Tracy Chevalier - Violet/A Single Thread

Es gibt 11 Antworten in diesem Thema, welches 1.983 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

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    Klappentext:

    England, dreißiger Jahre. Die Abende, an denen Violet mit einer Gruppe ungewöhnlicher Frauen wunderschöne Stickereien für die Kathedrale in Winchester anfertigt, sind der Aufbruch in eine neue Welt. Sie zeigen Violet, dass sie mit ihrem Auszug aus dem mütterlichen Zuhause die richtige Entscheidung getroffen hat. Schnell lernt und schätzt sie die Kunst des Stickens und lässt sich von Arthur in die des Läutens der Kirchturmglocken einweihen. Violet gewinnt durch das starke Band der Freundschaft zwischen den Frauen und die wachsende Nähe zu Arthur an Lebensmut und überwindet die Lebenskrise infolge des Ersten Weltkriegs. Und die Kirchturmglocken könnten wahrhaftig ihr neues Leben in Winchester einläuten…


    Violet ist eine der vielen "übrig Gebliebenen". Das sind die Frauen die im ersten Weltkrieg ihren Liebsten verloren haben, oder nun keinen Mann mehr finden.

    Weil es für diese Frauen einfach zu wenig Männer gibt, hat selbst die englische Regierung ein Wort dafür gefunden: "Frauenüberhang".

    Violet hat genug davon, als alleinstehende Frau bei ihrer Mutter zu wohnen und sich von ihr herum kommandieren zu lassen. Ihren ganzen Mut nimmt sie zusammen und zieht ins zwölf Meilen entfernte Winchester, für Violet ein riesiger Schritt in die Unabhängigkeit.


    So begleitet man als Leser Violet in ein neues Leben.

    Von der Kathedrale in Winchester ist sie gleich ergriffen. Zufällig stolpert sie in eine der Segenungsfeiern, die regelmäßig in der Kathedrale für die neuen Stickarbeiten der Broderinnen-Gruppe abgehalten werden. Tief beeindruckt von den Werken der Frauen, möchte sie selbst auch der Gruppe beitreten.

    Es ist nicht nur schön Violet dabei zu erleben wie sie versucht aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen. Es gefiel mir auch bei dieser Gelegenheit, den Frauen bei ihren Stickarbeiten über die Schultern zu schauen.

    Unter der Leitung von Louise Pesel, die es wirklich gegeben hat, erschaffen die Frauen für die Kathedrale unter anderem wunderschöne Knie- und Sitzkissen. Diese soll man übrigens noch heute in der Kathedrale bewundern können und sie werden angeblich sogar noch benutzt.


    Außerdem hat die Autorin ein weiteres interessantes Thema eingebaut, nämlich die Arbeit der Glöckner. Zusammen mit Violet darf man Winchesters Läutestube betreten und den Männern beim Wechselläuten zusehen. In einigen Passagen wird genau erklärt wie so etwas vonstatten geht. Man glaubt gar nicht wie kompliziert das Glockenspiel ist und wie Violet, habe ich auch nicht immer alles genau verstanden. Spannend ist das Thema trotzdem.


    Mal abgesehen von den Stickereien und dem Glockenspiel fand ich es unheimlich spannend zu lesen, wie das Leben für die Frau, wenige Jahre nach dem ersten Weltkrieg, so war. Wie sie sich vor dem Familienvorstand rechtfertigen musste. Die schiefen Blicke der Leute wenn die fanden, eine Frau lebe nicht nach den üblichen gesellschaftlichen Regeln. Wie eine verheiratete Frau die ledige Frau plötzlich von oben herab behandelte, obwohl beide vorher Freundinnen waren. Und lauter solcher Details...

    Das alles erzählt Tracy Chevalier mit sehr ruhigen Tönen.

    Besonders bei den Figuren kommt die Detailverliebtheit der Autorin zum Vorschein. Ob es nun die neugierige Vermieterin ist, die keinen Männerbesuch in ihrem Haus duldet, oder die immer nörgelnde Mutter, die an allem und besonders an Violet ständig etwas auszusetzen findet. Ob es die gemeinen ewig schnatternden Bürokolleginnen sind oder die emsigen, manchmal hinter den Rücken der anderen Frauen tratschenden Stickerinnen. Immer hatte ich die Figuren deutlich vor Augen.


    Am Ende hatte ich ein paar Tränchen in den Augen und auch wenn das Jahr gerade erst angefangen hat, und es sich bei dem Buch um einen Roman der besonders leisen Töne handelt, ist es jetzt schon eines meiner Jahres-Highlights. Violet muss man als Romanfigur einfach nur lieben.


    5ratten :tipp:

    Lesen ist die schönste Brücke zu meinen Wunschträumen.

  • Vielen Dank für diese Rezi, nanu?! - Violet kenne ich nämlich tatsächlich von Tracy Chevalier noch nicht!!

    (Äh - tatsächlich so neu..??):huh:

    Zum englischen Wechselläuten hätte ich einen Buchtipp (es nimmt in diesem Krimiklassiker tatsächlich sehr viel Raum ein!), allerdings wohl nur noch antiquarisch oder Kindle:

    Dorothy Sayers - Der Glocken Schlag

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    (Einer der wenigen Krimis, die ich aufgehoben habe.. ;))

    Einmal editiert, zuletzt von Alice ()

  • Danke Alice , das klingt tatsächlich sehr spannend. Die erste Rezi die mir auf Amazon angezeigt wird, macht richtig Lust auf das Buch.

    Mal sehen ob ich es auftreiben kann. :)


    (Äh - tatsächlich so neu..??):huh:

    Jepp, heute ist Erscheinungstag der deutschsprachigen Ausgabe.

    Lesen ist die schönste Brücke zu meinen Wunschträumen.

  • Das hört sich wirklich toll an. Die Kathedrale von Winchester ist wunderschön und das Thema Frauen nach dem 1. Weltkrieg interessiert mich auch sehr. Kommt also direkt auf meine Wunschliste.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Violet ist inzwischen 38 Jahre alt. Ihren Verlobten hat sie im ersten Weltkrieg verloren. Praktischerweise lebte sie bei ihrer verwitweten Mutter. Aber sie will auf eigenen Beinen stehen und nimmt einen Job als Schreibkraft in Winchester an. Doch das Leben ist nicht einfach, denn das Geld reicht vorne und hinten nicht. Auch das Alleinsein in der kleinen Wohnung ist nicht schön. Violet schließt sich einer Gruppe Frauen an, die Stickereien für die Kathedrale in Winchester anfertigen. Und dann gibt es da noch den Glöckner Arthur…

    Der Schreibstil ist sehr detailliert, aber angenehm zu lesen. Allerdings gibt es dadurch auch ein paar Längen. Die Geschichte hat mir, obwohl sie recht ruhig verläuft, von Anfang an gefallen.

    Die Charaktere sind lebendig und gut dargestellt. Violet hat lange mit ihrer Mutter, die immer verbitterter wird, zusammengelebt. Sie ist bescheiden und warmherzig. Nun aber will Violet ihr eigenes Leben gestalten. Das ist mutig von ihr, denn in jener Zeit ist sie noch vielen Konventionen unterworfen, doch sie wird dadurch aus selbstbewusster. Sie fühlt sich zu Arthur hingezogen, aber der ist verheiratet. Im Kreis der Stickerinnen findet sie Gesellschaft und Freundschaft. Jede der Frauen hat ihr Päckchen zu tragen, aber gemeinsam ist doch vieles leichter.

    Ein ruhiger Roman, den ich gerne gelesen habe.


    4ratten

  • Violet von Tracy Chevalier entführt den Leser in eine längst vergangene und aus heutiger Sicht auch tragische Zeit: Wir befinden uns zwischen den beiden Weltkriegen des vorigen Jahrhunderts; genauer gesagt in


    Winchester, England, 1932:


    Violet Speedwell, die Hauptprotagonistin dieses wundervollen Romans, 38 Jahre alt, möchte sich nicht noch länger von ihrer verbitterten und stets unzufriedenen Mutter das Leben schwer machen lassen und beschließt, aus Southampton ins 30 Meilen entfernte Winchester zu ziehen, wo sie eine Stelle im Büro der Southern-Counties-Versicherungen annimmt. Durch einen Zufall nimmt sie an einem besonderen Gottesdienst teil, der sie gefangen nimmt: Die Broderinnen (Broder = mittelalterliche Stickkunst) sind zu einem Segnungsgottesdienst in der Kathedrale zusammengekommen, um ihre fertigen Kissen für die Sitze und Langbänke in der Kirche segnen zu lassen. Violet fühlt sich zu den Frauen hingezogen und erreicht es durch ihre Klugheit, dass sie diese Art des Stickens erlernen darf: Niemand geringeres als Miss Louise Pesel (eine authentische historische Figur) weist sie in die Stickkunst ein, die nach und nach zur Leidenschaft wird - und beruhigend auf sie wirkt.... Die Treffen, die teilnehmenden Frauen, Gilda Hill (die später Violets Freundin werden sollte), Dorothy Parker und die beliebte Miss Pesel wie die strenge und unerbittliche Miss Biggins sind so charakteristisch portraitiert, dass man sich alle sehr bildhaft vorstellen kann; ebenso wie die beschriebene Kunst des Stickens.


    Mit einer weiteren Hauptperson in diesem zauberhaften Roman, Arthur Knight, erlebt man eine weitere Kunstfertigkeit, das Glockenläuten. Violet ist der Glöckner überaus sympathisch, wenn auch älter als sie selbst und sie sucht seine Nähe. So besucht der Leser den Glockenturm der Kathedrale in Winchester und ist ebenso wie Violet erstaunt über die Kunstfertigkeit und die Konzentration, die für die verschiedenen Glockenschläge nötig sind. Die Erläuterungen zum Glockenspiel fand ich ebenso interessant wie die Darstellungen der Stickkunst; auch Arthur ist eine auch für den Leser sympathische Figur, da er Violet die Möglichkeit gibt, zu wachsen und sich zu entfalten; auch eine Spielart menschlicher Liebe und Zuneigung.


    Man wandert mit Violet durch malerische Landschaften, durch Wald, Feld und Wiesen und ist erstaunt über ihren Mut, denn alleinstehende Frauen hatten es in dieser Zeit nicht leicht: Da viele Männer im 1. Weltkrieg fielen, gab es in England einen "Frauenüberhang"; auch Violets Verlobter Laurence fiel im Krieg, ebenso wie ihr ältester Bruder George. Tracy Chevalier gelingt es sehr gut, die Situation dieser Frauen in der Person von Violet zu zeichnen; besonders gefiel mir die mutige und sensible Violet, die selbstbewusst einen Weg für sich sucht, ein unabhängiges und erfülltes Leben führen zu können: Viele Steine mussten dafür aus dem Wege geräumt werden, aber Violet ist von dem Gedanken beseelt, etwas Bleibendes zu schaffen: Ein Sitzkissen oder ein Klingelbeutel, der sie überdauert und in der Kirche, von ihr bestickt, von Hand zu Hand gereicht wird. Diesen Gedanken fand ich wundervoll - und war wohl auch das Motiv von Louise Pesel, die überaus gut gezeichnet wird und eine Seele von Mensch gewesen sein muss.


    Es geht im Roman (den ich durchaus ins Genre historischer Roman stellen würde) um vielschichtige Themen, die sich um die Zeit in den 30er Jahren ranken: Um Verlust und Schmerz, das Weiterleben, um Veränderung, um Liebe und die Liebe zur Kunst (des Stickens und des Glockenläutens); um den Willen, etwas Bleibendes zu schaffen und etwas Sinnvolles und Positives zu tun: Für die Gemeinschaft und für sich selbst!


    "(...) es geht (dabei) auch ums Nichtdenken. Wir brauchen alle immer mal wieder Beschäftigungen, die uns eine Pause von uns selbst gönnen" (Zitat Arthur, S. 259)


    "Ruhe und Konzentration macht den Kopf frei" (Zitat Violet, S. 263)


    Der Roman hat auch durchaus politische Elemente; etwa wenn Arthur sich (nicht zu unrecht) sorgt, dass ein Herr Hitler 1933 in Deutschland die Macht ergriffen hat - eine Geschichtslektion von englischer Seite aus betrachtet, die durchaus richtig und verständlich ist: Wie Arthur lässt man sich von Miss Pesel nicht wenig staunend den Unterschied zwischen "fylfots" und Hakenkreuzen zeigen und lauscht ihren Erläuterungen zur Symbolik. Violet möchte auf ihre Weise gegen den Faschismus rebellieren und dies in ihrer Stickarbeit zum Ausdruck bringen. Die Stickkissen der Broderinnen sind übrigens noch heute in der Kathedrale in Winchester zu sehen; sie haben aufwändige Muster (Medaillon) mit historischen Persönlichkeiten und Ereignissen; auch wird man im Internet fündig, sie zu sehen!


    Nach einer gemeinsamen Radtour von Violet und Arthur freut man sich über die Veränderungen in Violets Leben, ihre Freundschaft zu Gilda und Dorothy, ihren Großmut und ihre Hilfsbereitschaft - und ihren Eigenwillen!


    Ein Roman der leisen Töne, der Fans historischer Romane verzaubern wird, der Stickerinnen oder kreativen Männern und Frauen ein Lächeln ins Gesicht zaubert, der aber auch feministisch und emanzipatorisch ist (und dies gefiel mir am besten):


    "wozu Frauen erzogen werden - wir sollen geben, dafür sorgen, dass andere es gut haben, ganz egal, wie es uns selbst dabei geht: Es kann ermüdend und undankbar sein, immer nur großzügig zu sein" (Violet, S. 297)


    Ein Lesegenuss, den ich absolut weiterempfehlen möchte! 5* und das erste Lesehighlight 2020! Vielen Dank dafür an die Autorin und die Übersetzerin Anne Rademacher. 5 *


    5ratten:tipp:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Ja, ihr habt es geschafft, ich werde es lesen :growSUB:

    Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.

    Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.”

    (aus: "Die Stadt der träumenden Bücher")



  • Für mich war es auch ein Highlight - ebenso wie danach für meine Freundin und ihre Mutter (wird in ein paar Tagen 87)!


    Übrig geblieben

    ist Violet nach dem großen Krieg, dem bitteren Stellungskrieg im zweiten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, in dem ihr Liebster fiel, ebenso wie ihr großer Bruder. Sie gehört zu der Generation der überschüssigen Frauen und ist allein - auch noch dreizehn Jahre nach diesem Krieg, den wir heute den Ersten Weltkrieg nennen, also zu Beginn der 1930er Jahre und wahrscheinlich für immer. So denkt sie, als sie nach Winchester umsiedelt, um ein neues Leben, fern von ihrer Mutter zu starten. Wobei es geographisch gesehen ein Katzensprung ist, nämlich nicht mehr als 12 Meilen. Aber mit dem Antreten einer neuen Stellung in einer für sie neuen Stadt, in der sie ganz auf sich gestellt ist, beginnt für Violet eine neue Lebensphase, eine, in der sie ganz auf sich allein gestellt ist.


    Um es vorwegzunehmen: sie bleibt es nicht, aber auf ganz andere Art, als sie es vorgestellt oder gar gewünscht hat. Sie erlebt sowohl Liebe als auch Gemeinschaft auf eine ganz neue Art, lernt, sich zu behaupten, aber auch - zu leiden. Sie lernt Menschen kennen, die ihr ein Vorbild sind, solche, vor denen sie sich fürchten lernt und Menschen, die ihre Hilfe brauchen. Und die ihr umgekehrt ebenfalls zur Seite stehen. Und einen liebenswerten Menschen, der ihr Herz voll, aber auch schwer werden lässt.


    Es ist immer wieder herrlich, zu erleben, wie eindringlich Tracy Chevalier in ihr jeweiliges Setting einführt - ich fühle mich jedes Mal wie ein Teil davon. Sie filtert die wesentlichen Faktoren - wie diesmal das Schicksal einer alleinstehenden Frau mittleren Alters - klar heraus und setzt mit ihren Schilderungen packend ein - genau an der richtigen Stelle. Diesmal in den frühen 1930er Jahren im englischen Kleinstadtmilieu, wo es eine ganze Generation übriggebliebener Frauen wie Violet gibt - die Männer blieben zurück auf den Schlachtfeldern von Passchendaele, an der Somme und anderen Schauplätzen des Ersten Weltkriegs.


    Was für ein hartes Leben sie als alleinstehende, immer noch stark benachteiligte Frauen hatten, ist uns heute gar nicht mehr bewusst - Violet hat es mir deutlich gemacht mit ihrem Minigehalt als Schreibkraft, mit dem sie sich kaum über Wasser hält. Um sich einen Urlaub der einfachsten Kategorie leisten zu können, muss sie ihren Bruder um Unterstützung bitten.


    Erfüllung findet sie - man glaubt es kaum - im Sticken von Knie- und Sitzkissen für die Kathedrale von Winchester inmitten einer Gemeinschaft von Frauen, von denen ihr einige zu Freundinnen werden. Und auch sonst erlebt sie Ungeahntes und Unverhofftes in Winchester und um Winchester herum.


    Ein großartiges, ein kraftvolles Buch, das die Frauen und ihren steinigen Weg, den sie im Verlauf der historischen Entwicklungen gingen, feiert. Ich konnte es nicht aus der Hand legen und es wird noch lange in mir nachhallen.

    5ratten

  • Valentine

    Hat den Titel des Themas von „Tracy Chevalier - Violet“ zu „Tracy Chevalier - Violet/A Single Thread“ geändert.
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    Violet ist 38 und hat es vor kurzem endlich geschafft, aus ihrem Elternhaus auszuziehen. Nach dem Tod ihres Vaters konnte sie ihre ewig missgestimmte, nörglerische Mutter einfach nicht mehr ertragen, der man es nie recht machen kann, und obwohl sie sich die Miete für ein möbliertes Zimmerchen in Winchester buchstäblich vom Mund absparen muss, ist sie froh über dieses kleine Stückchen Unabhängigkeit. Ansonsten passiert nicht viel in Violets Leben, und die Hoffnung auf einen Partner hat sie schon lange aufgegeben. Seit ihr Freund Laurence im 1. Weltkrieg gefallen ist, der auch so viele andere junge Männer das Leben gekostet hat, gehört sie zur "Generation Frauenüberschuss" und glaubt kaum, dass sich daran noch etwas ändern wird.


    Durch Zufall stößt sie auf einen Verein von Stickerinnen, die für die Kathedrale von Winchester kunstvolle Knie- und Sitzkissen herstellen. Die "Cathedral Broderers" wirken zunächst wie eine verschworene Gemeinschaft, in die man als Außenstehende nur zögerlich aufgenommen wird, doch es dauert gar nicht so lange, bis Violet sich dort mit der nicht auf den Mund gefallenen Gilda anfreundet, und bald sind die Stickereitreffen ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens.


    Über die Broderers lernt Violet auch die "bellringers" der Kathedrale kennen, die Männer, die per Hand auf kunstvolle Weise zu festlichen Anlässen die Glocken läuten, noch so eine oft vor fremden Blicken verschlossene und dabei faszinierende Welt, und es entsteht eine besondere Freundschaft zwischen ihr und dem Glöckner Arthur Knight, der sie in die Grundzüge seines Hobbys einweiht.


    Die Handlung klingt zusammengefasst schrecklich unspektakulär und fast schon hausbacken, aber "A Single Thread" ist keine fade Geschichte über eine alte Jungfer, die in erbaulichen Tätigkeiten im kirchlichen Umfeld ihre Erfüllung findet, ganz im Gegenteil. Tracy Chevalier gelingt in ihrem für mich bisher besten Buch ein behutsam und voller Einfühlungsvermögen gezeichnetes Porträt einer Frauengeneration, die es auf ganzer Linie nicht leicht hatte, weil die Emanzipation noch in den Kinderschuhen steckte, Frauenstimmen selten gehört wurden, nach dem Krieg auch noch die Partnerwahl massiv erschwert war und trotzdem von Frauen nicht mehr erwartet wurde, als brav zu heiraten, Kinder zu kriegen und den Männern nicht die Jobs wegzunehmen.


    Wie Violet ihr Leben immer mehr in die eigenen Hände nimmt, sich von ihrer grässlichen Mutter und der einen oder anderen verspießerten Moralvorstellung abnabelt und mit tatkräftiger Unterstützung durch ihre neu gewonnenen Freunde beiderlei Geschlechts (und manchmal auch durch Auseinandersetzungen mit ihnen) ihren ureigenen Weg findet, hat mich sehr berührt, und dass man als Dreingabe noch viel über die Stickarbeiten in der Kathedrale und über die Kunst des Glockenläutens erfährt, ohne dass die Themen die Handlung erschlagen, fand ich ebenfalls sehr schön.


    Ein Buch der eher leisen Töne, aber ganz und gar nicht ohne erzählerische Kraft.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Hach ne, ich muss es endlich lesen.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 91


    Gesamt seit März 2007: 1012

  • Anne : davon werde ich Dir sicher nicht abraten ;)


    Alice : "Der Glocken Schlag" habe ich kürzlich auch empfohlen bekommen, als ich von diesem Buch hier erzählt habe. Ich muss mal, wenn ich etwas Zeit habe, auch bei Youtube suchen, wie das Wechselläuten klingt.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Hier sieht und hört man die "bellringers" aus Winchester. Hat was (vor allem, wenn man aus dem Buch weiß, worauf man achten muss)!

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen