Alice Miller -- Das Drama des begabten Kindes (und die Suche nach dem wahren Selbst)

Es gibt 7 Antworten in diesem Thema, welches 2.458 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von HoldenCaulfield.

  • Trigger Warnung: Sexuelle Gewalt und Kinderschändung


    Das hier ist ein Buch über die geschädigte Entwicklung von Kindern aus psychologischer Sicht. Keine leichte Kost! Also weiterlesen auf eigene Gefahr, würde ich sagen.


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    Alice Miller -- Das Drama des begabten Kindes (und die Suche nach dem wahren Selbst)


    Meine Therapeutin hatte vor ein paar Wochen das Thema Narzissmus angesprochen, was mich sehr erschreckte, da ich mit dem typischen Bild eines Narzissten eigentlich nichts gemeinsam hatte. Ganz bestimmt sehe ich mich nicht als besser als die anderen Menschen und will das auch gar nicht sein. Im Gegenteil, ich will einfach nur "normal" sein und nicht auffallen.

    Anscheinend gibt es mehr zum Thema Narzissmus, als das was den meisten Menschen einfällt. Es gibt eine Kehrseite, die die Leute erfasst, die genau das Gegenteil eines klassischen Narzissten darstellen. Anstatt einer stark ausgeprägten Persönlichkeit haben diese eine zu schwach ausgeprägte Persönlichkeit. Das war wohl, weswegen sie es ansprach und mir empfahl Literatur zum Thema zu besorgen, da sie weiß, dass ich auch vorher Bücher las zu Themen aus der Therapie.


    Eines der Bücher war dann "Das Drama des begabten Kindes" von Alice Miller. Der Titel ist vielleicht etwas irreführend, weil es nicht unbedingt um ein begabtes Kind im Sinne von besonders klug oder geschickt geht. Es werden eher Kinder gemeint, die sich während des Aufwachsens so sehr an die Normen und Erwartungen der Eltern und anderer Erwachsenen anpassten, dass sie quasi ihr eigenes Selbst verlieren bzw. gar nicht erst entwickeln konnten.

    Ein Kind zum Beispiel dessen Mutter emotional instabil ist und ständig Hilfe vom eigenen Kind benötigt, wird zwangsweise eher selber eine Mutterrolle einnehmen und gar nicht ihre eigene Kindheit dazu gebrauchen können, um sich selbst zu entwickeln in dem es den Dingen nachgeht, für die es sich interessiert.

    Das Buch beschreibt auch Kinder, die sexuelle Misshandlung durch Menschen erlitten haben, denen sie eigentlich vertrauen müsste und von denen es als kleines Kind eben auch noch abhängig ist. Solche Kinder passen sich meistens an nach dem Sinne 'auch wenn es mir nicht gefällt, meine Eltern wissen was besser ist und ich brauche sie'.


    Nicht alle Fälle müssen so extrem sein und selbst bei Eltern, die ihre Kinder lieben und alles richtig machen wollen können bestimmte Dinge eine Persönlichkeitsanpassung in Folge ziehen.

    Ein Kind könnte lernen, dass es nur anerkannt wird, wenn es gute Noten in der Schule bekommt, weil es den Eltern schwer fällt dem Kind Nähe und Liebe zu bieten oder (bewusst oder unbdewusst) abwertend gegenüber den Dingen reagieren, die das Kind interessiert und gerne macht. Somit tauscht es quasi die eigene Persönlichkeit mit dem Schulerfolg aus und identifiziert sich nur noch daran, nicht mehr mit den eigenen Interessen, da es lernt, dass diese keinen Wert haben.


    Es sind auf jeden Fall interessante Themen und werden von der Autorin, die selber natürlich Psychologin ist, recht gut erklärt. Sie benutzt auch bekannte Persönlichkeiten, die sich öffentlich über ihre Kindheit und die Probleme in dieser ausgedrückt haben, als Beispiel. So schreibt sie zum Beispiel über Hermann Hesse und seine Beziehung zu seinen Eltern.

    Allerdings würde ich dieses Buch eher als eine Sammlung von Essays aus der Sicht einer psychologischen Therapeutin beschreiben als ein sauber durchstrukturiertes Fachbuch. Ich fand es ein wenig unangenehm, dass die Prosa nicht so deutlich und klar war, wie in einem Sachbuch, aber auch nicht so bunt und persönlich wie in einer typischen Essay Sammlung. Irgendwie ist es genau der Mitte davon gelandet und beinhaltete außerdem etliche, ewig lange Schachtelsätze.


    Besonders interessant - und das ist auch ein Grund, weswegen mir das Buch wohl besonders in Erinnerung bleiben wird - waren die Momente, in denen Miller über Therapeuten-Patienten Beziehungen spricht. Darüber, wie sich die Kindheit eines Therapeuten darauf auswirken kann, wie sie mit ihren Patienten umgehen, sei es bewusst oder unbewusst. Diese psychologischen Blicke hinter die Kulissen waren was ziemlich besonderes für mich. Selten werden Therapeuten selbst analysiert. Ich denke, das hat man wohl auch der persönlichen Eigenschaft von Essays zu verdanken.



    Wer sich für Psychologie interessiert - besonders die (negativen) Auswirkungen von Dingen aus der Kindheit auf die erwachsene Person - der hat hiermit wohl einen sehr soliden Einstieg. Das Buch wird wohl nicht ohne Grund seit fast 40 Jahren immer wieder neu gedruckt.

    Meine Kindheit war bei weitem nicht so drastisch, wie die krassen Beispiele, die ich genannt habe, aber ich habe mich definitiv bestätigt gefühlt in meinen Vermutungen zu meiner Kindheit und ihren Auswirkungen auf meine heutige Persönlichkeit.


    3,5/5

    3ratten:marypipeshalbeprivatmaus:

  • Matthias wenn dich das Thema Narzissmus im Allgemeinen interessiert, kann ich auch von Reinhard Haller "Die Macht der Kränkung" und "Die Narzissmusfalle" empfehlen.


    Ich kenne das Buch nicht, finde aber den Untertitel "die Suche nach dem wahren Selbst" irgendwie missglückt. Aus deiner Rezension geht hervor, was die Autorin damit meint. Ich bin nur kein Fan von diesem Selbstoptimierungs-Wettbewerb, sein einzig wahres Selbst zu finden, welches wahrer ist als das zuvor. Dazu gibt es ja auch genügend Selbsthilfebücher, Coaches, Gruppen und so weiter, die mit genau diesem "wahren Selbst" werben. Ich stoße mich immer an dem Gedanken dahinter, dass man an einem beliebigen Zeitpunkt etwa nicht sein wahres Selbst haben sollte, was hat man denn dann? Dabei geht es mir nicht darum, dass man sich nicht intensiv mit sich selbst beschäftigen kann und dadurch auch etwas über sich selbst lernen kann und reflektieren kann, ich bin nur persönlich der Meinung, dass man doch immer sein Selbst mit sich herumträgt.

    Die Autorin meint aber natürlich, dass sich diese Identität in der Kindheit gar nicht aufbauen konnte durch die traumatischen Erfahrungen.


    Besonders interessant - und das ist auch ein Grund, weswegen mir das Buch wohl besonders in Erinnerung bleiben wird - waren die Momente, in denen Miller über Therapeuten-Patienten Beziehungen spricht. Darüber, wie sich die Kindheit eines Therapeuten darauf auswirken kann, wie sie mit ihren Patienten umgehen, sei es bewusst oder unbewusst. Diese psychologischen Blicke hinter die Kulissen waren was ziemlich besonderes für mich. Selten werden Therapeuten selbst analysiert.

    Da gibt es in der Fachliteratur sicherlich noch Raum für die kritische Auseinandersetzung, auch das Thema "wenn Therapeuten schaden" ist leider oft ein Tabuthema.

    Allerdings ist genau diese Analyse aber doch ein ganz großer Teil in der Therapeutenausbildung und auch immer Teil der Arbeit, durch Selbsterfahrung und Supervision. Sie findet nur wie du schon sagst hinter den Kulissen statt, was aber auch wichtig ist, da ja auch der Therapeut ein Schutzbedürfnis hat, wenn es um so private Dinge geht.

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

  • Matthias wenn dich das Thema Narzissmus im Allgemeinen interessiert, kann ich auch von Reinhard Haller "Die Macht der Kränkung" und "Die Narzissmusfalle" empfehlen.

    Danke. Die Bücher seh ich mir vielleicht mal an. Ich habe zu dem Thema auch "Der Narzissten-Test" von Dr. Craig Malkin gelesen, das ich sehr hilfreich fand. Malkin beschreibt Narzissmus nämlich als Spektrum bei dem das eine Extrem für den typischen eingebildeten Narzissen steht und das andere Extrem für den von ihm genannten Echoisten. Fand das Schaubild sehr ansprechend und nachvollziehbar.


    Zitat

    Ich kenne das Buch nicht, finde aber den Untertitel "die Suche nach dem wahren Selbst" irgendwie missglückt. Aus deiner Rezension geht hervor, was die Autorin damit meint. Ich bin nur kein Fan von diesem Selbstoptimierungs-Wettbewerb, sein einzig wahres Selbst zu finden, welches wahrer ist als das zuvor.

    Vielleicht ist das wie bei vielen Dingen aus der Psychologie so, dass man es nur nachvollziehen kann, wenn man es selbst erlebt. Im Grunde geht es ja eher darum, dass man seine gesamte Persönlichkeit durch etwas bestimmtes definiert, wie zum Beispiel Erfolg in der Schule/Beruf, weil es das einzige war, bei dem die Eltern (oder andere autoritäre Personen) positive Rückmeldung gaben, während man sich eigenen Interessen gar nicht mehr zuwendet und dementsprechend auch nicht ausbildet, weil man "gelernt" hat, dass diese unwichtig oder sogar beschämend sind. So dass es die persönliche Entwicklung eben einschränkte und man sich selbst als wertlos empfindet, wenn man die angelernten Prioritäten nicht befriedigt, egal wie sinnvoll diese wahren. Es geht also oft nicht mehr darum wer man ist, sondern was man tut. "Wenn ich keine 1 in Mathe habe oder kein Abitur schaffe, dann bin ich wertlos. Wenn ich meine Zeit mit meinen Hobbies verschwende, dann wertschätzen mich meine Eltern nicht mehr." Und diese oder ähnliche Denkweisen verfestigen sich dann während das Aufwachsens und lösen meistens Persönlichkeitsstörungen aus. Natürlich nicht bei jedem.

    Ich glaube eine bessere Erklärung krieg ich nicht hin.

  • Matthias ich wollte gar nicht das Konzept der Autorin kritisieren, da bin ich wohl ganz bei euch! Ich meinte nur, dass der Titel fälschlicherweise Assoziationen zu diese Selbstoptimierungstrendbüchern wecken könnte bzw. bei mir geweckt hat.


    Ich bin übrigens selbst mit einer schwer psychisch kranken Mutter aufgewachsen und habe in meiner Kindheit auch Traumatisierung erlebt. (Auch wenn es mir schwer fällt, das so zu bezeichnen, weil ich mir denke, dass andere viel schlimmeres durchstehen mussten.)

    Ich hatte Glück und konnte meiner Meinung nach eine relativ gefestigte Persönlichkeit entwickeln und habe das ganze relativ gesund durchgestanden.

    Es geht also oft nicht mehr darum wer man ist, sondern was man tut. "Wenn ich keine 1 in Mathe habe oder kein Abitur schaffe, dann bin ich wertlos.

    Das ist glaube ich etwas, dass in gewisser Weise fast jeden Menschen in unserer Leistungsgesellschaft irgendwann mal mehr oder weniger beschäftigt, auch gesunde Menschen. Sich selbst bedingungslose Wertschätzung gegenüberzubringen, ist gar nicht so leicht. Ich begegne da in meiner Arbeit - und natürlich auch privat - ganz vielen, bei denen das immer wieder ein Thema ist, das belastet oder beschäftigt, ganz gleich ob mit oder ohne Persönlichkeitsstörung.

    Mich selbst beschäftigt das auch immer wieder mal und ich muss mich da auch an der eigenen Nase nehmen.

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

  • Ich bin übrigens selbst mit einer schwer psychisch kranken Mutter aufgewachsen und habe in meiner Kindheit auch Traumatisierung erlebt. (Auch wenn es mir schwer fällt, das so zu bezeichnen, weil ich mir denke, dass andere viel schlimmeres durchstehen mussten.)

    Im Grunde ist es ja egal, wie man es nennen will, aber ich finde generell macht es wenig Sinn sein eigenes Schicksal mit dem einer anderen Person zu vergleichen.


    Zitat von tári

    Ich hatte Glück und konnte meiner Meinung nach eine relativ gefestigte Persönlichkeit entwickeln und habe das ganze relativ gesund durchgestanden.

    Sehr gut! Bin immer froh, so etwas zu hören.


    Zitat von tári

    Das ist glaube ich etwas, dass in gewisser Weise fast jeden Menschen in unserer Leistungsgesellschaft irgendwann mal mehr oder weniger beschäftigt, auch gesunde Menschen.

    Absolut. Das lässt sich gar nicht bestreiten. Ich denke bei Kindern kommt es sehr viel darauf an, wie die nächsten Bezugspersonen mit den Sachen bzw. dem Kind umgehen und ein wenig auch wie sehr das Kind vielleicht schon genetisch veranlagt ist.

    Und hoffentlich ist man als Erwachsener dann stark und selbstbewusst genug um sich eben nicht von diesem Leistungsdruck und den Erwartungen anderer Leute formen zu lassen.

  • Im Grunde ist es ja egal, wie man es nennen will, aber ich finde generell macht es wenig Sinn sein eigenes Schicksal mit dem einer anderen Person zu vergleichen.

    Absolut und das würde ich auch jeder Person vor mir sagen, aber bei mir selbst neige ich dazu, viel strenger zu sein als bei anderen. Auch deswegen bewusst der Begriff Trauma, aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

  • Eine super interessante Unterhaltung, die Ihr beide da führt!


    Das Problem, sich als Kind zu sehr angepasst zu haben, kenne ich auch (obwohl ich sehr liebevolle Eltern hatte). Gehen die Bücher, die Du vorgeschlagen hast, auch in diese Richtung, tári ?

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen