Jonathan Coe - Middle England

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    Benjamin Trotter lebt alleine in einer alten Mühle, die er liebevoll renoviert hat, und schreibt an seinem Lebensprojekt, einem ellenlangen Mammutroman, nicht sicher, ob er ihn jemals veröffentlichen wird. Seine Ehe ist gescheitert, er lebt recht zurückgezogen, und seine Hauptaufgabe besteht neben dem Schreiben darin, sich um seinen alternden Vater zu kümmern, dessen Lieblingsbeschäftigung darin besteht, über Politik, Gesellschaft und generell "die da oben" zu wettern.


    Benjamins Nichte Sophie verliebt sich Hals über Kopf in Ian, der die Verkehrssicherheitsschulung hält, die sie zur Strafe für eine Fahrt mit überhöhter Geschwindigkeit absolvieren muss. Nach nicht allzu langer Zeit sind die beiden verlobt und wenig später verheiratet, etwas, das Sophie eigentlich nie als ihr Lebensziel gesehen hat, und immer deutlicher treten die Unterschiede zwischen dem bodenständigen, eher traditionell denkenden Ian und der liberal-künstlerisch angehauchten Sophie zutage. Ganz zu schweigen von Ians Mutter, die nur zu gerne über Ausländer und andere von ihr sehr ungeliebte Bevölkerungsgruppen herzieht.


    Benjamin, Sophie und ihre Angehörigen und Freunde stehen in diesem Roman exemplarisch für die vielen und oft sehr gegensätzlichen gesellschaftliche Strömungen, die Großbritannien in den acht Jahren der Handlung (2010-2018) prägen: auf der einen Seite aufgeklärte, moderne, offene Kosmopoliten, für die Herkunft und sexuelle Orientierung keine große Rolle mehr spielen, und auf der anderen Seite die Kritiker der globalisierten Welt in der ganzen Bandbreite von den tatsächlich Benachteiligten bis zu den Wutbürgern, die Parolen nachbeten, ohne sie wirklich zu hinterfragen, und der (vermeintlich) guten alten Zeit nachtrauern.


    Zu Beginn wirkt das alles manchmal ein bisschen sehr didaktisch aufgebaut, als habe Coe auf Teufel komm raus alles unterbringen wollen: Rassismus, Sexismus, Homophobie, Globalisierungskritik und und und. Seine Charaktere sind aber deutlich mehr als bloße Träger irgendwelcher Botschaften, und mit der Zeit fügen sich der Anteil des Gesellschaftsporträts und die Geschichten der Protagonisten an sich immer nahtloser ineinander, je mehr sich die Lage in Gesellschaft und Politik in Richtung Brexit zuspitzt. Sicherlich (bzw. hoffentlich?) überzeichnet Coe hier und da die Naivität vor allem bei den politischen Akteuren, den Alltagsrassismus und die unreflektierte Zustimmung einer breiten Masse zu fragwürdigen Ansichten hingegen hat er wohl leider nicht übertrieben.


    Ein hochinteressantes und süffig geschriebenes Buch, das den Finger in einige Wunden unserer Zeit legt und nicht nur gut unterhält, sondern auch durchaus zum Nachdenken anregt.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Es hat sich dann irgendwann geklärt, wieso der Einstieg in Jonathan Coes Middle England bei mir so ein bisschen "geholpert" hat - immer wieder mal kam ich mir vor, als hätte ich vielleicht irgendwas überlesen und habe ein paar Mal sogar zurückgeblättert..

    Auch die Art, wie die "jenseits von mittelalte" Hauptperson Benjamin Trotter eingeführt wurde, war irgenwie eigenartig - man hatte keine Chance, langsam mit ihm warm zu werden. Die Vorstellung neuer Personen begann immer wieder mit relativ unelegant erscheinenden Kurzzusammenfassungen ihrer gemeinsamen Geschichte mit "Ben" - kurz, da wich Vieles von der kunstvollen Art der Darstellung ab, die ich aus What a Carve up! (Allein mit Shirley) gewohnt war.

    Nach einer Weile aber fing das Buch dann an, handlungsmäßig Fahrt aufzunehmen und hat ab da dann wirklich Spaß gemacht. Eine so zeitnahe gute literarische "Verwertung" aktueller politischer Ereignisse bekommt man selten, und Coe stellt seine Personen differenziert und glaubwürdig da. Bis auf den Schluss (der fast etwas zu sehr nach Happy End schmeckt - aber auch das hat wohl seinen Grund..) stolpern viele der Personen, obwohl meist eher privilegiert, eher durch ihr Leben - und die Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, haben meist mit der "aktuellen politischen Stimmung" zu tun.


    Warum mir Einiges so.. merkwürdig unvollständig vorkam, hat sich für mich geklärt, als ich gemerkt habe, dass es sich bei Middle England "eigentlich" um den dritten Teil einer Buchreihe handelt, die der Autor, wie er später im Anhang angibt, "eigentlich" schon zur Seite gelegt und nur der "aktuellen Ereignisse" wegen doch wieder aufgegriffen hat.

    Das erste Buch (The Rotters' Club) beschreibt die Jahre von Benjamin und den meisten Personen, die in Middle England auftauchen, in den 70er Jahren an der Uni - hier sind wohl viele der Fäden zwischen den Einzelnen gesponnen worden, die sich durch "einführende Kurzfassungen" eben doch nie völlig ersetzen lassen. (Es spricht durchaus für die Kunst des Alters, dass sich dieses Handikap im Laufe des Buches dann oft auflöst.. ;) ). Der Nachfolgeband, der einige Jahre später spielt, war dann wohl nicht so richtig erfolgreich - vielleicht der Grund, warum Coe seine Personen dann erst mal "zur Ruhe gebettet hat"..?!


    Ich könnte mir vorstellen, den ersten Band der Reihe vielleicht irgendwann auch mal zu lesen und denke, eine andere Lesereihenfolge hätte wahrscheinlich bewirkt, dass ich besser mit diesem Buch(anfang) "zurechtgekommen" wäre - obwohl man es zweifellos auch "stand alone" lesen kann: Alle fehlenden wirklichen Infos werden ja durchaus gegeben, nur die "gewisse Verbindung" fehlte mir eben zuweilen.


    Falls jemand schwankt, würde ich ihm die englische Originalversion empfehlen - nicht nur haben sich gewisse "Übersetzungsklöpse" wiederholt, sondern es liegen immer mal wieder Vokabeln so knapp daneben und die ganze Eleganz von Coes Stil kommt nicht ganz "rüber".


    Klang das jetzt zu "meckerig"?? :/

    Es ist ein gutes Buch :thumbup:, und eigentlich habe ich es auch gern gelesen (lohnt sich auf jeden Fall!) - aber zwischen ihm und mir lagen wohl die beschriebenen Umstände, darum möchte ich es hier auch nicht "beratten".

    Einmal editiert, zuletzt von Alice ()

  • Dass das Buch in übersetzter Form etwas "leidet", kann ich mir gut vorstellen, Coe hat so einen feinen britischen Stil, der schwer in andere Sprachen zu bringen sein dürfte.


    Dass es die Fortsetzung der Fortsetzung des "Rotters' Club" ist, wurde mir auch erst später klar, wobei ich nicht unbedingt das Gefühl hatte, dass mir etwas fehlt. Ich fand den Anfang nur ein bisschen zu vollgepfropft mit aktuellen gesellschaftlichen Schwerpunktthemen, aber das hat sich mit der Zeit gelegt, als ich mit den Charakteren etwas wärmer wurde.


    Die anderen beiden Bände möchte ich aber trotzdem noch lesen. Zufällig habe ich gestern einen Guardian-Bücherpodcast gehört, in dem es um "Middle England" ging. Coe hat da unter anderem berichtet, dass Benjamin Trotter so was wie sein literarisches Alter Ego ist und einiges Autobiographische in seiner Geschichte enthalten ist.


    Der Dauerclinch der beiden Kindergeburtstagsclowns aus diesem Buch hier ist übrigens auch aus der Realität entnommen :breitgrins:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • So, nun habe ich die Trilogie beendet. "Middle England" hat mir grundsätzlich auch gut gefallen, auch wenn der "historische" (weil es ja fast buchstäblich erst gestern war) Hintergrund natürlich super deprimierend war. Aber gleichzeitig auch hübsch gemacht, dieses "na das wird man doch noch sagen dürfen" und "political correctness" als Ausrede für das eigenene Scheitern, das dann geballt zu einer verhängnisvollen Lawine wird. Obwohl, jetzt warte ich fast auf den Covid-Roman Coes, wobei der dann wahrscheinlich definitiv ZU deprimierend wäre, denn unsere Freunde werden langsam alt.


    Was das Personal in diesem Buch betrifft, war es mir eindeutig zu viel Sophie, deren Eheprobleme mich einfach nicht sonderlich gefesselt haben. Ich hätte es interessanter gefunden, wenn Coe ihren Jobproblemen mehr Aufmerkamkeit gewidmet hätte, dass ausgerechnet sie, eine kluge, liberale junge Frau durch eine unbedachte Aussage in massive Schwierigkeiten gerät. Und, ist vielleicht gemein, aber ich fand Sophie nicht annähernd so interessant wie die Elterngeneration, die wir bereits seit "The Rotters Club" begleiten. Erstaunlicherweise habe ich vor allem den unsympathischen Onkel Paul vermisst!


    Aber wie von Anfang an ist Benjamin der Kitt, der alles zusammen hält und ich fand es sehr nett, dass Coe im Nachwort erzählt, dass ihm selber gar nicht so bewusst war, in "The closed circle", dass Benjamins definierende Beziehung nicht die zu Cicely war, sondern zu seiner Schwester Lois und dass er das untersuchen wollte. Das schließt auch hier wunderschön einen Kreis, ganz besonders am Ende.


    PS: Das mit den Clowns scheint tatsächlich weit verbreitet zu sein! Da musste ich an das hier denken, aus den Dreharbeiten zu Oasis' Video von "Wonderwall".

    Zitat

    The clowns are in there because…well I needed another element – simple as that. On the day the two clowns got into a huge fight because they were both told they would be the only clown on set – and you know how clowns are when they find they’ve been double-booked.


    http://www.oasis-recordinginfo.co.uk/?page_id=577

  • Obwohl, jetzt warte ich fast auf den Covid-Roman Coes, wobei der dann wahrscheinlich definitiv ZU deprimierend wäre, denn unsere Freunde werden langsam alt.

    Huh, ja ... den könnte ich wohl frühestens in 10 Jahren vertragen ... obwohl er das sicher auch gut machen würde.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Obwohl, jetzt warte ich fast auf den Covid-Roman Coes, wobei der dann wahrscheinlich definitiv ZU deprimierend wäre, denn unsere Freunde werden langsam alt.

    Huh, ja ... den könnte ich wohl frühestens in 10 Jahren vertragen ... obwohl er das sicher auch gut machen würde.

    Ich habe mir das nur gedacht, weil durch Covid die ganze Brexit-Geschichte ein bisschen verwässert wurde, so dass die wahren Folgen jetzt vielleicht nicht so klar ersichtlich sind und die XXX die ihnen das eingebrockt haben, wohl wieder damit durchkommen werden. Das zu untersuchen wäre vielleicht ganz interessant. Aber ist vielleicht besser, denen, die es bekommen haben, ihr Happy End zu lassen.

  • Das wäre mit Sicherheit spannend zu lesen (auch wenn ich persönlich dazu lieber ein bisschen Abstand hätte, bis ich's lese).


    Oder er schreibt mit anderen Protagonisten über das Thema, dann können die hier ihr Happy End behalten ;)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Das wäre mit Sicherheit spannend zu lesen (auch wenn ich persönlich dazu lieber ein bisschen Abstand hätte, bis ich's lese).


    Oder er schreibt mit anderen Protagonisten über das Thema, dann können die hier ihr Happy End behalten ;)

    Das war mir sogar mit Brexit eigentlich noch zu nahe. Aber ich hatte Lust und GSD haben mich die netten Leute ein bisschen getröstet. Nach 3 Büchern bin ich definitiv verknallt in den wundervollen Benjamin, eine Ikone der Introvertierten. :)

  • Nach 3 Büchern bin ich definitiv verknallt in den wundervollen Benjamin, eine Ikone der Introvertierten. :)

    Teil 1 und 2 habe ich ja noch vor mir, aber mir ging es ähnlich. Ich konnte so vieles so gut nachvollziehen ... und seine Schreib-Mühle hätte mir auch gefallen!

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    Leonard Cohen