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Im Rahmen der Monatsrunde April meine erste Rezension
Klappentext
Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.
Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Ausser sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.
Meine Meinung
Der Titel Ausser sich trifft den Kern der Sache ziemlich gut. Ali(ssa), der transsexuelle Protagonist, begibt sich zwar nach Istanbul, um den verschwundenen Bruder zu finden, allerdings wird ziemlich schnell klar, dass es sich dabei mehr um eine Flucht vor dem Gefühl, die eigene Identität nicht zu kennen, handelt. Die Suche nach Anton wird somit immer mehr zur Suche nach sich selbst. Dabei hält sich Ali hauptsächlich in Milieus auf, die kein Reiseführer über Istanbul je erwähnen würde - Der queere Untergrund mit Drogen, Gewalt und Prostitution.
Eine weitere Erzählebene stellt die Familiengeschichte Alis dar, die von schweren Schicksalen bestimmt wird. Jede einzelne Person wird dabei ausführlich mit sehr viel Gefühl vorgestellt, thematisiert werden vor allem Gewalt und die Erfahrungen bei der Emigration nach Deutschland.
Die Erzählstränge vermischen sich ziemlich schnell ohne chronologische Reihenfolge. Deshalb wird es bald verwirrend, und der Leser muss versuchen, sich sein Bild aus den einzelnen Stücken nach und nach zusammenzusetzen. Das wird zusätzlich erschwert durch Perspektivwechsel, die gegen Mitte/Ende des Buches sogar mitten im Kapitel, ohne Trennung durch Absätze auftreten. Dieses Durcheinander soll wohl Alis Bewusstseinszustand verdeutlichen und den Leser mit seiner Unfähigkeit, Dinge ordnen zu können, konfrontieren.
Es handelt sich um keine lockere Lektüre, nicht nur wegen der Themen und des Aufbaus, sondern auch im Hinblick auf den Schreibstil: Als "Eine einzigartige Markierung gegenwärtigen Erzählens" bezeichnete die Süddeutsche Zeitung den Roman, der genau das sein will: Gegenwärtig, aktuell, neu, anders. Dafür geht die Autorin den Weg über seltsame Metaphern, ellenlange Kommasätze und eine alles überdeckende Vulgarität (Ich habe selten so viele abstoßende Sexszenen hintereinander gelesen), die einen näheren Bezug zu den Personen und Aufbau von Empathie verhindert. Leider erschien mir ein Großteil der Sätze und Szenen zu konstruiert, zu gewollt, ganz so, als wollte die Autorin hohe Literatur um jeden Preis schaffen. Diese schwachen Stellen wurden allerdings wiederum ausgeglichen von einigen wenigen brillianten Passagen.
Insgesamt habe ich die Lektüre also nicht genossen, aber so ist der Roman auch gar nicht angelegt: Man soll die Erfahrungswelt Alis mit aller Verwirrung, aller Hoffnungslosigkeit und aller Distanz zur Welt und sich selbst teilen. Ganz sicher nicht für jeden etwas, trotzdem kann ich die Nominierung für den Deutschen Buchpreis nachvollziehen.