Katherine Webb - Das verborgene Lied

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    Originaltitel: A Half Forgotten Song


    Worum es geht

    Nach der Trennung von seiner Frau wendet sich Zach, Betreiber einer wenig erfolgreichen Kunstgalerie, endlich wieder einem seiner vernachlässigten Projekte zu. Für sein Buch über den Maler Charles Aubrey möchte er weitere Einblicke in dessen Leben und Werk gewinnen. In der Hoffnung, noch Unbekanntes über den von ihm verehrten Künstler zutage zu fördern, reist er für seine Recherchen nach Dorset.
    Hier hatte der Maler mit seiner Familie in den 1930-er Jahren mehrere Sommer verbracht, und viele seiner bedeutendsten Bilder geschaffen. Sein bevorzugtes Modell war ein Mädchen aus dem Dorf, Dimity Hatcher, Mittie, die sich mit seinen beiden Töchtern angefreundet hatte.
    Zu Zachs eigener Verwunderung lebt die nun 87-jährige Mittie bei bester Gesundheit immer noch in ihrem Cottage, und ist sogar bereit, mit dem jungen Mann über Charles Aubrey zu sprechen. Im Laufe der Zeit vertraut sie Zach Unglaubliches an, Geheimnisse, die jahrzehntelang in ihrem Innersten verschlossen blieben.
    Auch das Verhalten von Mitties Nachbarin Hannah, zu der sich Zach sehr hingezogen fühlt, gibt ihm immer wieder Rätsel auf. Doch Zach ist entschlossen, endlich die ganze Wahrheit ans Tageslicht zu bringen.


    Meine Meinung

    Im Gegensatz zu anderen Meinungen vermochte mich Katherine Webb mit ihrer Geschichte von Anfang an vollkommen zu fesseln. Möglicherweise liegt eine Ursache dafür auch in der Vortragsweise der Sprecherin Anna Thalbach, die mit ihrer ausdrucksvollen Stimme auch über weniger ereignisreiche Passagen hinwegträgt und Langeweile erst gar nicht aufkommen lässt.
    Der Autorin ist es meiner Meinung nach hervorragend gelungen, die beiden Zeitebenen, auf denen sie ihre Geschichte spielen lässt, miteinander zu verbinden, wobei mir der in der Vergangenheit angesiedelte Handlungsstrang weit besser gefallen hat als der gegenwärtige.
    Ganz großartig zeichnet Katherine Webb ihre Figuren, schildert sie so realistisch und lebendig, dass ich sie alle bildlich vor mir sehen konnte. Die Charakterisierung der Protagonistin Dimity Hatcher ist ihr hervorragend gelungen. Sowohl als junges Mädchen als auch als alte Frau ist mir selten eine Hauptfigur untergekommen, die mir so von Herzen unsympathisch war wie diese Mittie. Wie sie sich immer mehr in das Leben der Familie Aubrey drängt und sich in eine Zukunft hineinträumt, die jeder realen Grundlage entbehrt, konnte ich mir nur mit ihrer lieblosen Kindheit erklären. Ihre verzweifelte Sehnsucht nach Zuwendung, nach Liebe und Geborgenheit rechtfertigt natürlich nicht, wozu sie sich schließlich hinreißen lässt, und doch will mir kein anderes Motiv dafür einfallen. Mit der schmuddeligen alten Frau, die blutige Rinderherzen in den Kamin hängt und sich ihrer roten Handschuhe wohl niemals entledigt, konnte ich erst recht nicht sympathisieren.
    Und doch bezeugen gerade solche facettenreiche Charaktere mit ihren wenig liebenswerten Eigenschaften in meinen Augen das große schriftstellerische Talent der Autorin. Dazu gehört auch Mitties Mutter, die als Wahrsagerin, Kräuterfrau und Prostituierte ein kärgliches und freudloses Dasein fristet.
    Umso deutlicher konnte Katherine Webb den Kontrast zur Familie des Malers Charles Aubrey herausarbeiten. Seine Lebensgefährtin Celeste ist eine marokkanische Schönheit, die für den Geliebten alles aufgegeben hat. Aber auch ihren beiden behüteten und wohlerzogenen Töchtern ist sie eine liebevolle und fürsorgliche Mutter. Und selbst für die kleine Dimity, die Charles so gerne zeichnet, hegt sie zärtliche Gefühle, bis sie erkennen muss, in welchen Wahn sich die Heranwachsende zunehmend hineinsteigert.
    Viel Herz legt Katherine Webb aber auch in so manche ihrer Nebenfiguren. Mitties einziger Verehrer, ein alter Schulfreund, der sie seit Kindertagen liebt, und der sie gerne geheiratet hätte, hat mir in seiner schüchternen Anhänglichkeit und lebenslangen Treue sehr gut gefallen.
    Mich konnte der Roman sowohl inhaltlich als auch sprachlich völlig überzeugen. Flüssig geschrieben, eignet er sich nicht nur zum Selberlesen, sondern ist auch als Hörbuch der reinste Genuss.
    Dass die Autorin am Ende ihrer Geschichte vielleicht mit des Rätseln Lösungen eine Spur zu dick aufgetragen hat, kann meine Begeisterung nicht dämpfen. Allein für so viel Fantasie muss es schon die volle Punktezahl geben. Davon abgesehen ist die Umsetzung einer bezaubernden Idee wirklich hervorragend gelungen, und ich durfte mich für 16 Stunden 41 Minuten in ganz andere Zeiten und Welten entführen lassen.

    Besonders berührt hat mich der letzte Satz, der in Anlehnung an Charles häufige Aufforderung zu verstehen ist, Mittie solle in einer bestimmten Position verharren, damit er sie so zeichnen könne: „‘Mittie, nicht bewegen!‘ Und das tat sie auch nicht, nicht einmal um zu atmen.“

    Nicht zuletzt möchte ich noch einmal die beeindruckende Leistung der Sprecherin Anna Thalbach hervorheben. Sie versteht es nicht nur großartig, den Figuren durch ihr Intonation zusätzliches Leben einzuhauchen, sondern auch Lesetempo und Stimmlage den jeweiligen Erfordernissen des Textes hervorragend anzupassen.


    5ratten:tipp: