Sorj Chalandon - Am Tag davor

Es gibt 7 Antworten in diesem Thema, welches 1.378 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Kirsten.

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    Inhalt

    Michel bewundert seinen großen Bruder Joseph grenzenlos. Der Ältere arbeitet in der Zeche Saint-Amé. Wann immer Michel bei ihm wohnt, behandelt ihn Joseph wie einen Gleichgestellten, nicht wie ein Kind, wie es der Vater tut. An einem Abend im Winter fahren Michel und Joseph mit dem Mofa durch den kleinen Heimatort. Es ist der letzte schöne Abend, denn am nächsten Tag geschieht ein Grubenunglück. 42 Bergleute sterben. Joseph wird schwer verletzt geborgen und stirbt wenige Tage später. Von da an will Michel nur noch eines: er will die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.


    Meine Meinung

    Die Geschichte beginnt mit einem Tod in der Vergangenheit und einem in der Gegenwart. Als Michels Frau stirbt, bricht er alle Zelte ab und zieht in sein Heimatdorf zurück, um die Verantwortlichen für den Tod seines Bruders zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Aber je mehr er erfährt, desto weniger passt es zu seinen Erinnerungen. Irgendwann erkennt Michel, dass er sich seiner Vergangenheit stellen muss, anstatt sie zu verklären.


    Am Tag davor ist die Geschichte von zwei großen Lieben: der von Michel zu seinem Bruder und der zu seiner Frau. Aber sie ist auch die Geschichte von großer Trauer und großer Schuld und der Unfähigkeit, damit fertig zu werden. Sorj Chalandon erzählt sie in knappen Worten, aber gerade deswegen hat sie mich so berührt.

    5ratten


    Liebe Grüße

    Kirsten

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Dieses Buch (die frz. Ausgabe) habe ich gestern Nacht in einem Hotelzimmer angefangen zu lesen - und hab's kaum aus der Hand gelegt und viel zu wenig geschlafen. Ich habe Deine Besprechung nicht gelesen, aus Angst dass du zu viel verrätst (Das Buch soll eine überraschende Wendung enthalten). Aber ich melde mich, wenn ich es gelesen habe. Bist du wie ich durch das "Literarische Quartett" (August) auf es aufmerksam geworden?

  • Der Titel war ein Neuzugang in meiner OnLeihe und klang viel zu interessant, um ihn nicht auszuleihen ;)

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Im 'Literarischen Quartett' waren alle vier restlos überzeugt von diesem Buch. Da dachte ich, wenn die vier sich einig sind, dann muss doch was dran sein.

  • Sorj Chalandon: Am Tag davor (Le jour d'avant)

    Man erweist jemandem die letzte Ehre, so sagt man doch, nicht wahr, wenn man einen Toten grüsst. Eine solche Ehrbezeugung ist das Buch "Am Tag davor" des tunesisch-französischen Autors Sorj Chalandon. Das Buch ist den 42 Bergleuten gewidmet, die kurz nach Weihnachten 1974 bei einem Grubenunglück in Liévain-Lens ums Leben kamen. Am Ende des Buches liest man die 42 Namen. Unter ihnen viele polnische, auch einige flämische. Im Nachwort zur französischen Taschenbuchausgabe, ich weiss nicht ob es in der deutschen Ausgabe abgedruckt ist, berichtet der Autor von seinen Lesereisen in den Norden Frankreichs oder Lothringens, überall dahin, wo sie standen, die Fördertürme der Kohlenbergwerke. In den 80-er Jahren wurden die letzten geschlossen. Da sassen sie vor ihm, die Alten mit ihren Staublungen, deren Husten die Lesung aus dem Roman begleitete. Da sassen sie auch, noch mehr, die Witwen, die Kinder, die Enkelkinder, die ihre Männer, Väter oder Grossväter meist sehr früh verloren hatten, - oder auch noch früher, wenn sie Opfer der zahlreichen Unfälle und Unglücke in den Gruben wurden.

    Der Autor war ein wenig besorgt. Hatte er doch ein Opfer nur erfunden, ein 43. Opfer der Katastrophe von Liévain. Und ob dieses 43. Opfer überhaupt ein Opfer war, konnte man sogar bezweifeln. Nach der Lesung aber kamen die Witwen und baten den Autor den Namen ihrer Männer, die früher oder später ein Opfer des Bergbau geworden waren, mit der Hand an die Liste der 42 Opfer von Liévain hinzuzufügen. Das muss für den Autor ein ergreifender Augenblick gewesen sein, auch für den Leser heute.

    "Das Bergwerk tötet uns alle", heisst es im Roman. Michel Flavant, der viel jüngere Bruder, will eines dieser Opfer, seinen Bruder Joseph rächen. Vierzig Jahre nach der Katastrophe, die leicht vermieden hätte werden können, findet er endlich den Schuldigen. Wenig später ist er der Beschuldigte. Die letzten 100 Seiten des Romans schildern den Prozess. Der Autor war viele Jahre Prozessberichterstatter für die französische Zeitung 'Liberation'. Von seiner Erfahrung profitiert das Buch. Aber es profitiert vor allem von der - wie soll man sagen - Menschlichkeit des Autors. Darum ist es ein grosses Buch geworden.

  • Die Namen und die Geschichten von den Lesereisen stehen in meinem Buch leider nicht.

    Aber es profitiert vor allem von der - wie soll man sagen - Menschlichkeit des Autors. Darum ist es ein grosses Buch geworden.

    Du hast so recht mit dieser Aussage.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Das ist schade, dass man die Namen der Opfer und das Nachwort zur frz. Taschenbuchausgabe nicht in die deutsche Übersetzung aufgenommen hat. Es wären nur fünf Seiten mehr geworden. 1917 wurde der Autor am 27. Dezember zur jährlichen Gedenkfeier in Liévain eingeladen. Man siehst ihn hier auf einem Foto während seiner Ansprache.

    https://www.lavoixdunord.fr/28…de-la-catastrophe-de-1974

    Dahinter links und rechts auf den Gedenksteinen die Namen der Opfer.

    Ich war einmal ganz in der Nähe, denn in Lens (die Grube liegt teils unter Lens) gibt es seit einigen Jahren eine Filiale des Louvre, um mehr Besucher in diese Gegend zu locken. Wenn ich diesen Louvre 2 noch einmal besuche - 1 1/2 Autostunden von meinem Wohnort - werde ich gewiss auch die Gedenkstätte in Liévain besuchen.

    Jetzt bin ich neugierig auf andere Bücher Chalandons. Sein neuestes ist gerade erschienen.