Fjodor Dostojewski - Schuld und Sühne bzw. Verbrechen und Strafe

Es gibt 51 Antworten in diesem Thema, welches 37.833 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Onkel Orwell.

  • nirak
    Ich hab Deinen Beitrag mit dem bereits existierenden Thread zusammengeführt. Bitte benutze im Vorfeld unsere Suche, bevor Du einen Thread öffnest. Gerade bei Klassikern (oder anderen eher bekannteren Romanen) ist es meist sehr wahrscheinlich das es bereits einen Thread gibt. Danke! :winken:

  • Mich überrascht ein wenig, dass hier so viele schreiben, wie schwer das Werk doch zu lesen sei! Ich habe das Buch vor knapp einem halben Jahr - mit 17 - gelesen und das vollkommen freiwillig. Ich für meinen Teil war sehr begeistert und zähle den Roman zu meinen Liebsten. Die Sprache (in der Swetlana-Geier-Übersetzung) ist gekonnt und keinesfalls schwierig. Psychologische Themen werden angesprochen und zwar auf eine äußerst subtile und geschickte Art - gefällt mir sehr! Dostojewskij gelingt eine enorm ausführliche, detaillierte und feinfühlige Charakterzeichnung, was ich so selten bei anderen Autoren gelesen habe. Langweilig wurde mir das Werk an keiner Stelle. Große Empfehlung von meiner Seite!

  • Meine Meinung
    Ich habe mich mit der Lektüre von Schuld und Sühne eher schwer getan. Ich fand die Beschreibungen der Lebensumstände der Menschen großartig. Die Armut, die Enge in den Wohnungen und die Hoffnungslosigkeit haben mich sehr beeindruckt. Auf der anderen Seite fand ich die Gespräche sehr langatmig und umständlich. Ich konnte mich mit keinem der Protagonisten anfreunden, eigentlich ist mir überhaupt keine auch nur einigermaßen sympathische Person in diesem Buch begegnet. Deshalb ist mein Eindruck kein wirklich guter.
    2ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Fjodor M. Dostojewski - Schuld und Sühne


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    Originaltitel: Prestuplenie i nakazanie
    Erstveröffentlichung: Russki Westnik Jan. – Dez. 1866 (Deutsch 1882)
    Übersetzer: Hermann Röhl (1912)
    Seiten: 798



    Inhalt oder Kurz & knapp und geblendet:


    Schuld und Sühne lässt uns ins Russland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eintauchen und erzählt die Geschichte, rund um den ehemaligen Studenten Raskolnikow. Dieser hegt eine fragwürdige Ideologie, welche eine spärliche Menge aussergewöhnliche Menschen, über den Rest der Menschheit stellt und ihnen in bestimmten Situationen auch das Morden erlaubt, wenn es einer, für die Mehrheit, guten Sache dient.


    Er hält sich selbst für einen dieser außergewöhnlichen Menschen und so werden wir bald Zeuge eines

    , welcher ihn in Konflikt mit dem Gesetzt, seinem Umfeld und sich selbst bringt.



    Vorweg oder Für wen, über was und überhaupt:


    Obwohl es sich um einen gewaltigen Brocken mit vielerlei Interpretationsmöglichkeiten handelt, befasse ich mich hier in erster Linie mit einigen Schlüsselszenen die das ganze erst richtig abrunden vermögen. Kurzum sei gesagt, dass nach diesem Teil einige Dinge gespoilert werden. Folgender Text eignet sich also nur für jene, welche das Buch entweder bereits gelesen haben, oder mit einem gewissen Hintergrundwissen an die Sache herangehen möchten, oder sowieso nicht vorhaben den Roman zu lesen. Ich beschränke mich auf das Nötigste und versuche nicht jegliche Spannung vorweg zu nehmen. Meiner Meinung nach ist das sowieso kein Roman der von der Spannung lebt. Dostojewskis Konstellationen und die Gespräche sind meines Erachtens bereits die Lektüre wert, selbst wenn man den Ausgang bereits kennt. Jene die unvoreingenommen bleiben möchten, sollten wohl allgemein besser auf Rezessionen verzichten.



    Das Lateral oder Interpretation eines Dilettanten:


    Dostojewski wählt die Form eines neutralen Erzählers und macht uns zum Voyeur einer psychologischen Auseinandersetzung von Schuld und Sühne und nicht zum Täter eines Doppelmordes. Anhand von dem was ich bis zu Beginn der Lektüre über Schuld und Sühne in Erfahrung gebracht habe, ging ich mit der Erwartung eines Ich-Erzählers an das Buch heran. Dies bereitete mir etwas Startschwierigkeiten, stellte sich aber als einen geschickten Schachzug heraus.


    Die Geschichte wird in sechs Teile und einen Epilog aufgeteilt. Der erste Teil macht uns mit dem ehemaligen Studenten Raskolnikow und dessen verwahrlostes, beengtes Leben in Armut bekannt. Er lebt sehr zurückgezogen im obersten Stock eines Sankt Petersburger Wirtshauses. Sein winziges Zimmer besteht nur aus ein paar Stühlen, einem Tisch und einem Schlafsofa - von dem aus er auch gleich die Türklinke erreichen kann. Er befindet sich bereits in einem Kampf mit sich selbst und liebäugelt mit der Idee, einen Mord an seiner grausamen Pfandleiherin zu begehen, um mittels dem erbeuteten Geld lebenswürdigere Leben zu retten. Also eine schlechte Person töten, um duzend guten Personen das Leben zu ermöglichen. Zufällige Ereignisse untermauern sein Vorhaben und so kommt’s wies kommen muss – dies bereits zum Schluss des ersten Teiles – und wir werden Zeugen eines Mordes mit Hindernissen. Dies und auch alles was danach noch kommt wurde von Dostojewski geschickt konstruiert. Seine Figuren sind lebensnah und selbst als ich die Geschichte noch ein wenig anders sah als mit späteren Nachforschungen, fieberte ich mit Raskalnikow mit. Ich betrachtete ihn immer als Antihelden und war anfangs, nach beenden der Lektüre, doch ein wenig verwirrt über das Ende.


    Aber halt! Gehen wir nochmals ein Kapitel (von jenem mit dem Doppelmord) zurück. Teil eins, Kapitel sechs. Hier passiert etwas Unscheinbares, aber etwas was die ganze Geschichte in einem neuen Licht dastehen lässt. Diese Theorie ist übrigens nicht von mir, aber ich habe sie in einem Buch gefunden, welche meine Theorie bestätigte und abrundete. Die Rede ist von Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller von Horst-Jürgen Gerigk. Seiner Aussage nach ist alles was nach sieben Uhr in besagtem Kapitel passiert, einschliesslich des Epilogs, ein weiterer (Tag)Traum Raskalnikows. Überhaupt kann ich dieses Buch wärmstens empfehlen, insofern man Interesse an psychologischen Auslegungen mitbringt. Aber es gibt wohl manch andere Interpretationen, so z.B. Romano Guardini der das ganze religiös auslegt, was sich ja insbesondere durch den Epilog sehr anbietet – mit den Deutungen Guardinis die ganze Lektüre hindurch – aber in meinen Augen zu unschlüssig, da ich weder eine Liebe zu Sonja, noch zu Gott, sehen kann. Beide zumindest nicht als Sujet. Schuld und Sühne ist eine fiktiv verpackte Reflexion Dostojewskis, vom Frühsozialisten in die Strafkolonie Sibiriens und der Perfektionierung der Symbolik – durch die Bibel. Ein grosser Denker der wohl immer ein ambivalentes Verhältnis zu Gott und der Religion hatte, und Letzteres auch als Unterdrückungsmittel verstand. Ein Mann der sich als Unterworfener gab, doch tatsächlich als Schriftsteller seine Überzeugungen hinterlegt hatte.


    Von dem Aspekt, alles unmittelbar vor dem Doppelmord sei als Auseinandersetzung anzusehen, ist Raskalnikow wohl ein Vorreiter von Antihelden wie Humpert Humpert aus Lolita bis hin zu Alex aus Clockwork Orange (Stanley Kubrick, nicht Anthony Burgess). Als chronisch Filme-studierende und eher spärlich lesende Person, verlief mein Weg gerade andersrum. So bin ich als Genius des Bösen-und Kubrick-Bewunderer auf Nabokovs Lolita gekommen, durch das mir erstmals die Verbindung zwischen Kubricks Lolita und Clockwork Orange aufgefallen ist. Ein Antiheld mit kontroversen Anschauungen, der trotz seiner Widerwärtigkeit Sympathien erzeugen kann und schlussendlich als Gewinner dasteht.


    Auch der Nietzsche hat wohl viel Inspiration in Dostojewski gefunden - nur so am Rande.


    Ich halte Raskalnikow für viel standhafter, als dass es ihm nachgesagt wird. Einzig Lisawetta – das Pferd welches er tötete anstelle es zu retten – war imstande seine Seele zu kränken. Sie wurde anfangs auch verdrängt und kam erst durch Sonja zur Sprache. Der entscheidende Antrieb Raskalnikows wiederspiegelt sich in dem Traum, wo er als sieben Jähriger hilflos mitansehen muss, wie ein schwaches Pferd von seinem Besitzer zu Tode geschändet wird.


    Der Traum wird wirklich äusserst explizit und grausam geschildert. Sowas macht mir immer etwas Mühe, aber wenn es nicht einfach sinnlos ist, dann lese ich es trotzdem gerne. Es soll ja auch sehr empfindliche Menschen geben. Ich denke da an eine ehemalige Freundin die ein Buch deshalb erst gar nicht lesen oder abbrechen würde, da sie keinen Abstand nehmen konnte. Wenn ich ihr ein Buch zum lesen gab – so z.B. Orwells Auftauchen um Luft zu holen – markierte ich ihr welche Seiten sie überspringen kann. Evtl. gibt es ja auch Forianer welche über eine solche Information glücklich wären: Der Traum befindet sich im ersten Teil, in der Mitte des fünften Kapitels – genauer gesagt von Seite 82-89.


    In meinen Augen steht der Traum als Verkörperung Raskalnikows Wesen, und nicht nur der des momentanen Seelenzustandes, wie das in zuvor besagtem Buch ausgelegt wird. So lässt sich auch sein Helfersyndrom erklären. Da ist der Täter (Leibherr, Unterdrücker), in diesem Typus steckt alles was er verachtet. Das sind die Swidrigailows, die Petrowitschs und die Aljina Iwanownas. Auf der anderen Seite ist das Opfer – das wehrlose Pferd (Leibeigene, Unterdrückte, Wertlose in den konventionellen gesellschaftlichen Anschauungen). Das sind die Menschen die er beschützen möchte. Die Lisawettas und die Sonjas. Er selbst möchte nicht mehr zusehen wie die Mikolkas ihre Pferde zu Tode prügeln und übernimmt die Rolle des Helfers. Durch den ungewollten, aber notwendigen Mord an einem Pferd, vermischen sich die Rollen. Anders gesagt, durch die Vorstellung einen Zeugen, der für ihn aber eigentlich zu den zu rettenden Menschen gehört, umbringen zu müssen, prüft er seine geistige Standhaftigkeit bis ans Limit. Auch das Beil – seine Mordwaffe – ist Bestandteil des Traumes. Er assoziiert es mit einem schnellen humanen Mittel, um jemanden zu ermorden. Zitat: „Du solltest ein Beil nehmen und ihr flink den Garaus machen!“ ruft ein Dritter. Der wahre Grund weshalb er nicht sein Messer nimmt und stattdessen die Sache durch das Beil verkompliziert liegt nicht in den von ihm genannten Argument der Schwäche des Körpers, sondern in jener des Geistes. Während er die alte Wucherin überraschend totschlagen kann, wird der Mord an Lisawetta erst möglich nachdem dieser bewusst ist, dass sie durch ihn totgeschlagen werden wird – ohne Wiederstand, wahrscheinlich überlässt sie es Gottes Willen. Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat‘s genommen…


    Dies sind in meinen Augen die wichtigsten zu berücksichtigenden Aspekte. Ohne jetzt den ganzen Roman auseinandernehmen zu wollen, möchte ich doch noch ein paar Punkte ansprechen.


    Als da wären beispielsweise die teils wirklich sehr langen Gespräche – gerade diese verleihen den Figuren eine unglaubliche Tiefe. Gerade durch diese sickert Raskalnikows Überlegenheit immer wieder durch. Er bekommt es mit einem sehr geschickten Ermittler zu tun, fällt aber nie auf seine Fallen herein – die eine mit den Malern ist einfach nur göttlich.


    Es kommen aber auch noch ganz andere Dinge mit ins Spiel. So ist seine Schwester Dunja, insbesondere unter Berücksichtigung des Alters von Schuld und Sühne, eine weibliche Figur welche an Intelligenz, Stärke und Aufrichtigkeit seinesgleichen sucht. Es ist davon auszugehen, dass er Dunja zutraut selber zu erkennen aus welchem Holz ihr Verlobter geschnitzt ist. Auch würde sie sich wohl um die Mutter kümmern, welche trotz des einfache-Leute-Denkens und bescheidener Redlichkeit nicht in ihren Instinkten zu täuschen ist.


    Auch hier redet man von den neuen Anschauungen des damaligen Russlands, von guten Fragen die irgendwann populistisch werden und auch missverstanden werden und im Nihilismus enden. Insgesamt äusserst Facettenreich. Beinahe jeder Satz wirkt bedeutungsschwanger und die Symbolik ist allgegenwärtig.



    Addendum oder Literarische Inspiration einer Kultfigur:


    Als Columbo Liebhaber ist mir eine erfreuliche Sache aufgefallen, nämlich, dass das Konzept dieser kultigen Krimiserie wohl von diesem Buch inspiriert wurde!


    Dies wurde mir erst gegen Mitte des Romans bewusst, als der Ermittler Porfirij Petrowitsch mit ins Spiel kam und irgendwann mit dem berüchtigten „eine Frage habe ich noch“ ankam. Es fing an mir aufzufallen, wie sehr die Strategie von Petrowitsch/Sametow der des guten alten Columbo doch ähnelt.


    Schuld und Sühne ist natürlich viel umfangreicher und tiefer ausgearbeitet, und geht hauptsächlich auf den Mörder und nicht auf den Ermittler ein. Aber wesentliche Elemente sind vorhanden, so beginnt die Geschichte damit, den Mörder vorzustellen und macht uns zum Voyeur seiner Tat – dem Doppelmord. Dies ist für den typischen Krimi ja eher ungewohnt, da die „wer war es“ Frage wegfällt. So beginnt Columbo immer und danach kommt das psychologische Katz und Maus Spiel. Er findet soweit möglich immer einen Grund sich an den Verdächtigten zu haften, ohne zuzugeben, dass er ihn verdächtigt z.B. als Unterstützung im Fall oder einem trivialen Interesse. Auch in der Serie wird die Sprache der einfachen Leute gesprochen. Überhebliche (aber dem Geld und Erfolg verfallene) Mörder kontra den sich dumm stellenden Kommissar der Unterschicht.



    Fazit:


    Ein grossartiger Roman über den man erstmals Grübeln muss, um ihn zu verstehen. Ein Roman der viele Möglichkeiten der Interpretation zulässt, aber meines Erachtens die Wurzeln ganz wo anders hat, als da wo man sie zu finden glaubt. Schuld und Sühne ist ein psychologisches Puzzlespiel – ein Puzzle, das dem Leser überlassen wird.


    Ein so umfangreicher und durchdachter Roman kann von mir aus gesehen nur eine Wertung bekommen...
    5ratten

  • Gerade gesehen:


    Dostojewskij ist zweifelsohne einer der ganz grossen Romanciers der Weltliteratur und ich schätze alle seine Werke sehr hoch ein.


    10 Jahre später bin ich weniger enthusiastisch, was Dostojewskij angeht...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • In allen Ehren Sandhofer, aber wenn ich von einem Liebesroman ausgehen würde, dann würde sich meine Begeisterung bereits jetzt schon im Rahmen halten :breitgrins:


    Da gibt es bestimmt viel bessere Werke für...


    Bestimmt habe ich nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten wie du sie hast. Auch habe ich sowas auch schon erlebt, so z.B. mit Tarantino. Den entdeckte ich bevor er hierzulande in aller Munde war. Er als Person und seine Filme trafen genau meinen nerv, aber heute kann er mich nicht mehr so begeistern, da es praktisch alles was seine Filme ausmacht schon besser gegeben hat - wenn auch nicht so salonfähig..


    Aus jetzigem Standpunkt kann ich mir nicht vorstellen, dass mir das mit Dostojewski auch so gehen wird..


    Auch wäre es doch angebracht - wenn du schon sowas in den Raum wirfst - zu begründen, was dich denn heute an Dostojewskis Werk stört..?

  • Auch wäre es doch angebracht - wenn du schon sowas in den Raum wirfst - zu begründen, was dich denn heute an Dostojewskis Werk stört..?


    Dass sein Christentum nicht nur an allen Ecken und Enden aus seinem Werk trieft und seine Figuren komplett verbiegt. Zu seiner Zeit, an seinem Ort - nämlich zu D.s Zeit und Ort - mag das seine Richtigkeit gehabt haben. Heute sind wir zeitlich und örtlich woanders.


    Und, ach ja: Das mit dem "Liebesroman" war damals (2006!) eine Plänkerei zwischen nimue (heute: Suse) und mir über die Definition von Liebesroman. Ich glaube, es ging primär um die Romane von Jane Austen...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Der Unterschied liegt wohl darin, dass du ihm seine Christentum-Facette abkaufst - ich nicht.


    Ein wenig vergleiche ich das mit M. De Sade, welcher seine Bücher größtenteils im geheimen geschrieben hatte.


    Oder einem George Orwell, welcher an diversen Fronten in diversen Systemen gekämpft und mitgewirkt hatte, nur um festzustellen, dass die Macht überall missbraucht wird. Er hatte allerdings etwas mehr Freiheiten und konnte direkter Kritik ausüben als es Dostojewski konnte. Durch seine Regimekritik kam er ja nach Sibirien (wie Raskalnikow). Danach konnte er sich wohl nicht mehr viel erlauben, also versteckte er seine Kritik in einem vorgegaukelten Christentum Fanatismus.


    Ich kann ja jetzt nur von bissel Recherche, Schuld und Sühne und Die Sanfte sprechen, aber darin finde ich absolut gar nichts, was mir seinen absolut zum Glauben konvertierte Haltung bestätigen würde - viel mehr das Gegenteil.
    Auch wenn er bestimmt das eine oder andere positive aus dem Christentum gezogen hat...


    Gut, entschuldige die Sache mit dem Liebesroman. Konnte ich nicht verstehen..

  • Das Christentum ist ganz sicher eines der Grundthemen der großen Romane von Dostojewski. Alle seine großen Romane sind geprägt von der Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem Anspruch des Christentums ganz genauso wie von der Frage, wie Moral und ethisches Handeln sich begründet, wenn das Christentum als Deutungsrahmen wegfällt. In der letzteren Frage setzt sich D. vor allem mit alternativen Deutungsmodellen des 19. Jahrhunderts auseinander. Raskolnikoffs Frage ist ja, wie sich ethisches Handeln begründen lässt, wenn es Gott nicht gibt. Ist dann alles erlaubt? Und wenn nein, warum nicht? Die Frage wird dann in den diversen Romanen nicht nur allgemein und gesellschaftlich diskutiert (Die Dämonen), sondern auch im Hinblick auf die existenziellen Auswirkungen auf den Einzelnen (Idiot, Schuld und Sühne, Brüder Karamasow). Und da ist schon klar, dass Dostojewski sich auf die Seite des Christentums stellt, auch wenn er sich vorbehält, das nicht im Einzelnen dogmatisch oder 'kirchlich' durchzudeklnieren. Der existenzielle Anspruch bleibt aber für den Einzelnen bestehen - und darin ist Dostojewski so prägend für die Literatur auch des 20. Jahrhunderts geworden. Denn in dem historischen Augenblick, in dem die Kraft des Christentums als prägende Kraft für die Gesellschaft keine oder nur noch eine sehr geringe Rolle spielt, bleibt die Suche des Menschen nach existenziellen Antworten doch bestehen. Inwieweit das Christentum auf dieser Ebene noch eine Kraft bleibt, die den Menschen herausfordert und sinnstiftend wirkt, das ist das Thema von seinen Romanen.


  • Denn in dem historischen Augenblick, in dem die Kraft des Christentums als prägende Kraft für die Gesellschaft keine oder nur noch eine sehr geringe Rolle spielt, bleibt die Suche des Menschen nach existenziellen Antworten doch bestehen.


    Genau auf dieser Suche befand er sich mMn immer und diese Suche halte ich keinesfalls für überholt..


    Dostojewski Einstellung und auch sein Werk sind ja ziemlich umstritten. Niemand kann definitiv sagen was seine Anliegen waren, obwohl sich einiges sehr anbietet.


    Vielleicht waren ihm ein familiäres Leben wichtiger, als in Sibirien als vergessenen Ideologisten zu verenden..?
    Das halte ich für das Hauptthema von Schuld und Sühne.


    Raskalnikow stellte sich eben auch diese Frage und nicht die von dir besagte. Für ethisches Denken braucht man keinen Gott, genau das wiederspiegelt sich doch in Raskalnikow? Genau das ist D. Vorstellung eines Übermenschen, welcher sich durch ein moralisches Handel deutlich von dem des Nietzsches unterscheidet.


    Eine Menschheit die sich nicht einem Gott unterwirft und selber denkt, aber trotzdem eine humanistische Lebensqualität für ALLE Schichten der Gesellschaft anstrebt...

  • Du hast natürlich recht die Frage spielt in den Br. Karamasow eine zentrale Rolle, nicht so sehr in Schuld und Sühne.


    Aber dennoch: Schuld und Sühne zeigt doch in Rodion Raskolnikoff einen Menschen, der den Weg des 'freien Menschen' gehen will. Er fällt ein moralisches Urteil aus freier Entscheidung und nachvollziehbaren rationalen Gründen. Und merkt dann doch, dass er mit diesem Urteil nicht leben kann. Etwas sagt ihm, dass seine Entscheidung falsch war. Sein Gewissen? Die Erkenntnis, dass seine Entscheidung das Verhältnis zu seinen Mitmenschen zerstört? Die seelische Erfahrung, dass eine menschliche Gesellschaft auf den Grundlagen, die er für sich für verlässlich hielt, nicht aufbauen lässt?


    Zitat

    Eine Menschheit die sich nicht einem Gott unterwirft und selber denkt, aber trotzdem eine humanistische Lebensqualität für ALLE Schichten der Gesellschaft anstrebt...


    Aus meiner nicht sehr gründlichen Kenntnis der Dostojewski'schen Romane würde ich einwenden: Dostojewski hält diesen Weg nicht für gangbar. Und das zeigt sich gerade in Rodion Raskolnikoff. Rein rational gesehen ist sein Mord an der Pfandleiherin eben nicht zu verurteilen. Rational gesehen hat er ein schädliches Subjekt entsorgt. Aber seine Seele kann mit dieser Tat trotzdem nicht leben. Raskolnikoff lernt, dass es noch mehr gibt, dem er verantwortlich ist. Im Roman wird das durch Sonia personifiziert.


  • Aber dennoch: Schuld und Sühne zeigt doch in Rodion Raskolnikoff einen Menschen, der den Weg des 'freien Menschen' gehen will. Er fällt ein moralisches Urteil aus freier Entscheidung und nachvollziehbaren rationalen Gründen. Und merkt dann doch, dass er mit diesem Urteil nicht leben kann.


    Ja ganau, aber eben hier sehe ich einzig Lisawetta (2. Mord) als entscheidender Faktor.



    Etwas sagt ihm, dass seine Entscheidung falsch war. Sein Gewissen? Die Erkenntnis, dass seine Entscheidung das Verhältnis zu seinen Mitmenschen zerstört? Die seelische Erfahrung, dass eine menschliche Gesellschaft auf den Grundlagen, die er für sich für verlässlich hielt, nicht aufbauen lässt?


    Ich denke sein Unterbewusstsein das auf sein Gewissen wirkt. Also die verdrängte schlechte Tat an Lisawetta. Sie ist ihm während des ganzen Romans nicht richtig bewusst.
    Nicht seine Entscheidung, sondern das Missgeschick. Hätte er die Türe nach dem Mord an der Wucherin abgeschlossen, so hätte er sicher einen Weg gefunden unerkannt zu verschwinden, ohne Lisawetta töten zu müssen. So wäre er mit seinem Gewissen im Reinen geblieben und hätte auch das Verhältnis zu seinen Mitmenschen nicht zerstört.


    Zitat

    Eine Menschheit die sich nicht einem Gott unterwirft und selber denkt, aber trotzdem eine humanistische Lebensqualität für ALLE Schichten der Gesellschaft anstrebt...



    Aus meiner nicht sehr gründlichen Kenntnis der Dostojewski'schen Romane würde ich einwenden: Dostojewski hält diesen Weg nicht für gangbar. Und das zeigt sich gerade in Rodion Raskolnikoff.


    Das wäre gut möglich, aber was Rodion Raskalnikow betrifft, und das ist evtl. sogar einzigartig, sowohl als auch. Ich kann das nicht wirklich widerlegen und doch sehe ich mindestens genau so stark ein Musterbeispiel eines Menschen, der dazu befähigt wäre. Einer der nach freiem Willen urteilt, aber nicht befähigt ist etwas schlechtes zu tun.



    Rein rational gesehen ist sein Mord an der Pfandleiherin eben nicht zu verurteilen. Rational gesehen hat er ein schädliches Subjekt entsorgt. Aber seine Seele kann mit dieser Tat trotzdem nicht leben. Raskolnikoff lernt, dass es noch mehr gibt, dem er verantwortlich ist. Im Roman wird das durch Sonia personifiziert.


    Da wären wir wieder an dem Punkt mit der unterdrückten Lisawetta. Dostojewski hat das so gut inszeniert, dass selbst die Leser immer nur vom Mord an der Pfandleiherin reden, dabei ist das doch der wesentlich weniger zu verurteilende der Zweite! Ohne diesen, so behaupte ich, käme er seinen Verantwortungen nach, welche wie du schreibst, durch Sonja personifiziert wurden.


    Hier noch ein Zitat eines Gesprächs zwischen Raskalnikow und seiner Schwester, kurz bevor er sich stellt. Es beichtet ihr seine Tat und schafft es für einen Moment Lisawetta wieder (fast) vollkommen zu verdrängen.


    [...]"Mein Verbrechen? Was für ein Verbrechen?" rief er auf einmal in einer Art von plötzlichen Wutanfall. "Dass ich eine garstige, gemeinschädliche Laus getötet habe, eine alte Wucherin, die niemandem etwas nütze war, für deren Ermordung einem eigentlich viele Sünden vergeben werden müssten, die armen Leuten das Leben aussog, das soll ein Verbrechen sein? Ich halte es nicht dafür und habe gar nicht vor, es wiedergutzumachen. Warum schreit man mir den von allen Seiten zu: >Ein Verbrechen, ein Verbrechen!< Jetzt erst erkenne ich klar, wie grundtöricht mein Kleinmut war, jetzt, wo ich mich schon entschlossen habe, ganz unnötigerweise diese Schand auf mich zu nehmen!Lediglich weil ich ein geringwertiger, talentloser Mensch bin (misslungene Tat?), habe ich mich dazu entschlossen, und vielleicht auch noch, weil ich dadurch auf ein Vorteil spekuliere (oder rechnet er gar doch noch überführt zu werden und würde gar den einen Fehltritt mit seinem Gewissen vereinbaren können?), wie mir das dieser...Porfiri...nahegelegt hat ...!"
    "Bruder, Bruder! Was redest du da! Du hast doch Blut vergossen!" rief Awdotja verzweiflungsvoll.
    "Blut vergiessen sie alle" fiel er ihr fast rasend ins Wort. "Blut wird in der Welt vergossen massenhaft wie ein Wasserfall und ist immer so vergossen worden; Blut wird vergossen wie Champagner, und für das Blutvergießen wird man auf dem Kapitol gekrönt und nachher ein Wohltäter in der Menschheit genannt. Mach doch nur die Augen auf und sieh genauer hin! Ich selbst wollte den Menschen Gutes erweisen und hätte hundert, tausend gute Taten vollbracht zum Ausgleich für diese eine Dummheit, die nicht einmal Dummheit war, sondern lediglich eine Ungeschicklichkeit (Türe die offen steht?)
    ; den der ganze Gedanke war gar nicht so dumm, wie er nach dem Misslingen (ungewollter Mord an Lisawetta) aussieht - was misslingt, sieht immer dumm aus!. Durch diese Dummheit wollte ich mir nur eine unabhängige Position schaffen, den ersten Schritt tun, die Mittel erlangen, und später wäre dann alles durch einen unverhältnismäßig viel grösseren Nutzen aufgewogen worden ... Aber meine Kraft hat nicht einmal für den ersten Schritt ausgereicht, weil ich eben nur so ein Lump bin. Das ist der Kernpunkt! Ich kann die Sache nicht von eurem Standpunkt aus ansehen; wäre es mir gelungen, so würde man mich bekränzen; aber jetzt muss ich in Kerker." [...]


    Merkwürdig ist doch auch, dass seine Schwester Lisawetta nicht erwähnt. Das passt irgendwie nicht zu dem ansonsten bis in alle Ecken ausdiskutierten Gespräche. Wenn das eben alles nur ein Schauspiel in Raskalnikows Kopf ist, also seine Schwester nur soviel beitragen kann wie seine Gedanken es zulassen und man von einer verdrängten Lisawetta ausgeht, so macht das Sinn. Sein Unterbewusstsein, die erdachten Sonja und Dunja, die wissen das er gegen seine Moral handelt - sein Bewusstsein nicht.