Manfred Spitzer - Die Smartphone-Epidemie

Es gibt 63 Antworten in diesem Thema, welches 13.277 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Vandam.

  • Noch ein paar Punkte von psychologischer Seite:


    AlsBeispiel: InVerbindung mit dem Smartphone haben sich auf dem psychologischenSektor neue Ängste entwickelt: Die Fomo-Phobie und die Nomo-Phobie.


    *Fomo: Fear of missing out (die Angst davor, etwas zu verpassen)

    *Nomo: No more Phone phobia (die Angst davor, nicht erreichbar zusein)

    Das ist leider völliger Blödsinn, sorry. Fomo ist ein Internet-Gag, Nomo kannte ich bisher nicht, aber fällt in die gleiche Kategorie. Mit psychischen Störungen, Psychologie oder überhaupt Wissenschaft hat das aber überhaupt gar nichts zu tun.

    Eine Phobie ist eine Ernst zu nehmende Erkrankung, die große Beeinträchtigungen und Leidensdruck für die Betroffenen bringt. (Und ja, gefühlt 90% der Personen, die sagen, sie hätten eine Spinnenphobie, haben in Wirklichkeit "nur" eine starke Abneigung gegenüber Spinnen, eine echte Phobie aber zum Glück nicht.)


    Fomo hatte ich übrigens auch schon in Zeiten, bevor es Smartphones oder den Begriff gab: als Teenager nicht auf eine Party zu dürfen, auf die alle meine Freunde gingen, war die schlimmste vorstellbare Bestrafung.


    Ebensonehmen Aufmerksamkeitsstörungen, Angst, Sucht, Depressionen undDemenz rapide zu, wohingegen Bildung, Empathie und Sozialverhaltenrapide abnehmen. Je größer die Smartphone-Sucht (5 oder mehrOnline-Stunden pro Tag), desto weniger Kontakt zu realen Personen wieFreunden und Familie.

    Ich kann nicht auf dieses Thema eingehen, ohne dass das hier den Rahmen sprengen würde und ohne, dass ich selbst an meine fachliche Grenze käme, aber auch hier muss ich sagen, dass diese Aussage so einfach nicht stimmt. Das sind hochkomplexe Thematiken und alleine die Aussage "psychische Störungen nehmen immer mehr zu" ist schon eine Vereinfachung, die dem Ganzen nicht gerecht wird.

    Kurzum: so ist das einfach falsch, und zwar vor allem durch - bewusstes? - Weglassen von weiteren Fakten und Komponenten, die für diese Frage nicht einfach weggelassen werden dürfen. Auch nicht in einem populärwissenschaftlichen Buch.


    Und zum Thema Sucht: was eine Smartphone-Sucht ist, wie sie ausschaut und ob es sie überhaupt gibt und vor allem, wie sie behandelt werden soll, auch das sind offene Fragen und die wissenschaftliche Community hat hier noch keinen Konsens gefunden. Dazu wird aber intensiv geforscht.

    Das gilt auch für alle anderen substanzungebundenen Abhängigkeiten, wie Kaufsucht, Fernsehsucht, usw.

    Die einzige - aktuell - diagnostizierbare Abhängigkeit aus diesem Bereich, zu der es Leitlinien und Konsens gibt, ist das pathologische Spielen. Gemeint ist damit die Glückspielsucht.

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

  • Sicherlich birgt das Smartphone wie viele andere Medien oder sonstige Gerätschaften auch Gefahren, aber Spitzer ist inzwischen ja reichlich berühmt-berüchtigt für seine rigorose Schwarzmalerei und für mich daher nur bedingt ernst zu nehmen.

    Das Smartphone ermöglicht mehr soziale Interaktion als ein Buch. Wenn jemand in den Öffis auf dem Smartphone herumdaddelt - wer sagt denn, dass er oder sie nicht gerade der Schwester schreibt, die gerade auf der anderen Seite des Kontinents als Austauschschülerin lebt? Man kann doch überhaupt nicht in die Menschen hinein sehen.

    Eben! Wer unterwegs ein Handy in der Hand hat, muss nicht zwangsläufig irgendwas Dämliches damit tun - es ist Kommunikationsmittel, Lesestoff, Musikbibliothek, Nachschlagewerk, Fotoalbum und vieles mehr. (Nur beim Gehen finde ich es doch sinnvoller, geradeaus zu gucken als auf den Schirm - Smombie-Ampeln fände ich doch zu viel des Guten. Da sehe ich die Verantwortung, auf den Verkehr zu achten, doch eher bei jedem einzelnen selbst.)


    Und wenn ich mit meinem Mann auf dem Sofa sitze und ein Buch lese, während er einen Actionfilm guckt, der mich nicht interessiert, ist das doch auch nicht unhöflich.

    Hat der sich eigentlich wirklich durchsetze können?

    Nö, das war nur kurzlebig. Danach kamen ja schon bald die ersten Handys.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





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    Manfred Spitzer: Die Smartphone-Epidemie: Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft, Stuttgart 2018, Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-96368-7, Hardcover mit Schutzumschlag, 368 Seiten, Format: 13,2 x 3,5 x 21,1 cm, Buch: EUR 20,00, Kindle: EUR 15,99.



    Die negativen Folgen des Smartphones

    Der Autor hat sein Thema, und das beleuchtet er aus verschiedenen Blickwinkeln: Die Menschen, sagt er, werden immer dümmer, kränker und zeigen immer weniger Empathie. Und schuld daran sei der exzessive Gebrauch der Smartphones. Zum Beweis zieht er Studien aus aller Welt heran und präsentiert uns Statistiken, Tabellen und Graphiken. 46 Seiten mit Literaturhinweisen zeigen, dass er wirklich gründlich recherchiert hat und nicht einfach nur irgendwas behauptet. Und es leuchtet auch alles ein, was er schreibt. Vor allem, wenn es um den bedenklichen Einfluss auf die Kinder geht.

    Körperliche Auswirkungen

    Die Zeit, die Kinder mit dem Smartphone verbringen, fehlt ihnen für andere Freizeitaktivitäten wie Sport und das draußen Spielen mit anderen Kindern. Wer den ganzen Tag aufs Smartphone glotzt, bewegt sich nicht. Bewegungsmangel hat dann oft negative körperliche Folgen wie Adipositas, Haltungsschäden und Diabetes. Ferner können Schlafstörungen, Bluthochdruck und Kurzsichtigkeit dazukommen. Und weil die „Smombies“ auch im Straßenverkehr mehr auf ihr Phone achten als auf ihre Umgebung, kommt es verstärkt zu Unfällen. Ein Risikoverhalten anderer Art führt zu mehr Geschlechtskrankheiten, sagt der Professor.

    Geistig-seelische und gesellschaftliche Konsequenzen

    Auf geistig-seelischer Ebene kommt es verstärkt zu Ängsten, Mobbing, Aufmerksamkeits-Störungen, Demenz, Depressionen, Empathieverlust und diversen Suchterkrankungen. Gesellschaftlich schließlich führt übermäßiger Smartphone-Gebrauch zu geringerer Bildung, geringerem gegenseitigen Vertrauen, verminderter Willensbildung und weniger Solidarität, dafür zu mehr Anonymität, Isolation und Einsamkeit und zu guter Letzt noch zur Gefährdung der Demokratie.


    Das klingt alles sehr plausibel, vor allem mit den vielen Zahlen und Beispielen. Und manches sagt einem auch der gesunde Menschenverstand. Vertrauen in seine Mitmenschen lernt man durch direkten Umgang mit ihnen. Wer nur von klein auf hauptsächlich online kommuniziert, wird da Defizite entwickeln. Und wer die Natur gar nicht wahrnimmt, wenn er sich notgedrungen mal dort aufhalten muss, dürfte auch auf Naturschutz und Nachhaltigkeit wenig Wert legen. Es ist auch nachvollziehbar, dass man sich um das Vergnügen bringt, eigene Ideen in die Realität umzusetzen, wenn man überwiegend vorgefertigte elektronische Unterhaltung konsumiert. Kreativitätsfördernd ist das nur in Ausnahmefällen.


    Digitalisierung in der Schule? Bloß nicht!

    Dem Ruf nach Digitalisierung des schulischen Lernens kann der Autor erst recht nichts abgewinnen. Er beruft sich auf Studien, die zeigen, dass die schulische Leistung sinkt, sobald irgendwo Computer im Unterricht Einzug gehalten haben. Die SchülerInnen machten damit alles Mögliche, nur nicht lernen.


    Schlimmer noch: Während seit Einführung der IQ-Tests der Intelligenzquotient der Menschen kontinuierlich gestiegen ist (Flynn-Effekt), sinkt er seit Mitte der 1990er Jahren wieder. Allerdings nur in hochentwickelten Ländern. Messfehler, statistische Artefakte, periodische Schwankungen oder sonstige äußere Einflüsse, die einem einfallen könnten, spielen dabei laut Professor Spitzer keine Rolle. Also bleibt als Verursacher für diesen umgekehrten Flynn-Effekt ja nur das Smartphone übrig. Als Begründung zieht er diverse Studien heran.

    Für den Laien ganz schön komplex

    Der Autor kann einen aber auch schwindelig rechnen! Den Beitrag über den „Flynn-Effekt im Rückwärtsgang“, Seite 312 ff, habe ich dreimal gelesen und nicht verstanden. Okay – meine Statistik-Vorlesungen sind auch schon 35 Jahre her. Aber immerhin hatte ich mal welche. Für ein populärwissenschaftliches Buch, das sich ausdrücklich an Nicht-Fachleute wendet, geht’s hier manchmal schon recht komplex zu. Nicht, weil der Autor sich so kompliziert ausdrückt, sondern weil die Materie eben so ist. „Gut“ sagt man sich irgendwann, „ich hab zwar keine Ahnung, worüber er hier schreibt, aber er ist der Experte. Wenn er es recherchiert hat, wird’s schon stimmen.“


    So plausibel die Ausführungen des Professors auch sind: Ich bin mir nicht sicher, ob alles, was uns hier als Kausalität verkauft wird, auch wirklich eine ist – oder nicht doch nur eine Korrelation. Kann es denn wirklich sein, dass eine so beliebte Erfindung wie das Smartphone ausschließlich negative Seiten hat? Gibt es wirklich gar nichts, was dafür spricht?


    Gibt’s gar nichts Gutes über Smartphones zu sagen?

    Es wäre ja möglich, dass – was weiß ich? – die Kinder von heute technisch versierter sind als die vor 20, 30, 40 Jahren oder dass sie wegen der vielen internationalen TV-Serien besser in Englisch sind. Vielleicht sind sie ja auch selbstständiger als ihre Altersgenossen früher, weil sie dank Smartphones stets Zugang zu allen möglichen Informationen haben und sich deshalb stets schnell zu helfen wissen. Das habe ich mir jetzt alles ausgedacht. Aber es wäre meines Erachtens nicht aus der Welt, dass die Erfindung des Smartphones den jungen Usern irgendeine Art von Vorteil bringt.


    Da wir hier aber rein gar nichts Positives über die Smartphones zu lesen bekommen, frage ich mich, ob das wirklich das komplette Abbild der Wirklichkeit ist, oder ob Professor Spitzer nur die Studien heranzieht, sie seine Meinung unterstützen und alles, was dieses Negativbild stören könnte, einfach weglässt. Ich will ihm nichts unterstellen – ich bin ja nur eine durchschnittlich schlaue Leserin und gar nicht in der Position dazu- , aber meinen Eindruck darf ich hier sicher wiedergeben.


    Wie dem auch sei: Das Buch spricht einige Punkte an, die man bedenken und näher beleuchten sollte. Man ist ja noch keine Fortschrittsbremse, wenn man mal nachforscht, wie es anderen Ländern zum Beispiel mit der Digitalisierung des Schulbetriebs ergangen ist.

    Kapitel in beliebiger Reihenfolge lesbar

    Dass sich die Argumente in dem Buch recht häufig wiederholen, liegt in der Natur der Sache. Das Buch besteht zu einem großen Teil aus Artikeln, die der Autor bereits in einem Fachblatt für Neurologen und Psychiater veröffentlicht und für diesen Band überarbeitet und ergänzt hat. Das hat den Vorteil, dass man die 15 Kapitel nahezu in beliebiger Reihenfolge lesen kann und trotzdem alles Wesentliche mitbekommt. „Daher habe ich manche Doppelungen im Text belassen“, schreibt der Autor, „Nicht zuletzt, weil ich als (Hochschul-)Lehrer weiß, dass Wiederholung die Mutter allen Lernens ist.“ (Seite 12)

    Der Autor

    Manfred Spitzer, Prof. Dr. Dr., geboren 1958 in Lengfeld bei Darmstadt, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg. Von 1990 bis 1997 war er als Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg tätig. Zwei Gastprofessuren an der Harvard-Universität und ein weiterer Forschungsaufenthalt am Institute for Cognitive and Decision Sciences der Universität Oregon prägten seinen Forschungsschwerpunkt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft und Psychiatrie. Seit 1997 hat er den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Ulm inne und leitet die seit 1998 bestehende Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm. Seit 1999 ist er Herausgeber des psychiatrischen Anteils der Zeitschrift Nervenheilkunde; seit Frühjahr 2004 leitet er zudem das von ihm gegründete Transferzentrum für Neurowissenschaft und Lernen in Ulm und moderiert eine wöchentlich in BR-alpha ausgestrahlte Fernsehserie zum Thema Geist und Gehirn. Er ist Autor des Nr.-1-Bestsellers »Digitale Demenz« und zahlreiche seiner Buchveröffentlichungen wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.