Henriette Schroeder - Ein Hauch von Lippenstift für die Würde. Weiblichkeit in Zeiten großer Not

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    Klappentext

    Wer sich gehen lässt, ergibt sich. Wer Haltung bewahrt, macht den Leidensgenossinnen Mut. Herta Müller sagt: Es geht dabei um Würde. Wenn man sich aus der Hand gibt, dann hat man natürlich keine Würde mehr. Selbstbehauptung durch Schminken: Ein wenig Puder, etwas Rouge, schöne Haare oder ein raffiniert geschlungener Gürtel - eine Selbstverständlichkeit in unbeschwerten Friedenszeiten. Aber warum ist dies im Krieg, im Gefängnis, im Lager, in einem unfreien Land - bei all den anderen Nöten noch wichtig?


    In Ein Hauch von Lippenstift für die Würde berichten Frauen aus ganz verschiedenen Kulturkreisen, welche Bedeutung es gerade in Zeiten größter Not für sie hatte, ein gepflegtes Äußeres zu bewahren. Diese Frauen haben in Sarajevo und Grosny versucht zu überleben; sind in Russland, China, der DDR, dem Iran verhaftet oder in Prag und Bukarest erniedrigt worden und haben die unmenschlichen Bedingungen in Lagern oft über Jahre erduldet. Bei ihrem Kampf zu überleben, ging es stets auch darum, Selbstachtung und weibliche Würde aufrechtzuerhalten - und hierfür konnten ein Hauch von Lippenstift oder eine saubere Bluse entscheidend sein. Auch die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die die Drangsalierungen durch den rumänischen Geheimdienst immer wieder erdulden musste, hat für dieses Buch einen ergreifenden, sehr persönlichen und engagierten Text geschrieben. Die Interviews und ebenso persönlichen Beiträge sind u.a. von CNN-Starreporterin Christiane Amanpour und Bestsellerautorin Emily Wu. Das erste Buch zum Thema Weiblichkeit, Würde und Widerstand. Ein Tabuthema, das jeden Tag an Aktualität gewinnt. Umschlagmotiv von Daniel Biskup, der diese junge Frau 1999 in einem Flüchtlingslager in Mazedonien fotografierte.


    Aus meinem Lesetagebuch

    Spielt das Aussehen für Frauen in Krisen- und Notzeiten eine Rolle? Aber ja. Selbst in Kriegszeiten achten sie darauf, wie sie das Haus verlassen. In Gefangenschaft ist es für sie geradezu überlebenswichtig, ihre Würde und Weiblichkeit bewahren zu können. Und wenn es nur ein Teelöffel Zucker mit etwas Wasser ist, um ihn als Haarfestiger nutzen zu können.

    Man sollte meinen, und so denken viele Leute, dass es in Zeiten von Not Wichtigeres gibt als das Aussehen. Doch "schon ein Hauch von Lippenstift lässt Frauen sich in fast jeder Notlage besser fühlen".


    Wer sind diese Frauen, die Henriette Schroeder dem Leser hier vorstellt?


    Emily Wu kommt als erste zu Wort. 1958 kam sie in Peking zur Welt. Mao Tse-tung wollte die Landwirtschaft kollektivieren und China in eine industrialisierte kommunistische Großmacht verwandeln. Dabei nahm er in Kauf, dass innerhalb von vier Jahren 45 Millionen Menschen verhungerten.

    Emily kannte nur eine graue, triste Welt. Keine Farben oder elegante Kleidung. Mit 23 Jahren emigrierte sie in die USA und schrieb ihre Memoiren: "Feder im Sturm - Meine Kindheit in China". Bis heute stehen sie dort auf dem Index.


    "Kulturrevolution" bedeutete in China auch, die "Vier alten" (die Kurzform für alte Ideen, alte Kultur, alte Bräuche und alte Gewohnheiten) zu zerstören oder zu konfiszieren. 5000 Jahre alte chinesische Traditionen sollten eliminiert werden.


    Als junges Mädchen verbrachte Emily viele Stunden damit zu stricken, sticken oder nähen oder Dekorationen zu basteln. "Unser Leben war so elend, langweilig und farblos, dass wir alles taten, um es erträglicher zu machen."


    Henriette Schroeder interviewt Frauen, die Schreckliches erlebt haben. Zum Beispiel die Belagerung von Sarajevo (1992), während der die Stadt 1425 Tage eingeschlossen blieb, Scharfschützen auch auf Frauen und Kinder zielten. 11.541 Menschen starben während dieses Krieges, der inmitten des friedlichen Europas stattfand. Tausende wurden schwer verletzt und über 30.000 Menschen werden immer noch vermisst.


    Wenn man gelesen hat, was diese Frauen erlebt haben, dann versteht man, dass schon ein Hauch von Lippenstift zum Überleben beitragen kann.


    Alle Frauen zu benennen, wäre hier zu viel. Daher werde ich nur einige der Frauen mit einem Zitat zu Wort kommen lassen.


    Senka Kurtović: "Sich schminken, sich gut kleiden, war auch Schutz gegen das Grauen..."


    Samra Luckin: "Ich hatte am ersten Tag des Krieges genauso viel Angst wie am letzten. Ich wollte aber auch nicht hinnehmen, dass mich jemand zu einer Lebensweise zwingt, die unter meiner persönlichen Würde ist. Auch deshalb habe ich mich um mein Aussehen gekümmert. Es ging um Würde und um Auflehnung gegen diese Primitiven, die uns umzingelt hatten und auf uns schossen."


    Christiane Amanpour: "Ich lernte, dass unter Beschuss, unter den mittelalterlichen Bedingungen, unter denen die Frauen leben mussten, schön sein zu wollen, nichts mit Eitelkeit zu tun hatte. Es ging ihnen darum, ihre Menschlichkeit zu bewahren."


    Die Iranerin Yalda (Name geändert) lebt seit 2012 in völliger Anonymität in Wien: "Die Mullahs sagen, der Islam schreibe die Kleiderordnung vor. Aber in Wirklichkeit bestehen sie darauf, weil sie so dreckige, pervertierte Seelen haben. Und sie behaupten, alle anderen hätten ähnliche Gedanken; also erlassen sie viele Verbote. So wird Druck aufgebaut. Sie haben eine so schmutzige Fantasie, dass eine weibliche Fessel sie bereits anmachen würde. Mit all ihren Vorschriften verbreiten sie Angst und Schrecken und können so ihre Herrschaft zementieren."


    Wir hier im Westen sind mit Urteilen immer schnell bei der Hand. Gerade was das Kopftuch, die Kleider der Frauen aus anderen Kulturen betrifft. Dass vermummte und kopftuchtragende Frauen ihre ganz persönliche Revolution durchführen, das sehen wir nicht.

    Deshalb wünsche ich diesem Buch ganz viele Leser. Damit der ein oder andere sein vorschnelles Urteil vielleicht doch noch revidieren kann.


    Ich bin in diesem äußerst interessanten Buch auf so viele Frauen gestoßen, die ich bisher nicht mal vom Namen her kannte. Daher stelle ich es auch nicht gleich wieder ins Regal zurück, sondern versuche mal, noch mehr über diese Frauen zu erfahren.


    Das war mal wieder ein Buch, bei dem mir so richtig die Wut hochstieg. Besonders der Beitrag über die ehemalige DDR-Fernsehmoderatorin Edda Schönherz. Sie hat drei Jahre lang das schrecklichste DDR-Frauen-Gefängnis erleben müssen. Und da kann man wirklich sagen: Was die Nazis begonnen haben, hat die Stasi vervollkommnet.

    Das Schreckliche daran: Die Männer, die sie damals gedemütigt haben, sitzen heute wieder in hohen Posten. Sie führen mittelständische Unternehmen, sind Vorstandsvorsitzende, haben Hotels. Und sitzen in der Regierung. Und Letztes ist wirklich ein Schlag ins Gesicht gegen, ja, eigentlich gegen alle Menschen.


    Es war nach der Wende genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Täter konnten ein unbehelligtes Leben weiterführen. Die Opfer müssen mit ihren Erlebnissen klarkommen.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


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    Einmal editiert, zuletzt von Anne ()

  • Das ist ja interessant. Ich kann mich gut an einen Roman aus der Zeit des 2. Weltkriegs erinnern, in dem die Frauen überglücklich waren, wenn sie mal ein neues, halbwegs ansehnliches Kleid ergattern konnten oder gar einen super-raren Lippenstift. Und ich finde es absolut nachvollziehbar, dass man sich auch und gerade in Zeiten von Kriegen und Krisen über solche Dinge freut.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich denke, sich an solchen Normen in Kriegszeiten oder anderen als schlimme Zeiten empfundene (kann ja auch generell eine Notzeit sein) festzuhalten schafft Sicherheit, weil man sie mit Normalität verknüpft. Gerade die Schönheitsnormen (die ja mit Mode und Schminke stark verknüpft ist) bilden ja auch die Nostalgie ab, die mit der Zeit davor verbunden wird.


    Anne

    Ich wäre vorsichtig die NS Zeit und die DDR so stark gleich zu setzen, das verschleiert die Unterschiede und ja schon auch Gemeinsamkeitenun und Nutzung bestimmter Strukturen zu sehr.

  • Das waren zumindest meine Gedanken, nachdem ich den Text gelesen habe. Und nicht nur nach diesem. Diese Gedanken kamen mir schon nach einigen Büchern Gegen das Vergessen.

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