01 - bis einschl. 3.Fall "Frau Ferber mit Kind" (Seite 9 bis Seite 76)

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  • Ihr Lieben,


    ab dem 01.02.1029 lesen wir gemeinsam "Stella" von Takis Würgerr.


    Hier könnt Ihr bis einschl. 3.Fall "Frau Ferber mit Kind" (Seite 9 bis Seite 76) diskutieren. Wenn unbedingt nötig - es gibt auch eine Spoilerfunktion. ;) Und da wir alle das gleiche Buch lesen, brauchen wir auch keine großen Nacherzählungen vom Inhalt sondern können gleich mit diskutieren loslegen.


    Ich freue mich schon sehr auf diese Runde und den Austausch mit Euch.

    :lesen:





  • Guten Morgen, liebe Mitleserinnen. Nein, keine Panik, ich bin durch den Abschnitt noch nicht durch. Aber, potzblitz, ich könnte nach 25 Seiten schon so viel schreiben, wie bei anderen Büchern nach 200 Seiten nicht. 8o


    Wie findet Ihr den Schreibstil? Beeinflusst euch auch die Debatte um das Buch ein bisschen? Mir geht es jedenfalls so. Ich lese noch viel aufmerksamer und kritischer und frage mich ständig, was die Kritiker (vor allem die, die es verrissen haben) gemeint haben könnten und ob ich Ihnen zustimme. Eine interessante Lesestimmung für mich. Hatte ich so auch noch nicht in einer Leserunde.


    Also, ich mag ja diesen reduzierten Stil wahnsinnig gerne. Klingt vielleicht seltsam, aber ich mag dieses Weglassen, Andeuten, die Stille und auch die "wortlosen Blicke". Eigentlich gefällt mir das total. Und der Autor legt auch eine Schwere und Traurigkeit in die Geschichte und gibt jede Menge kleine Hinweise, wie der Ich-Erzähler später einmal auf die Jüdin Stella reagieren könnte.


    Die Mutter ist schon eine harte Nummer für ein Kind. Quartalssäuferin und Nazi-Sympathisantin und lieblos/depressiv. Im Gegenzug hat er einen sympathischen und sehr empathischen Vater, der aber leider oft unterwegs ist und den Jungen mit der Mutter alleine lässt. Und dann auch noch der "Unfall", bei dem er seinen Farbsinn verliert. Ich hoffe mal, er bekommt ihn wieder. Maler wird sonst schwierig. Wobei, das ist ja auch eher der Wunsch der Mutter gewesen.


    Ist Takis Würger nun einfach wahnsinnig bemüht, Literatur zu schreiben oder ist das Buch einfach gut zu lesen. Die Frage kann ich noch nicht wirklich beantworten. Aber bis jetzt macht es mir großen Spaß und ich werde meine Mittagspause lesend verbringen. ;) Und bin gespannt auf Eure ersten Eindrücke.

    :lesen:





  • Jetzt hab ich in der Mittagszeit den ersten Abschnitt beendet. (Ich habe andernorts noch eine andere Leserunde, werde also nicht hier vorneweg preschen. ;)) Das Buch hat ein gehöriges Tempo, obwohl nicht viel passiert. Die vielen kleinen Geschichten, Anekdoten und Geschehnisse .... da könnte man über jede einzelne diskutieren.


    Die mit dem Ziebenbock z.b. den der Junge rettet, weil der Vater gemeint hat, dass man auf die Wesen aufpassen müsste. Und der dann so schnöde zur nicht erhaltenswerten Rasse gezählt und erschossen wird. Rassenbereinigung. =O Da arbeitet Herr Würger aber schon ein bisserl mit dem Zaunpfahl.


    Dann die Mutter, die Fahnen für die Nazis hießt, säuft wie ein Loch und dann mit einem jungen Kerl verschwindet. Was soll ich von der halten? Sie berührt ihren Sohn nicht. Mir tut Friedrich hier unendlich leid. Bitterböse finde ich die Art, wie Takis Würger einstreut, was aus den Personen später wird. Also dass die Mutter zwei Jahre später im Vollrausch bei einem Luftangriff verbrennt. Das ist schon harter Tobak, oder?

    Interessant ist auch, dass Friedrich Farben riecht. Aus Not, weil die fiese Mutter ihn mit dem Teppichklopfer bestraft, wenn er beim Farbenraten falsch liegt. Das funktioniert natürlich nur beim Malen. Sonst kennt er wohl keine Farben, oder.


    Gab es wirklich einen Reichsvollkornbrotausschuss? :D


    Und mit dem Auftritt von Kristin/Stella beginnen auch die kleinen Berichte darüber, wen Stella an die SS verraten und ins KZ gebracht hat. Erschreckend. Ich nehme an, dass das wahre Zeugenaussagen aus den Gerichtsprotokollen sind.


    Friedrich ist eigentlich sofort verliebt in Kristin. Wobei ich nicht so ganz weiß warum. Ich nehme mal an, sie ist die erste erwachsene Frau, die er nackt sieht. Vielleicht hat das auch etwas damit zu tun. Und sie ist sehr selbstbewusst. Wobei das auch an diesem Mittel liegen kann, dass sie scheinbar nimmt.


    Wiki sagt: "Pervitin unterdrückt Müdigkeit, Hungergefühl und Schmerz. Es verleiht kurzzeitig Selbstbewusstsein, ein Gefühl der Stärke und dem Leben eine ungewohnte Geschwindigkeit. Zu den Nebenwirkungen gehören Persönlichkeitsveränderungen, Psychosen und Paranoia aufgrund von Schlafentzug oder bei Prädisposition. Eine häufige Einnahme von Pervitin führt zu Gewöhnung und späterem Wirkungsverlust, der oft Dosissteigerung zur Erzielung der ursprünglichen Wirkung nach sich zieht."

    "Auch mit Pervitin versetzte Pralinen (sogenannte „Hausfrauenschokolade“) waren erhältlich."

    Wenn sie das regelmäßig genommen hat, dann kann man ihr so einiges durchaus nachsehen. Das ist ja ein krasses Mittel.

    Tristan scheint meiner Meinung nach homosexuell zu sein. Aber Friedrich merkt da nix von, oder?

    Weiß ich jetzt schon, wie ich das Buch finde? Nein, weiß ich noch nicht. Aber es fesselt mich schon.

    :lesen:





  • Guten Abend!


    Ich hab mich schon sehr auf diese Leserunde gefreut, weil dieses Buch ja in den letzten Tagen bzw Wochen schon verschieden besprochen wurde. Ich hab es bis jetzt vermieden, diese Besprechungen zu lesen - schließlich möchte ich mir ja ein eigenes Bild machen und mich nicht allzusehr von den verschiedenen Meinungen beeinflussen lassen.


    Einzig den Wikipedia-Eintrag über Stella Goldschlag hab ich mir durchgelesen. Ich hatte nämlich vorher keine Ahnung, dass es diese Stella Goldschlag gab und auch nicht, dass dieses Buch von ihr erzählt.


    Der Stil des Buches gefällt mir sehr gut - ruhig, unaufgeregt, reduziert. Sehr angenehm zu lesen finde ich.


    Aber es ist schon der allererste Satz, der mich wirklich irritiert: "Teile dieser Geschichte sind wahr"

    Welche Teile denn? Die kursiv gedruckten Textstellen, weil es sich um Auszüge aus Gerichtsakten handelt?

    Welche Bereiche von Stellas bzw Kristins Leben entsprechen den Tatsachen und welche sind Fiktion? 1942 war sie gerade mal 20 Jahre alt. Hat sie tatsächlich Pervitin genommen? Es war ja eine sehr weit verbreitete Droge. Sängerin in einer Band war sie ja wirklich. Hat sie in solchen Clubs gesungen?


    Und Friedrich? Viele einzelne Szenen zeichnen das Bild eines bedauernswertes Kind, das zu einem verlorenen Erwachsenen wird. Der ruhige Stil dieser Geschichte macht die Schrecken seiner Kindheit bewusst So verwandelt sich die ruhige Erzählung von einer Schneeballschlacht binnen 2 oder 3 Sätzen in einen Albtraum. Sinnlos und grausam die Tat selber, aber auch die Reaktion der Mutter.

    Aber auch wenn die Friedrichs Familienverhältnisse reichlich zerrüttet waren... wie kommt er bloß auf die Idee im Krieg nach Berlin zu fahren? Welche Wahrheit hat er da gesucht? Die Möbelwagen? Oder war es reine Naivität?

    Ich kann zwar Friedrichs Verhalten nicht ganz nachvollziehen - aber das Buch ist für mich trotzdem fesselnd und gleichzeitig berührend und vor allem verstörend, trotzdem gut zu lesen und auf alle Fälle sehr diskussionswürdig. Spannend


    Und immer wieder eingestreut die Auszüge aus den Gerichtsakten - nüchtern dargestellte Schicksale von Stella Goldschlags Opfern. Wie geht es den Nachkommen dieser Menschen, wenn sie das hier lesen?

    Vernunft, Vernunft...

    Einmal editiert, zuletzt von ysa ()

  • Tristan scheint meiner Meinung nach homosexuell zu sein. Aber Friedrich merkt da nix von, oder?

    Das sehe ich auch so. Zumindest deuten viele kleine und größere Hinweise darauf hin. Allerdings ist Tristan auch nicht gerade ein stürmischer Charakter oder klugerweise vorsichtig in einer Zeit, in der Homosexualität ja ein Verbrechen war und mit streng bestraft wurde. Ich bin neugierig, ob wir mehr über Tristans Vergangenheit und Zukunft erfahren werden.


    Wenn sie das regelmäßig genommen hat, dann kann man ihr so einiges durchaus nachsehen. Das ist ja ein krasses Mittel.

    Seit ich Deinen Satz gelesen habe, überlege ich mir, ob es hier darum geht "etwas nachzusehen" oder vielleicht sogar zu "verzeihen" (geht nicht, da ich nicht betroffen bin). Oder einfach nur teilweise "verstehen"? Oder ist es eher Warnung und Mahnung? Ich bin schon neugierig, ob ich mir diese Frage am Ende beantworten werde können. Ich bin froh, dass ich nicht in dieser Zeit leben musste!

    Vernunft, Vernunft...

  • Mir fiel der Einstieg recht schwer, muss ich sagen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich am Anfang nur zweimal 20 Seiten lesen konnte. Als ich heute morgen dann die restlichen 40 Seiten las, kam ich schon etwas besser in die Geschichte 'rein. Mal sehen, aber ich finde den Schreibstil auch nicht so leicht. Also er liest sich leicht, aber das zerstückelte, von einem Gedanken zum nächsten hüpfen, macht mich gerade noch ein wenig verrrückt. ;

    Und der Autor legt auch eine Schwere und Traurigkeit in die Geschichte und gibt jede Menge kleine Hinweise, wie der Ich-Erzähler später einmal auf die Jüdin Stella reagieren könnte.

    So weit denke ich irgendwie noch gar nicht. Ich habe gerade auch nochmal den Klappentext gelesen und dachte mir: Ah,ok, da ist ja bisher kaum etwas von eingetreten und 1/3 ist schon durch. Bei Kehlmanns Zitat sind wir also gerade bei "Skepsis". Ich bin sehr gespannt, ob sich Spannung und Bewunderung dann noch im zweiten und dritten Teil einpendeln wird.


    Der Kontrast zwischen Vater und Mutter finde ich sehr hart, vor allem weil sich unser Protagonist mehr zu der Mutter als zum Vater hingezogen fühlt. Unerfüllte Träume in seine Kinder zu projizieren, ist ganz furchtbar. Vor allem wenn Kinder (aufgrund von Unfällen wie bei Friedrich) dazu führen, dass sie die nicht leben können und ihnen das schließlich vorwirft. Die Mutter müsste ihn doch eigentlich trösten - nicht unbedingt wegen seiner Farbenblindheit sondern wegen der Narbe, an der er sehr zu knabbern hat. Spannend finde ich auf jeden Fal, wie der Vater die Nazis ablehnt und die Mutter sie bewundert. Friedrich scheint da aber mehr nach seinem Vater zu kommen. (Übrigens interessant, wo die Künstlerszene doch eher abwertend dem Regime gegenüber stand.)



    Bitterböse finde ich die Art, wie Takis Würger einstreut, was aus den Personen später wird. Also dass die Mutter zwei Jahre später im Vollrausch bei einem Luftangriff verbrennt. Das ist schon harter Tobak, oder?

    Ja das fand ich auch. Auch ein spannender Wechsel der Zeiten, so als Nebensatz eingestreut. Da musste ich schon kurz innehalten und gucken, ob ich wirklich richtig gelesen habe.


    Und mit dem Auftritt von Kristin/Stella beginnen auch die kleinen Berichte darüber, wen Stella an die SS verraten und ins KZ gebracht hat. Erschreckend. Ich nehme an, dass das wahre Zeugenaussagen aus den Gerichtsprotokollen sind.

    Ach, damit es bei den kleinen Berichten auf sich? Habe ich das überlesen oder wusstest du das schon vorher?8|


    Kristin als Figur erschließt sich mir noch nicht wirklich. Ich finde sie ebenfalls ein wenig undurchschaubar, aber die Erklärung von "Pervitin" sagt einiges. Warum Friedrich sie so toll findet, kann ich auch bisher nur mit ihrem selbstbewussten Auftreten erklären. Ähnlich funktioniert das ja auch bei Tristan. Er scheint diesen ebenfalls zu mögen, doch warum? Ich finde beide Personen vor allem aufdringlich. Aber ja, Homosexualität habe ich bei Tristan ebenfalls schon vermutet.



    Einzig den Wikipedia-Eintrag über Stella Goldschlag hab ich mir durchgelesen. Ich hatte nämlich vorher keine Ahnung, dass es diese Stella Goldschlag gab und auch nicht, dass dieses Buch von ihr erzählt.

    Das war mir beides auch nicht wirklich klar. Ist es klug den Wiki-Artikel schon vorher zu lesen oder nimmt er viel vorweg?



    Aber es ist schon der allererste Satz, der mich wirklich irritiert: "Teile dieser Geschichte sind wahr"

    Welche Teile denn?

    Ein merkwürdiger Satz in der Tat und irgendwie auch überflüssig, wenn man keine näheren Informationen dazu bekommt. Wie du schon sagst, was soll ich jetzt damit anfangen? :/

  • Auch ein spannender Wechsel der Zeiten, so als Nebensatz eingestreut. Da musste ich schon kurz innehalten und gucken, ob ich wirklich richtig gelesen habe.

    Manchmal habe ich den Eindruck, dass in diesem Abschnitt die Handlungselemente hauptsächlich in Nebensätzen vermittelt werden. Ich musste manche Absätze auch doppelt lesen, um ja nichts zu überlesen!

    Ach, damit es bei den kleinen Berichten auf sich?

    Ganz zu Beginn steht, dass die kursiv gedruckten Textstellen Gerichtsakten eines sowjetischen Militärtribunals sind. Sie liegen heute im Landesarchiv Berlin. Sie wurde von diesem Tribunal zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt.

    Ich frage mich, nach welchen Kriterien Takis Würger diese Berichte ausgesucht hat. Ob er mit den Nachfahren der genannten Personen gesprochen hat. Wenn nicht, dann frage ich mich schon, wie sich Menschen fühlen, die das lesen und dabei zufällig auf die Geschichte ihrer Großeltern stoßen...


    Das war mir beides auch nicht wirklich klar. Ist es klug den Wiki-Artikel schon vorher zu lesen oder nimmt er viel vorweg?

    Ich war überrascht, dass diese Stella wirklich gelebt hat und schon rein deshalb ist der Artikel für mich informativ. Bis jetzt nimmt er auch nicht viel an Handlung vorweg - vor allem, weil ja eigentlich Friedrich die Hauptperson dieses Buches ist. Zumindest in diesem ersten Abschnitt!

    Kristin als Figur erschließt sich mir noch nicht wirklich. Ich finde sie ebenfalls ein wenig undurchschaubar, aber die Erklärung von "Pervitin" sagt einiges. Warum Friedrich sie so toll findet, kann ich auch bisher nur mit ihrem selbstbewussten Auftreten erklären.

    Kristin ist auch für mich nicht wirklich greifbar. Dass sie sich für Friedrich ein wenig zu interessieren scheint, könnte möglicherweise auch etwas mit seiner Nationalität zu tun haben. Und warum er so fasziniert von ihr war? Selbstbewusstes Auftreten spielte da sicher eine Rolle und wahrscheinlich auch die Tatsache, dass Friedrichs Erfahrungen mit Frauen wahrscheinlich vernachlässigenswert waren.

    Ich bin mir nicht sicher, ob diese Wikipedia Info eventuell ein Spoiler sein könnte, deshalb


    :leserin:

    Vernunft, Vernunft...

  • Hallo zusammen,


    ich habe heute Nachmittag den ersten Abschnitt gelesen und ich kann sagen, dass mir das Buch bisher sehr gut gefällt, auch wenn es es einen düstere Grundatomosphäre ausstrahlt. Oder ist es vielleicht die Einsamkeit von Friedrich, die er in seinem Elternhaus verspürt, aber auch in dem quirligen Berlin. Selbst in dem Club empfinde ich ihn noch einsam. Er sagt ja selbst, dass er sich einen Freund wie Tristan gewünscht hat, also scheint es mit Freunden rar gesät zu sein.


    Die Beschreibungen von Friedrichs Kindheit finde ich ebenfalls einsam und traurig: zu seinem Vater scheint er einen besseren Draht zu haben, allerdings ist dieser sehr viel unterwegs. Die Mutter ist alkoholkrank und projiziert die eigenen Hoffnung auf eine Malerkarriere auf ihren Sohn und verliert dabei den Menschen und Sohn aus den Augen. Natürlich ist es niederschmetternd, dass sie als Frau nicht an einer Akademie studieren durfte, aber sie zwingt Friedrich dazu, ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Richtig traurig wird es, als er durch die schwere Verletzung die Fähigkeit verliert, Farben zu sehen und seine Mutter sich von ihm abwendet, ihn sogar schlägt, weil er ihre Hoffnungen nicht mehr erfüllen kann.

    Dazu noch ihre antisemitischen Reden - ich gestehe, es fällt mir sehr schwer, mit dieser Frau Mitgefühl zu haben.

    Friedrich ist kein Freund langer Konversationen, das und auch seine Unsicherheiten in bestimmten Situationen zeigen deutlich seine Introvertiertheit, finde ich.


    Friedrichs Vater scheint mir deutlich empathischer zu sein: seine Betrachtungen, dass Gott in jedem Wesen sei und die Menschen auf alle Wesen gut acht geben müssen, fand ich sehr berührend. Die Gerüchte, dass Menschen, speziell Juden in den Tod abtransportiert wurden, ist also schon bis in die Schweiz vorgedrungen. Und sowohl Vater wie auch Sohn haben damit ihre Schwierigkeiten, denn sonst würde Friedrich seinen Aufenthalt in Berlin einfach nur genießen (immerhin kann er finanziell sich einiges leisten) und nicht nach Spuren des "Möbelwagens" Ausschau halten. Sehr berührend fand ich auch die Szene, als Friedrich den Ziegenbock Hieronymus "rettete".


    Dieses Retten eines Tieres in Not schlägt die Brücke zu Tristan, der sich um das Eichhörnchen sorgt. Aber gleichzeitig auf Grauhörnchen schießt, weil diese die heimischen Eichhörnchen verdrängt, auch wenn es ihm schwerfällt. Man könnte das als Vergleich zu den Deutschen (Eichhörnchen) und den Juden (Grauhörnchen) ziehen, da ja die Juden damals vermeintlich die arische Rasse bedrohten und man sie daher ausmerzen musste.


    Tristan kann ich noch etwas schwer einschätzen, Friedrich weiß bisher zu wenig über ihn; was macht er eigentlich, warum hat er einen Revolver zuhause? In jedem Fall scheint er ziemlich privilegiert zu leben. Ist er ein Nazi, obwohl er soviele Eigenschaften hat, die bei einem Nazi alles andere als gern gesehen sind? Er geht in Clubs, die verbotene Musik spielen und er scheint homo- oder bisexuell zu sein. Bisher hat er auch keine abfälligen Bemerkungen über Juden gemacht, die waren eher neutral.

    Sollte er tatsächlich ein hoher Nazi sein, dann würde ihn diese Eigenschaften von den anderen "typischen" Nazis abgrenzen, was ebenfalls eine Art Einsamkeit darstellt.


    Bei Kristin wissen wir zwar schon, um wen es sich handelt (mir war bis zum Beginn dieses Buches auch nicht klar, dass es für diese Figur eine reale Vorlage gab), aber auch wenn sie später Juden ans Messer liefert, um ihre eigene Haut zu retten, schenkt sie einer fremden Jüdin in der Öffentlichkeit ein Päckchen Bohnenkaffee, obwohl das verboten ist.

    Kristin ist ziemlich keck, wie sie den Schutzpolizist so lässig anlügt, dass es sich bei Friedrich um einen SS-Obersturmbannführer handeln würde. Aber sie spielt hier bereits eine Rolle, wie Friedrich später bemerkt, als sie, während sie ihn begleitet, kleine und schwankende Schritte macht, später dann aber, als sie sich unbeobachtet fühlt, lange und sichere Schritte. Aber sie muss ja eine Rolle spielen, denn niemand darf wissen, dass sie eigentlich Stella und Jüdin ist. So ist auch Kristin eine einsamer Mensch, da sie ihr Geheimnis mit niemanden teilen darf.


    Diese drei Personen treffen sich und verbringen eine gemeinsame Zeit - ich finde, durch die teilweise kurzen Sätze kann der Autor diese Blase, in der sich die Drei befinden, sehr gut darstellen.


    Was mir ebenfalls sehr gut gefällt, dass am Anfang der Kapitel die Ereignisse zu dem jeweiligen Jahr bzw. Monat aufgeführt werden: innen- und außenpolitische Ereignisse, aber auch Ereignisse, die erst später Bedeutung erlangen werden, wie z.B. die Geburt eines späteren legendären Boxers.


    Dazu die ernüchternden Auszüge aus den Urteilen zu Stella Goldschlag, die mit aller Brutalität zeigen, zu was Kristin/Stella später in der Lage gewesen war.


    Ich muss sagen, mich beschäftigt das Buch bereits nach dem ersten Abschnitt ziemlich nachhaltig.

    Liebe Grüße

    Karin

  • Wie findet Ihr den Schreibstil? Beeinflusst euch auch die Debatte um das Buch ein bisschen? Mir geht es jedenfalls so. Ich lese noch viel aufmerksamer und kritischer und frage mich ständig, was die Kritiker (vor allem die, die es verrissen haben) gemeint haben könnten und ob ich Ihnen zustimme. Eine interessante Lesestimmung für mich. Hatte ich so auch noch nicht in einer Leserunde.

    Ich habe gestern ein wenig von der Debatte um das Buch gelesen und ja, dewegen geht es mir genauso wie dir.


    Also, ich mag ja diesen reduzierten Stil wahnsinnig gerne. Klingt vielleicht seltsam, aber ich mag dieses Weglassen, Andeuten, die Stille und auch die "wortlosen Blicke".

    Und der Autor legt auch eine Schwere und Traurigkeit in die Geschichte und gibt jede Menge kleine Hinweise, wie der Ich-Erzähler später einmal auf die Jüdin Stella reagieren könnte.

    Auch hier geht es mir wie dir: ich finde, dadurch wird mehr beschrieben wie durch lange Worte.


    Maler wird sonst schwierig. Wobei, das ist ja auch eher der Wunsch der Mutter gewesen.

    Ich habe an einigen Stellen den Eindruck gehabt, dass Friedrich eigentilch nicht unbedingt der geborene Maler ist, sondern vielmehr nicht genau weiß, was er eigentlich machen will.

    Die Fragen von Tristan diesbezüglich kann er ja nicht wirklich beantworten.


    Und der dann so schnöde zur nicht erhaltenswerten Rasse gezählt und erschossen wird. Rassenbereinigung. =O

    Ja, das ist scheint mir ein starke Parallele zu den Zuständen in Deutschland zu sein.


    Gab es wirklich einen Reichsvollkornbrotausschuss?

    Das habe ich mich ebenfalls gefragt.


    Aber es ist schon der allererste Satz, der mich wirklich irritiert: "Teile dieser Geschichte sind wahr"

    Welche Teile denn? Die kursiv gedruckten Textstellen, weil es sich um Auszüge aus Gerichtsakten handelt?

    Mir ging es bei dem ersten Satz wie dir und ich muss immer wieder aufpassen, dass ich die Geschichte nicht als bare Münze nehmen. Andererseits finde ich es aber auch wiederum spannend, denn so bringt mich der Autor dazu, mich nach dem Buch mit der realen Stelle zu beschäftigen. Ich habe beschlossen, dass ich mich erst nach dem Buch über sie informieren werde.


    Und immer wieder eingestreut die Auszüge aus den Gerichtsakten - nüchtern dargestellte Schicksale von Stella Goldschlags Opfern. Wie geht es den Nachkommen dieser Menschen, wenn sie das hier lesen?

    Das ist bestimmt heftig, wenn sie darüber lesen. Takis Würgers' Großvater wurde ja damals ebenfalls vergast.


    Das war mir beides auch nicht wirklich klar. Ist es klug den Wiki-Artikel schon vorher zu lesen oder nimmt er viel vorweg?

    Schwierig zu sagen, denke ich, je nachdem, wieviel Fiktion in dem Buch steckt, wird der Wiki-Artikel entweder zu viel verraten oder aber, wenn man ihn vorher gelesen hat, werden einem die Unterschiede auffallen und evtl. stören oder auch nicht.

    Liebe Grüße

    Karin

  • Schwierig zu sagen, denke ich, je nachdem, wieviel Fiktion in dem Buch steckt, wird der Wiki-Artikel entweder zu viel verraten oder aber, wenn man ihn vorher gelesen hat, werden einem die Unterschiede auffallen und evtl. stören oder auch nicht.

    Ich glaube, er verrät nicht allzu viel. Irgendwo habe ich gehört, dass das ein Kritikpunkt ist, dass Würger sozusagen das Leben der Stella für seine Prosa verwurstet hätte und keinen Wert auf Genauigkeit gelegt hätte. Ich habe es trotzdem vorher nicht genauer recherchiert, was mit der Frau passiert ist, das mache ich auch erst danach. Etwas unfreiwillig habe ich aber schon viel erzählt bekommen oder gehört/gelesen. Ich konnte mich gar nicht erwehren.

    Ja, das ist scheint mir ein starke Parallele zu den Zuständen in Deutschland zu sein.


    Dieses Retten eines Tieres in Not schlägt die Brücke zu Tristan, der sich um das Eichhörnchen sorgt. Aber gleichzeitig auf Grauhörnchen schießt, weil diese die heimischen Eichhörnchen verdrängt, auch wenn es ihm schwerfällt. Man könnte das als Vergleich zu den Deutschen (Eichhörnchen) und den Juden (Grauhörnchen) ziehen, da ja die Juden damals vermeintlich die arische Rasse bedrohten und man sie daher ausmerzen musste.

    Würger zieht ja ständig Parallelen. Schon schräg, vor allem, weil ja die Wortwahl auch genau wie bei den Tieren auch bei den Juden angewendet wurde. Das erschreckt mich jedesmal wieder, wie Menschen über Menschen sprechen und richten.



    Das ist bestimmt heftig, wenn sie darüber lesen. Takis Würgers' Großvater wurde ja damals ebenfalls vergast.

    Ach, das wusste ich nicht. Dann verstehe ich jetzt aber ein bisschen mehr, warum Takis Würger das Buch vielleicht geschrieben hat. Wenn es seine Familie tatsächlich betroffen hat, dann ist es auch etwas ganz Persönliches.



    Was mir ebenfalls sehr gut gefällt, dass am Anfang der Kapitel die Ereignisse zu dem jeweiligen Jahr bzw. Monat aufgeführt werden: innen- und außenpolitische Ereignisse, aber auch Ereignisse, die erst später Bedeutung erlangen werden, wie z.B. die Geburt eines späteren legendären Boxers.

    Das gefällt mir auch gut. Es zeigt aber auch, dass sich die Welt andernorts immer weitergedreht hat, auch wenn bei uns in Deutschland die Hölle ausgebrochen war.

    :lesen:





  • Spannend finde ich auf jeden Fal, wie der Vater die Nazis ablehnt und die Mutter sie bewundert. Friedrich scheint da aber mehr nach seinem Vater zu kommen. (Übrigens interessant, wo die Künstlerszene doch eher abwertend dem Regime gegenüber stand.)

    Der Vater ist für mich ein typischer Vertreter der Schweiz, die ja versucht haben, einfach weg zu sehen und die nannten es neutral bleiben, und die Mutter ist eine Deutsche von der schlimmen Sorte.



    Ich habe an einigen Stellen den Eindruck gehabt, dass Friedrich eigentilch nicht unbedingt der geborene Maler ist, sondern vielmehr nicht genau weiß, was er eigentlich machen will.

    Die Fragen von Tristan diesbezüglich kann er ja nicht wirklich beantworten.

    Überhaupt kommt er mir sehr jung und unreif vor und lässt sich viel lieber treiben als etwas zu entscheiden.

    :lesen:





  • Ist er ein Nazi, obwohl er soviele Eigenschaften hat, die bei einem Nazi alles andere als gern gesehen sind? Er geht in Clubs, die verbotene Musik spielen und er scheint homo- oder bisexuell zu sein. Bisher hat er auch keine abfälligen Bemerkungen über Juden gemacht, die waren eher neutral.

    Damit sagst Du was! Der Gedanke, dass Tristan eventuell ein Nazi sein könnte, ist mir noch gar nicht gekommen. Aber es wäre durchaus möglich!

    Sein Retten des Eichhörnchens und das Töten des Grauhörnchens (seine Aussage, dass er sich dazu immer überwinden muss, ist in meinen Augen ziemlich scheinheilig!) sind extrem symbolhaft geschildert.

    Ihr habt das ja alle schon erwähnt.

    Würger zieht ja ständig Parallelen. Schon schräg, vor allem, weil ja die Wortwahl auch genau wie bei den Tieren auch bei den Juden angewendet wurde. Das erschreckt mich jedesmal wieder, wie Menschen über Menschen sprechen und richten.

    Das ist ja auch wirklich erschreckend! Rassenbereinigung in jeder Hinsicht.<X


    Was mir ebenfalls sehr gut gefällt, dass am Anfang der Kapitel die Ereignisse zu dem jeweiligen Jahr bzw. Monat aufgeführt werden: innen- und außenpolitische Ereignisse, aber auch Ereignisse, die erst später Bedeutung erlangen werden, wie z.B. die Geburt eines späteren legendären Boxers.

    Das gefällt mir auch gut. Es zeigt aber auch, dass sich die Welt andernorts immer weitergedreht hat, auch wenn bei uns in Deutschland die Hölle ausgebrochen war.

    Das gefällt mir auch sehr gut. Die allgemeinen Ereignisse zu Beginn jedes Kapitels, dann die "private" Geschichte von Friedrich bzw Kristin und als Abschluss diverse Auszüge aus den Gerichtsakten. Und alles passiert im Prinzip gleichzeitig. So wie Du es schon gesagt hast, gagamaus: die Welt dreht sich weiter, auch wenn es in Deutschland gerade die Hölle war.

    Diese Gleichzeitigkeit ist spannend und entlarvend.

    Vernunft, Vernunft...

  • Ach, das wusste ich nicht. Dann verstehe ich jetzt aber ein bisschen mehr, warum Takis Würger das Buch vielleicht geschrieben hat. Wenn es seine Familie tatsächlich betroffen hat, dann ist es auch etwas ganz Persönliches.

    Das steht in der Widmung vorne im Buch. Ich habe mich allerdings geirrt, es war nicht der Großvater, sondern der Urgroßvater des Autors: "Für meinen Urgroßvater Willi Waga, der 1941 während der Aktion T4 vergast wurde."


    Das gefällt mir auch gut. Es zeigt aber auch, dass sich die Welt andernorts immer weitergedreht hat, auch wenn bei uns in Deutschland die Hölle ausgebrochen war.

    Ja, irgendwie ist man der Meinung, der Fokus müsste vollkommen auf Deutschland gelegen sein, was natürlich völliger Quatsch ist.

    Liebe Grüße

    Karin

  • Nach dem ersten Abschnitt muss ich gestehen, dass ich nicht weiß, woran ich bin. Friedrich kann ich ganz und gar nicht einordnen - und damit meine ich weniger seinen Charakter als seine Funktion in der Geschichte. An sich ist er nicht uninteressant, denn ich schätze ihn als einsam und ziemlich neugierig auf die Welt ein. Im Grunde ist er ein Außenseiter, der in Berlin erstmals eigenständig andere Menschen und andere Gepflogenheiten kennenlernen kann und ich finde, dass er sich für seine Ungeübtheit gar nicht so doof anstellt. Schon klar, dass er mit Kristin in Wirklichkeit Stella kennenlernt, aber mir ist völlig schleierhaft, warum sein vorheriges Leben derart beleuchtet wird. Mal schauen...

    Viel entscheidender finde ich allerdings den Stil Würgers. Eigentlich mag ich reduzierte Sprache sehr gerne und schätze es sehr, wenn mit wenigen gut gesetzten Worten gekonnte Bilder entstehen. Bei "Stella" habe ich bislang noch nicht den Eindruck, dass dem Autor dies auch wirklich gelingt. Ja, er reißt historische Details an, setzt mit einigen kurzen Sätzen (vor allem im Zusammenhang mit Friedrichs Mutter und der Köchin in seinem Elternhaus) ein paar gute Akzente - aber für mich ist das bislang noch zu wenig. Wenn zu Beginn eines Abschnitts ein, zwei wichtige Geschehnisse wie zum Beispiel die Geburt Muhammad Alis aufgezählt werden, wirkt das fast ein bisschen dokumentarisch, denn damit könnte es gelingen, dass die Leser dieses Romans die krassen Gegensätze dieser Zeit begreifbar zu machen. Aber irgendwie kratzt der Autor nur an dieser Möglichkeit, der Rest plätschert so vor sich hin. Einzig die heimische Situation Friedrichs ist halbwegs interessant gewesen, beim Rest frage ich mich aktuell noch, warum ich es lese. Vor allem in Anbetracht dessen, dass schon ein Drittel des Buches gelesen ist... Wenn ich mir jetzt überlege, was ich - nach der bisherigen Lektüre - in ein, zwei Jahren noch erinnere, würde ich mich vermutlich nur an die Anfangsszene erinnern, die dem achtjährigen Friedrich zwei ausgeschlagene Backenzähne, einen halbierten Schneidezahn und eine üble Narbe vom Kiefergelenk bis zum Mundwinkel beschert. Warum erzählt Takes Würger diese Szene überhaupt? Und nicht, wie es mit der schweren Körperverletzung eines Kindes durch einen Erwachsenen weitergeht? Keine Silbe darüber, ob die Eltern etwas unternehmen, Friedrich der Polizei von der Tat erzählt oder ähnliches? Soll die Schilderung der Verletzung die Ehrlichkeit und vor allem den zaghaften Versuch, Freunde zu finden, untermauern? Oder will der Autor bloß schocken? Den Leser gleich zu Beginn "abholen"?

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Aber es ist schon der allererste Satz, der mich wirklich irritiert: "Teile dieser Geschichte sind wahr"

    Welche Teile denn? Die kursiv gedruckten Textstellen, weil es sich um Auszüge aus Gerichtsakten handelt?

    Welche Bereiche von Stellas bzw Kristins Leben entsprechen den Tatsachen und welche sind Fiktion?

    Ein guter Punkt, den Du hier ansprichst! Klar ist, dass die kursiven Textstellen den Gerichtsakten entnommen sind, die im Rahmen ihrer Verhandlung vor einem Sowjetischen Militärtribunal entstanden sind. Aber über den Rest lässt uns Takis Würger im Unklaren, denn nun kann man sich quasi selbst aussuchen, was real und was fiktiv sein könnte... Schwierig - vor allem bei diesem extrem sensiblen Thema.

    Aber auch wenn die Friedrichs Familienverhältnisse reichlich zerrüttet waren... wie kommt er bloß auf die Idee im Krieg nach Berlin zu fahren? Welche Wahrheit hat er da gesucht? Die Möbelwagen? Oder war es reine Naivität?

    Ebenfalls ein sehr guter Punkt! Wahrscheinlich ist es bloß Naivität, aber man könnte auch eine gewisse Form des Voyeurismus in Betracht ziehen. Sei es die Neugier, wie es um das Gerücht mit den Möbelwagen steht, oder die Ignoranz der Tatsache, dass Berlin nicht nur mitten im Krieg steckt, sondern ihn schlicht und ergreifend losgetreten hat...

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Kristin als Figur erschließt sich mir noch nicht wirklich. Ich finde sie ebenfalls ein wenig undurchschaubar, aber die Erklärung von "Pervitin" sagt einiges. Warum Friedrich sie so toll findet, kann ich auch bisher nur mit ihrem selbstbewussten Auftreten erklären. Ähnlich funktioniert das ja auch bei Tristan. Er scheint diesen ebenfalls zu mögen, doch warum?

    Ich denke, dass Friedrich auf unterschiedliche Weise von den beiden angetan ist. Von Kristin, weil sie ihm von Anfang an gefällt - er sieht bei dieser Aktszene vermutlich zum ersten Mal eine nackte Frau, dazu ist diese nicht verschüchtert, sondern ziemlich selbstbewusst. Ich denke, dass ihm das mindestens stark beeindruckt, denn das ist das glatte Gegenteil von ihm - und schon ist er verschossen. Als sie vor seinem Hotel weggeht, nimmt Friedrich dann wahr, dass es doch nicht ganz so einfach ist, denn Kristin zeigt auf vielleicht hundert Metern zwei gegensätzliche "Gesichter" - zuerst das süße Mädchen mit eher hängenden Schultern und kurzen Schritten, nachdem sie dann ein letztes Mal gewunken hat und Friedrich verschwunden wähnt, richtet sie sich auf und schreitet mit großen Schritten davon... Als hätte sie ihre Maske abgelegt! Doch welches ist überhaupt ihre Maske?


    Tristan von Appen imponiert Friedrich, ja, aber ich denke, dass er im Normalfall nicht weiter an ihm interessiert wäre. Es ist meines Erachtens eher die Überraschung Friedrichs, dass sich da jemand um ihn schert. Die erste Möglichkeit einer Freundschaft... Wobei ich der Überzeugung bin, dass diese nicht echt ist - Tristan führt anderes im Schilde, nehme ich an. In diesem Zusammenhang könnte es hinderlich sein, wenn man weiß, wer die reale Stella Goldschlag war.

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Dieses Retten eines Tieres in Not schlägt die Brücke zu Tristan, der sich um das Eichhörnchen sorgt. Aber gleichzeitig auf Grauhörnchen schießt, weil diese die heimischen Eichhörnchen verdrängt, auch wenn es ihm schwerfällt. Man könnte das als Vergleich zu den Deutschen (Eichhörnchen) und den Juden (Grauhörnchen) ziehen, da ja die Juden damals vermeintlich die arische Rasse bedrohten und man sie daher ausmerzen musste.


    Tristan kann ich noch etwas schwer einschätzen, Friedrich weiß bisher zu wenig über ihn; was macht er eigentlich, warum hat er einen Revolver zuhause? In jedem Fall scheint er ziemlich privilegiert zu leben. Ist er ein Nazi, obwohl er soviele Eigenschaften hat, die bei einem Nazi alles andere als gern gesehen sind? Er geht in Clubs, die verbotene Musik spielen und er scheint homo- oder bisexuell zu sein. Bisher hat er auch keine abfälligen Bemerkungen über Juden gemacht, die waren eher neutral.

    Sollte er tatsächlich ein hoher Nazi sein, dann würde ihn diese Eigenschaften von den anderen "typischen" Nazis abgrenzen, was ebenfalls eine Art Einsamkeit darstellt.

    Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, denke ich. Friedrich rettet einen kratzbürstigen Ziegenbock, der kurze Zeit später erschossen wird, weil in seine Rasse künftig nicht mehr "investiert" werden soll. Und von Appen hat sich den Schutz der heimischen Eichhörnchen auf die Fahnen geschrieben... Würger deutet hier an, da bin ich mir sicher - auch wenn ich die Art und Weise einigermaßen simpel finde. Dennoch, die Hinweise, dass das Schießen der nordamerikanischen Grauhörnchen schwer fällt, passt zu den Eingeständnissen hoher Nazis, die schlußendlich zur Wannseekonferenz geführt haben. Die überzeugten Täter, die erkannt haben, dass selbst bei noch so großen Antisemiten die Ermordungen mit der Schusswaffe Spuren hinterlassen und deshalb einen industriellen Massenmord geplant haben. In diese Richtung interpretiere ich die Eichhörnchen-Szene.


    Hat von Appen eine Verbindung zu Kristin? Immerhin weiß er, dass sie Pralinen futtert, die Pervetin enthalten... Womöglich beschafft er ihr diese sogar. Für mich ist es mehr als denkbar, dass er Nazi ist - alleine schon aufgrund der Symbolik mit den Hörnchen, dem rohen Fleisch für seinen Windhund und seinem blutigen Fingernagel hinterher. Okay, das könnte alles zu einfach sein, aber die Tatsache, dass er so einfach Friedrichs Aufenthaltsort herausfindet und im Hotel, als er auf Friedrich wartet, "Das Schwarze Korps" liest, dürfte dann doch kein Zufall mehr sein. Bei dieser Lektüre liegt nahe, dass Tristan von Appen ein Mitglied der SS ist.

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Ach, das wusste ich nicht. Dann verstehe ich jetzt aber ein bisschen mehr, warum Takis Würger das Buch vielleicht geschrieben hat. Wenn es seine Familie tatsächlich betroffen hat, dann ist es auch etwas ganz Persönliches.

    Das steht in der Widmung vorne im Buch. Ich habe mich allerdings geirrt, es war nicht der Großvater, sondern der Urgroßvater des Autors: "Für meinen Urgroßvater Willi Waga, der 1941 während der Aktion T4 vergast wurde."

    Würgers Urgroßvater wurde Opfer der Euthanasie, daher denke ich nicht, dass dies der Anlass für exakt dieses Thema des Romans war. Zumal man mit einer historischen Figur wie Stella Goldschlag vorsichtig sein muss - zu schmal ist der Grad zum Revisionismus. Denn eines darf man trotz allem nicht vergessen: Stella war zuallererst Opfer. Das entschuldigt ihr späteres Handeln keineswegs, aber man sollte es auch niemals unerwähnt lassen.

    Liebe Grüße

    Tabea

  • Nach dem ersten Abschnitt muss ich gestehen, dass ich nicht weiß, woran ich bin

    Je mehr ich in diesem Buch lese, desto mulmiger wird mir. Der Stil gefällt mir, aber mir ist bis jetzt nicht klar, warum dieser Roman geschrieben wurde.


    Friedrich ist reine Fiktion, aber ich kann nicht entscheiden, wieviel von Kristins/Stellas Persönlichkeit fiktiv ist und welche Anteile davon biographisch. Auch wenn ich mittlerweile ein wenig über Stella Goldschlag nachgelesen habe. Ich weiß nicht, wie sie zu der Person wurde, die Juden suchte und denunzierte und somit für sehr viele Tote mitverantwortlich war. Und ich traue diesem Roman diesbezüglich auch nicht.

    Ich finde es sehr riskant, jemanden wie Stella Goldschlag in so einem Roman zu "beschreiben" ohne sich dabei genauestens an Tatsachen zu halten.

    Würger deutet hier an, da bin ich mir sicher - auch wenn ich die Art und Weise einigermaßen simpel finde. Dennoch, die Hinweise, dass das Schießen der nordamerikanischen Grauhörnchen schwer fällt, passt zu den Eingeständnissen hoher Nazis, die schlußendlich zur Wannseekonferenz geführt haben. Die überzeugten Täter, die erkannt haben, dass selbst bei noch so großen Antisemiten die Ermordungen mit der Schusswaffe Spuren hinterlassen und deshalb einen industriellen Massenmord geplant haben.

    Danke für diese aufschlussreichen Infos!

    Vernunft, Vernunft...

  • Ganz zu Beginn steht, dass die kursiv gedruckten Textstellen Gerichtsakten eines sowjetischen Militärtribunals sind. Sie liegen heute im Landesarchiv Berlin. Sie wurde von diesem Tribunal zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt.

    Aber gab es am Anfang auch einen Hinweis darauf, dass diese Gerichtsakten etwas mit Stella zu tun haben? Das ist ja eigentlich eher die entscheidende (ggf. fehlende) Information.


    Ich bin mir nicht sicher, ob diese Wikipedia Info eventuell ein Spoiler sein könnte, deshalb

    Ah, verstehe. Ja, das wäre sicherlich eine große Änderung. Ich würde bisher schätzen, dass Würger hier die Wahrheit ein wenig für den Roman zurecht gebogen hat.


    Dieses Retten eines Tieres in Not schlägt die Brücke zu Tristan, der sich um das Eichhörnchen sorgt. Aber gleichzeitig auf Grauhörnchen schießt, weil diese die heimischen Eichhörnchen verdrängt, auch wenn es ihm schwerfällt. Man könnte das als Vergleich zu den Deutschen (Eichhörnchen) und den Juden (Grauhörnchen) ziehen, da ja die Juden damals vermeintlich die arische Rasse bedrohten und man sie daher ausmerzen musste.

    Oh spannend, so ein wenig hatte ich auch das Gefühl,als ich diese Szene gelesen habe, aber ich hätte es nicht so treffend in Worte fassen können. Deswegen denke ich, dass du Recht hast, was das angeht. Ich denke eh, dass dieses Buch nicht wie ein "normaler" Roman gelesen werden kann, weil man dann genau solche Sachen überliest. Das Buch bietet viel Raum für Interpretationen. Wie schön, dass wir es deswegen zusammen lesen, auch wenn es vergleichsweise kurz ist.


    Ich habe an einigen Stellen den Eindruck gehabt, dass Friedrich eigentilch nicht unbedingt der geborene Maler ist, sondern vielmehr nicht genau weiß, was er eigentlich machen will.

    Das sehe ich ebenfalls so. Da merkt man auch, wie der Druck der Mutter überhaupt nicht gut für ihn ist. Er hat gar keinen Kopf, um sich darüber klar zu werden, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen will. Deswegen ist die Reise nach Berlin wahrscheinlich in mehrfacher Hinsicht sehr gut. Er muss sich unbedingt von seinem Elternhaus lösen.


    Eigentlich mag ich reduzierte Sprache sehr gerne und schätze es sehr, wenn mit wenigen gut gesetzten Worten gekonnte Bilder entstehen. Bei "Stella" habe ich bislang noch nicht den Eindruck, dass dem Autor dies auch wirklich gelingt.

    Verstehe ich. Ich habe gestern noch zusammen gefasst: Ich kann noch nicht sagen, ob mir das Buch gefällt. Ich muss es bis zum Ende lesen, um das bewerten zu können, da es kein "normaler" Roman ist. Und entweder geht das mit dem Ende auf und ich mir wird es gefallen oder es passt nicht und ich werde enttäuscht sein. Ich bin gespannt, was passieren wird.