Detlev Meyer - Das Sonnenkind

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    Detlev Meyer - Das Sonnenkind


    Inhalt:


    Der neunjährige Carsten Wollin erlebt einen Sommer im Nachkriegsberlin der 1960er Jahre und begleitet seinen Großvater gern auf dessen Besuchen im Café Kranzler. Der alte Wollin ist ein Charmeur der alten Schule und wickelt alle um den Finger, die mit ihm zu tun haben - nicht zuletzt seine Ehefrau und seine Geliebte, die sich den Schwerenöter zähneknirschend teilen, was bleibt ihnen auch anderes übrig. Carsten bewegt sich als geliebtes „Sonnenkind“ innerhalb dieser Familie, lässt sich verwöhnen und versucht allen zu gefallen. Mit seinem Bruder Stephan gründet er einen Jungs-Club und trifft Freunde, gerne wäre er ein wenig verwegener und wilder, kann aber nicht aus seiner Haut und bleibt Everybodys Darling. Nichts trübt diese glückliche Kindheit, bis der Großvater plötzlich eine niederschmetternde Diagnose erhält...


    Meine Meinung:


    „Das Sonnenkind“ ist in der Originalausgabe 2001 erschienen und wurde nun vom Aufbau-Verlag neu herausgegeben, in einer wunderbar hochwertigen Ausstattung - eine kleine Buchperle im Regal. Detlev Meyer hat den Roman bereits im Wissen um seinen bevorstehenden Tod angesichts einer Immuninfektion geschrieben und damit Rückschau auf seine Kindheit gehalten.


    Auch wenn die Erzählung auf den kleinen Carsten fokussiert ist, kommen doch die Perspektiven all der anderen Figuren ebenfalls zum Tragen, die wohl den Menschen in Meyers Kindheit ähnlich waren. Wir bewegen uns in einem sehr bürgerlichen Umfeld in Neukölln, in dem jeder versucht, so gut wie möglich vor den Nachbarn dazustehen, dunke Geheimnisse verschwiegen und gerne französische Begriffe verwendet werden, um die Vornehmheit der Familie zu unterstreichen. Die Doppelmoral des Großvaters, der noch dazu eine Nazi-Vergangenheit hat, das nicht bewältigte Kriegstrauma des Vaters, das hypochondrische Wesen der Großmutter, das alles wird zwar ganz schüchtern beschrieben, geht aber in dem augenzwinkernden Humor unter, der sich durch die ganze Geschichte zieht. Und schnell wird klar, es geht nicht darum, irgendetwas aufzuarbeiten; Detlev Meyer gönnte sich und den Lesern einen wehmütigen und verklärenden Blick zurück in die Vergangenheit, in die Tage seiner eigenen Kindheit.


    Besonders gut gefallen hat mir dabei, dass mehrere Generationen beleuchtet werden und jeweils deren ganz spezielle Lebenssituationen geschildert werden. Daher ist es ein bunter Mix an Themen, die durch die Familienverbindung untereinander verknüpft sind und die als Ganzes betrachtet die Phasen eines ganzen Lebens darstellen. So vertritt Carsten die Kindheit und deren spezielle Denkart, während sein Bruder Stephan an der Schwelle des Erwachsenwerdens steht und seine erste Liebe erlebt; die Generation der Eltern kämpft mit Altlasten und dem täglichen Leben, während der Großvater seinen letzten Lebensabschnitt auf seine eigene Art und Weise genießt. Er ist auch derjenige, der am Ende mit Siechtum und Tod konfrontiert wird. Durch dieses Konstrukt konnte der Autor sein eigenes Erleben auf verschiedene Figuren projezieren und sein Leben Revue passieren lassen.


    Der heitere Ton, der die ganze Handlung bis zum Ende durchzieht, macht das Lesen zum Vergnügen, nimmt so manchem bitteren Moment seine Schärfe. Detlev Meyer verzichtete auf Anführungszeichen in der wörtlichen Rede, was sich für mich zunächst etwas seltsam anfühlte beim Lesen. Mit der Zeit bin ich aber sehr gut mit dem Stil zurecht gekommen und wusste den Lesefluss zu schätzen, der sich durch diese Schreibweise zunehmend einstellte. Die Sprache selbst ist elegant und treffsicher, ohne übertriebene Verschnörkelung, was ich als sehr angenehm empfand. Ein Nachwort von Matthias Frings rundet die Geschichte ab und gewährt einen Blick in das literarische Schaffen des Autors.


    Mein Fazit:


    Dieses kleine, aber feine Werk jenseits vom Mainstream dürfte vor allem LeserInnen gefallen, die weniger handlungsorientiert lesen, sondern mehr Wert auf die tiefgründige Ausarbeitung der Figuren und einen feingeistigen Sprachstil legen. Wer sich für den Zeitgeist der 1960er im bürgerlichen Berlin der Nachkriegsjahre interessiert und überhaupt mit der Berliner Literaturszene vertraut ist, wird ebenfalls seine Freude daran haben. Ich hatte den Lesegenuss vor allem durch den heiter-melancholischen Ton, der „Das Sonnenkind“ zu einem emotionalen Leseerlebnis werden lässt.


    5ratten

    :lesen: Kai Meyer - Die Bibliothek im Nebel

  • Inhalt:


    Der 9-jährige Carsten wächst im Berlin der 60er-Jahre auf. Er ist ein wahres Sonnenkind, von allen geliebt und zu seinem Großvater hat er eine besonders innige Beziehung. Sein grosser Bruder steht ihm beschützend zur Seite und die Nachbarn lieben ihn. Eines Tages erkrankt sein Grossvater und die heile Welt von ehemals ist nicht mehr so wie sie war.


    Meine Meinung:


    Detlef Meyer hat die Veröffentlichung seines Romans nicht mehr erlebt. Der Autor verstarb 1999 an einer Immunerkrankung. "Das Sonnenkind" ist 2001erstmals veröffentlicht worden und wurde nun in einer wunderschönen Ausgabe neu herausgebracht. Der leicht glänzende Leineneinband und das handliche Format machen das Buch zu einem kleinen Schmuckstück und so wird das Äußere auch dem Inhalt gerecht.


    Carsten Wollin ist ein kleiner Dandy, der vieles seinem Großvater abschaut. Wie Max Wollin hat der kleine Carsten ein Faible für korrekte Kleidung und eine angemessene Ausdrucksweise. Dies führt im Buch an der ein oder anderen Stelle zum Schmunzeln, wenn er Begriffe aufschnappt, die heutzutage schon etwas altertümlich wirken.


    Carsten wächst im Truseweg, einer Strasse im Berliner Stadtteil Neukölln auf. Seine Mutter ist insgeheim etwas verdorben, sein Vater kämpft noch mit den Nachwirkungen des Krieges, während die Großmutter schon längst aufgegeben hat, gegen die Zweitfrau ihres Mannes zu kämpfen. Max Wollin hat, was jedem bekannt ist, in seiner ehemaligen Sekretärin schon seit Ewigkeiten eine Zweitfrau. Else Wollin pflegt ihre angeblichen Krankheiten, während die Sekretärin dem alten Wollin aufgetakelt schöne Augen macht. Trotzdem glaubt man Max Wollin, dass er beide Frauen liebt und auch beim Lesen kann man ihm irgendwie nicht böse sein.

    Als Max Wollin dann allerdings schwer erkrankt, kann er sein Liebesarrangement nicht weiter führen wie bisher, er muss eine Entscheidung treffen.


    Mit ganz viel Liebe zum Detail ist "Das Sonnenkind" geschrieben. Charaktervolle Figuren und ein der Zeit angepasster Schreibstil machen das Buch zu einem wahren Lesegenuss. Schaut man ein wenig über den Buchrand hinaus, erfährt man, dass der Autor als "einziger Dandy der Gegenwartslitertaur" (DIE ZEIT) galt. Da auch Carsten Wollin bei den Besuchen im Cafe Kranzler seine Sinalco stets aus Cognacschwenkern trank und seine Kniestrümpfe (keine Socken) stets auf die Farbe der Hose abgestimmt waren, kann man den autobiographischen Bezug erkennen.


    Insgesamt war "Das Sonnenkind" ein Buchgenuss der besonderen Art, der zwar federleicht aber auch mit melancholischen Tönen daherkommt.


    5ratten

    Das sind keine Stirnfalten. Das ist ein Sixpack vom Denken.

  • Carsten wächst in der Nachkriegszeit recht behütet in Berlin auf. Der Neunjährige ist klein für sein Alter, dafür aber umso gescheiter. Neue Wörter saugt er förmlich in sich auf, um sie bei der nächstbesten Gelegenheit anzuwenden, und er liebt es, mit seinem stets korrekt gekleideten Opa im Café Kranzler zu sitzen und Limonade aus einem Cognacschwenker zu trinken.


    Der Großvater ist für ihn Bezugsperson und Vorbild in Sachen Erscheinung, ein ehemaliger Prokurist, der gerne herrschaftlich tut, nicht zuletzt, weil seine sehr standesbewusste Gattin doch sehr bedauert, dass der Adelstitel einer Vorfahrin wegen einer Mesalliance nicht mehr bis zu ihr durchgedrungen ist, und seit Jahrzehnten nebenbei was mit seiner ehemaligen Sekretärin am Laufen hat.


    Carstens Eltern sind bodenständige Leute, die Mutter zupackend und patent, der Vater im Erziehungsstil für die damalige Zeit recht modern, doch ihn plagen immer noch die Erinnerungen an seine Kriegserlebnisse. Stephan, der ältere Bruder, macht seine ersten Gehversuche in der Liebe und versucht, möglichst cool zu sein, hat aber auch durchaus ein Herz für den Jüngeren.


    Über weite Strecken besteht das Buch aus Alltagsszenen aus dem Leben eines Kindes, einer relativ typischen Kindheit um 1960, erst spät im Buch sieht sich Carsten zum ersten Mal mit der Sterblichkeit nahestehender Menschen konfrontiert. Doch egal in welcher Lebenslage, Detlev Meyer malt sie so liebevoll mit kleinen, authentischen Details aus, dass es eine Freude ist. Ein wenig erinnert sein Stil manchmal an Erich Kästners humorvolle und dabei oft unterschwellig bissig-treffende Art, nicht nur wegen des Schauplatzes Berlin.


    Auch das Porträt der Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland trifft ins Schwarze. Der geliebte Opa, den wir hauptsächlich mit den Augen des Kindes Carsten sehen, war vor 1945 offenbar ein strammer Nazi, die Großmutter standesdünkelt und hypochondert sich durchs Leben und spielt hinter der Ex-Sekretärin, mittlerweile auch eine "ramponierte Blondine", bei allem Drama doch im Herzen ihres Mannes die zweite Geige, der Vater leidet an seinem Kriegstrauma, doch über die Vergangenheit will niemand mehr reden.


    Und mittendrin der altkluge Carsten, ein guter Beobachter, der sich über die seltsame Welt der Erwachsenen gerne so seine Gedanken macht, vieles in Frage stellt und einem beim Lesen richtig ans Herz wächst.


    Ein warmherziges, auf leise Art oft witziges, aber auch leicht melancholisches Buch mit autobiographischem Touch. Das Nachwort, das uns den leider früh verstorbenen Meyer als Person vorstellt, ist eine schöne Abschlussnote und deutet darauf hin, dass zumindest Anklänge an sein eigenes Leben vorhanden sind.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Der kleine Carsten ist ein Sonnenkind und wir erleben ein Stück seiner glücklichen Kindheit im Berlin der 1950/60er Jahre.


    Die familiäre Situation ist eine Mischung aus gediegener Bürgerlichkeit und bourgeoiser Unkonventionalität, doch auch ein gewisses aus der engen Nachbarschaft erwachsenes „Straßenrenommee“ spielt eine Rolle.


    Es gibt tatsächlich ein bisschen Verarbeitung der NS-Zeit, man hat sich genau gemerkt, wer Profiteur des Regimes war, wer stramm dahinter stand oder wer zumindest heimlich anderer Meinung war und richtet die eigenen Sympathien schon ein wenig danach aus. Aber eigentlich will man den Krieg hinter sich lassen und nach vorne schauen und da das Ganze nur aus Kinderaugen geschildert wird, bleibt alles ziemlich verschwommen und das Unangenehme zu ignorieren ist erst einmal recht einfach.


    Das Buch endet an einer gelungenen Stelle, Carsten wird ab nun wohl ein Stück erwachsener werden müssen. „Das Sonnenkind“ strahlt nicht mehr. Insgesamt gefiel mir der Roman, es erscheint alles sehr glaubwürdig und realistisch, das Nachwort deutet ebenfalls autobiographische Quellen an.


    4ratten