den Krieg er- und überlebt haben und wie sie damit weitergelebt haben. Darüber gesprochen haben sie nie. Der eine Großvater konnte keine Kriegsfilme sehen ohne danach Albträume zu bekommen und der andere erzählte nur von den Orten, die er als englischer Kriegsgefangener gesehen hatte (Ägypten). nicht verherrlichend, wie ein Tourist, sondern eher emotionslos. So als ob die reinen Fakte, vor Gefühlen schützen.
    Von meinen Großmüttern habe ich nie etwas aus dieser Zeit erfahren. Mein Vater ist im Krieg geboren und meine Mutter danach.
    Die Frage bleibt also unbeantwortet, was für Schuld mag meine Familie auf sich geladen haben oder wie haben sie sich und ihre Lieben beschützt?

  • Ich kannoft auch kaum glauben, dass das Buch schon 1959 geschrieben worden ist, er ist oft schon visionär und bemerkenswert analysiert.


    Eric´s Charakter wird für mich immer schwieriger nachzuvollziehen. Irgendwie ist er mir zu facettenreich und zu schnell wandelbar.


    Und mit der Ich-erzählerin, gebe ich Valentine vollkommen recht. Sie bleibt leider eine leere Hülle und die Nähe zu den Devons, die am Ende des Abschnittes angesprochen und vermisst wird, habe ich als Leserin gar nicht gespürt.


  • Mit dem Wissen von heute und dem Geburtsjahr 1972 denkt man sich, dass man natürlich nicht gefolgt wäre, dass man sich widersetzt hätte. Aber hätte man das tatsächlich, wenn man gefoltert wird oder noch schlimmer die Kinder körperlich und seelisch bedroht werden?


    Ich würde nicht wagen zu behaupten, dass ich auf jeden Fall und unter allen Umständen Widerstand geleistet hätte. Solange man "nur" sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, ist es vielleicht noch ein wenig "einfacher" (was hier eigentlich das falsche Wort ist, weil dazu auch schon gehöriger Mut gehört), aber wenn es um das Leben von Angehörigen oder Freunden geht, ist es schon eine andere Sache.


    Zitat

    Un d wie kann man hinterher mit der Schuld und dem schlechten Gewissen leben?


    Das stelle ich mir auch sehr schwer vor :traurig: Dafür gibt es wahrscheinlich so viele "Lösungen" wie es Menschen gibt ...


    Zitat

    Und ich frage mich auch, wie meine Großeltern (Jahrgänge 1915 - 1929und alle schon verstorben) den Krieg er- und überlebt haben und wie sie damit weitergelebt haben. Darüber gesprochen haben sie nie. Der eine Großvater konnte keine Kriegsfilme sehen ohne danach Albträume zu bekommen und der andere erzählte nur von den Orten, die er als englischer Kriegsgefangener gesehen hatte (Ägypten). nicht verherrlichend, wie ein Tourist, sondern eher emotionslos. So als ob die reinen Fakte, vor Gefühlen schützen.


    Mein überlebender Opa (der andere ist im Krieg gefallen) hat seinen Kindern auch nur erzählt, wie schön die Landschaft in Norwegen war und so gut wie nichts über den Krieg. Manchmal frage ich mich, was er wohl damals erlebt und getan hat. Fragen kann ich ihn leider nicht mehr.


    Meine Oma hat ab und zu von Luftangriffen und den dann zu sehenden "Christbäumen" am Himmel erzählt und davon, wie sie widerwillig die blöde Hakenkreuzfahne rausgehängt hat, wenn sie musste. Ihr habe ich geglaubt, dass sie keine Nazi-Anhängerin war, sie war eine sehr geradlinige und manchmal auch sture Frau, die ihre beiden kleinen Söhne allein großziehen musste. Sie waren 2 bzw. 4 Jahre alt, als der Vater umkam :traurig:


    Und mein Stiefpapa, Jahrgang 1932, war mal kurz Hitlerjunge und ging dann einfach nicht mehr hin, weil er den Drill nicht mochte :breitgrins: Bei uns auf dem Dorf war das anscheinend damals noch möglich, ohne dass es Ärger gab. Seine Familie hat auch zeitweise einer jüdischen Familie geholfen. Genaueres weiß ich aber leider nicht mehr.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen






  • Erics Vater spricht in seinen Aufzeichnungen aus dem Gefängnis einen interessanten Aspekt an, den ich für glaubwürdig halte, dass es auch jüdischstämmige Menschen gab, die im Grunde antisemitische Ansichten hegten, weil sie den Glauben ihrer Vorfahren nicht mehr praktizierten und mit der Religion im allgemeinen und im besonderen nichts anfangen konnten.


    Ja, das ist ein Fakt, den man auch heute noch unterschätzt, weil nicht wenige Menschen Juden und Deutsche getrennt voneinander betrachten. Im Grunde schon ein erster antisemitischer Ansatz (wenn auch bei nicht wenigen unbewusst): das Judentum ist eine Religion und keine Nationalität oder eine politische Einstellung.
    Nicht wenige Deutsche jüdischen Glaubens waren deutschnational gesinnt und nahmen die antisemitische Hetze der Nazis anfangs überhaupt nicht ernst. Oder sie dachten, dass sie durch ihre Teilnahme am Großen Krieg geschützt seien.


    Besonders gelungen fand ich übrigens, wie Erics Vater in seinem Tagebuch deutlich macht, dass all diejenigen, die angeblich nichts von den Verfolgungen gewusst haben wollen, nur Mein Kampf hätten lesen müssen. Da steht alles drin... Wie viele Haushalte das Hass-Pamphlet hatten? Tja.

    Liebe Grüße

    Tabea


  • Und mit der Ich-erzählerin, gebe ich Valentine vollkommen recht. Sie bleibt leider eine leere Hülle und die Nähe zu den Devons, die am Ende des Abschnittes angesprochen und vermisst wird, habe ich als Leserin gar nicht gespürt.


    Ich muss gestehen, dass ich die Ich-Erzählerin immer wieder vergessen habe und sie mehr als einen übergeordneten Erzähler begreife. Wenn sie dann aber direkt einbezogen wird, irritiert mich das zunehmend.
    Ist es realistisch, dass sich alle Beteiligten in ihrer Gegenwart so öffnen? Für mich wäre es plausibel, wenn sie nicht mit einem Ehepaar unterwegs wäre. Mit einer Einzelperson, die Unterstützung und Halt benötigt, ja - aber mit einem an sich funktionierenden Paar... ich weiß nicht.

    Liebe Grüße

    Tabea


  • Seinen verallgemeinernden Aussagen zum Wesen der Deutschen kann ich aber nur bedingt zustimmen. Ich wage zu behaupten, dass ein solches Regime auch in so ziemlich jedem anderen Staat der Welt hätte passieren können bzw. immer noch passieren kann.


    Ich hoffe sehr, dass die Menschheit aus zwei Weltkriegen und einem industriellen Massenmord gelernt hat. Auch wenn wir heute Aleppo und andere schlimmste Kriegsgebiete sehen und mich schon dieser Anblick im Wechsel fassungslos, wütend und unglaublich traurig macht.


    Zum ersten Punkt: ich denke, dass Eric so falsch nicht lag. Sicher, man kann eine Gruppe von Menschen niemals anhand ihrer nationalen Zugehörigkeit über einen Kamm scheren. Es gibt kein deutsches Wesen, keine deutschen Charakterzüge. Wohl aber gibt es eine gesellschaftliche Stimmung, eine weit verbreitete Stimmung innerhalb eines Landes, die durch Propaganda, Sozialisation und Erziehung geprägt wird.


    Die damalige Stimmung in Deutschland war bezüglich einiger Faktoren einzigartig, deshalb konnte die Weimarer Republik einen perfekten Nährboden für den Nationalsozialismus schaffen.
    Wenn man bedenkt, dass es auch in Italien und Spanien zur gleichen Zeit Faschismus gab, muss man doch anerkennen, dass ihnen der völkische Hass, der im Dritten Reich immense Bedeutung hat, völlig fehlte. Mussolini überhöhte seine "Bewegung", aber er sah sie nicht als Herrenmenschen.


    Sicher, Antisemitismus war in Europa und Nordamerika weit verbreitet - aber aus ihr wurde nur im Deutschen Reich eine Komponente, die zu einer "Endlösung" führte.


    Zitat

    Auch Franz' Kulturpessimismus kann ich nicht hundertprozentig nachvollziehen. Es stimmt überhaupt nicht, dass es nach dem Krieg keine Kultur mehr in Deutschland gab (man denke etwa an die Schriftsteller der Gruppe 47).


    Hier ist der Blick in der Tat zu negativ. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie es mit der Verfügbarkeit von Literatur in der Nachkriegszeit aussah. Aber Ende der 50er dürfte das kein Thema mehr sein, oder?
    Interessant dürfte sicherlich auch der Diskurs zwischen den Schriftstellern der Exilliteratur und denjenigen der inneren Emigration sein. Aber leider habe ich mich mit diesem Thema nie wirklich befasst... Schade eigentlich.

    Liebe Grüße

    Tabea