Benjamin Myers - Offene See

Es gibt 9 Antworten in diesem Thema, welches 1.577 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Enid.

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    Dieser bewegende, berührende, poetische und lyrische Roman von Benjamin Myers war für mich ein wahrer "Glücksgriff", denn er zählt zu den bedeutendsten Büchern bis dato 2020 und zu meinen "Jahreshighlights".

    Erschienen ist der (HC, gebunden) Roman 2020 im Dumont-Verlag. Einen herzlichen Dank möchte ich auch dem genialen Übersetzerpaar Ulrike Wasel und Klaus Timmermann aussprechen!


    England, 1946:


    Benjamin Myers entführt den Leser in die unmittelbare (und davon noch sehr geprägte) Nachkriegszeit in Nordengland. Genauer gesagt in ein Dorf, in dem Robert Appleyard geboren wurde und in einer Bergarbeiterfamilie aufwuchs. Um der Enge und dem Mief des ihm vorgezeichneten Weges zu entfliehen, entscheidet er sich für eine Wanderung, die ihn ans Meer, zur "offenen See" bringen soll, das er unbedingt sehen möchte. Hier wird bereits der Freiheitsdrang des 16jährigen Protagonisten überdeutlich, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass er sich mit diesem Akt von den Fesseln seines alten Lebens, die ihn auf - jedoch nicht von ihm - festgelegte Ziele trimmen sollten, befreit und einen anderen (Lebens)weg einschlagen sollte....


    Kurz vor seinem Ziel folgt er einer Sackgasse in einer abgelegenen Bucht, die zu einem Cottage führt: Hier lernt er eine ältere Frau, Dulcie Piper, kennen, die am Ende dieses unscheinbaren Weges mit ihrem Hund Butler lebt: Solch' eine unkonventionelle, unverheiratete, kluge Frau hat er bisher noch nicht getroffen und ihre Art, ihre Ansichten beeindrucken ihn zutiefst. In den zahlreichen gemeinsamen Gesprächen, denen man als Leser lauscht, eröffnet sich Robert - der sich entscheidet, eine Hütte auf dem Gelände des Cottage zu renovieren und ihr für die "Verpflegung", die für die Nachkriegszeit in köstlichen Gerichten mündet, die er zuvor noch nicht kostete, damit zu danken, eine neue Perspektive und eine Welt, die er nicht kannte:


    "Man braucht ein bisschen Farbe im Leben, selbst wenn sie illusorisch ist. Und das Leben ohne Aroma ist tot." (Dulcie) DAS sind die Sätze, die einen als Leser sehr berühren, der nur ein Beispiel für viele andere kluge Sätze und Lebensweisheiten von Dulcie sind. Der Roman benötigt nicht viel Personal, Robert, Dulcie und deren Dialoge und Handlungen reichen vollkommen aus, um zu bezaubern: Die Sinneseindrücke der Natur, die Wildblumenwiese, die Landschaft werden für Robert - und auch für den Leser zum "Sinnenschmaus", der sehr bildhaft und gefühlvoll erzählt wird. War Robert eigentlich "auf der Durchreise" und wollte "die Bucht runter", so wird klar, dass er durch die Bitte eines Fischers - und auch durch sein Vorhaben, die Hütte zu renovieren, die früher ein Atelier war, länger bleiben wird.


    Die Faszination von Dulcie, die als intelligent, klug, lebenserfahren, empathisch, sprachgewandt, freiheitsliebend mit einer Abneigung jeglicher Autorität, trinkfest und heroisch definiert werden kann, überträgt sich anhand der Dialoge nicht nur auf Robert, dem sie förderlich zur Seite steht, ihm eine Welt zeigt, die er zuvor nicht kannte (Musik, Literatur, Romantik, Lyrik), sondern sie fasziniert auch immer wieder den Leser. (Jedem Jugendlichen würde ich eine solche Dulcie nur wünschen können, die exemplarisch dafür steht, wieviel Kraft in förderlichen Beziehungen zwischen Menschen steht).


    Den geheimnisvolleren Teil der Geschichte nimmt die Zeit ein, in der das Atelier noch unversehrt war und in dem gemalt wurde: Dulcie kannte eine deutsche Dichterin, deren Gedichte Robert dort findet und sie liest: An einem brandyseligen Abend erzählt Dulcie von dieser Frau, die quasi eine Schlüsselrolle in dem Roman einnimmt, in dem es um Freundschaft, Kunst und Leidenschaft, aber auch Schmerz und Verlust sowie Authentizität geht, die über Pflichterfüllung und Gehorsam gehen (sollten).


    Fazit:


    Durch eine tief berührende, bildhafte und poetische Sprache gelingt es Benjamin Myers, das nördliche England in der Nachkriegszeit wieder auferstehen zu lassen: Eine herrliche Landschaft tut sich vor dem inneren Auge auf, in der ein 16jähriger seinen Weg ins Leben sucht. Ein Roman, der sehr stimmig und wundervoll erzählt zum Ausdruck bringt, wie wichtig es ist, Förderung durch wohlgesonnene menschliche Beziehungen zu erfahren, ohne eine Gegenleistung zu verlangen: In diesem Roman ist es zudem so, dass beide Protagonisten sich gegenseitig "wecken" konnten: Während Robert erlebt, wie sehr ihn Literatur, Musik und auch die Natur inspiriert, stellt sich Dulcie den eigenen Schatten der Vergangenheit und kehrt zurück ins Leben. "Offene See" ist ein Roman, der mich sehr begeistern konnte und den ich absolut für lesens- und empfehlenswert erachte, daher erhält er von mir die volle Punktzahl!


    Sehr bemerkenswert im Nachwort/der Danksagung des Autors fand ich auch den Umstand, dass dieser Roman größtenteils mit Stift und Papier in einer Bibliothek verfasst wurde; den "Hütern des Wortes" ist er somit u.a. auch gewidmet. Schön!


    5ratten:tipp:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

    Einmal editiert, zuletzt von Sagota ()

  • Da Du so enthusiastisch beginnst, lese ich mal nicht weiter. Das Buch ist nämlich kürzlich bei mir angekommen.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 91


    Gesamt seit März 2007: 1012

  • Bei Nordengland und Bergarbeiter beiße ich sofort an, verdammt. ^^ (beliebte Breizutat bei mir :elch: )

    Wegen des Preises landet es aber erst mal nur auf der Wunschliste. 8)

    Viele Grüsse,

    Weratundrina :verlegen:


    Help me, help me ~ Won't someone set me free? ~ There's no right side of the bed ~ With a body like mine and a mind like mine

    ~ IDLES ~


  • Über das Buch und begeisterte Stimmen dazu bin ich jetzt schon mehrmals gestolpert. Mich reizen die "Zutaten" auch enorm.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Es IST auch wirklich eine wundervolle Geschichte und fantastisch geschrieben. Mein Expl. ist schon weitergewandert, sonst hätte ich es euch als Wanderbuch gerne ausgeliehen :winken:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Wenn das so ein schönes Buch ist, "muss" ich es vielleicht sogar besitzen ;)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





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    REZENSION – Ein belletristisch seltener Genuss ist der im März bei Dumont veröffentlichte Roman „Offene See“ des englischen Schriftstellers Benjamin Myers (44), weshalb man dem Verlag zu diesem Glücksgriff nur gratulieren kann. Es ist vor allem die in romantischen Bildern berauschende Sprache, die diesen ersten in deutscher Übersetzung erschienenen Roman des zuvor schon mehrfach ausgezeichneten Autors so fasziniert und berührt, weshalb auch den Übersetzern Klaus Timmermann und Ulrike Wasel für dieses literarische Erlebnis zu danken ist.

    Nicht nur sprachlich, auch in seiner Handlung versetzt uns der Roman „Offene See“ gefühlsmäßig ins Zeitalter der Romantik, als sich im 19. Jahrhundert heranwachsende Kavaliere auf ihre Grand Tour, ihre kulturelle Bildungsreise durch Europa, begaben. „Ich blieb stehen, um meine Feldflasche am Straßenrand an einer Quelle zu füllen, die in einen Steintrog plätscherte, und kam mir vor, als hätte ich ein Gemälde betreten.“ Doch der 16-jährige Robert Appleyard ist weder Kavalier noch lebt er im 19. Jahrhundert. Myers Geschichte spielt in Nordengland im Jahr 1946, also kurz nach Kriegsende. Der 16-jährige Schulabsolvent scheut die Enge seines augenblicklichen Lebenshorizonts und die Schlichtheit seines dörflichen Lebens sowie den allen Männern seiner Familie vorbestimmten grauen und tristen Alltag als Bergarbeiter. Er sehnt sich nach Weite, nach farbenprächtiger Natur, nach dem noch undefinierbaren Neuen, weshalb er sich auf die Wanderung zur offenen See aufmacht.

    Doch noch bevor er die offene Küste erreicht, trifft er abseits der Straße auf ein heruntergekommenes Cottage, dessen schon ältere Bewohnerin Dulcie ihn zum Tee einlädt. Aus einem Nachmittag werden Wochen. Robert bringt den verwilderten Garten der alleinstehen Frau, dessen hochgewachsene Hecken die Sicht auf das Meer versperren, wieder in Ordnung. In diesen Sommermonaten wird die unverheiratete Dulcie, die sich nach erlebnisreichen Reisen und abenteuerlichem Leben in die Einsamkeit ihres Cottages zurückgezogen hat, in ihrer burschikosen und unkonventionellen Art zur Lehrmeisterin des jungen und noch unerfahrenen Robert. Nicht selten überrascht sie ihn mit ihren ungewöhnlichen Ansichten zur Lebensführung, mit ihrer drastischen und offenen Art, Dinge beim Namen zu nennen.

    Dulcie gibt ihm ungeachtet seiner begrenzten schulischen Bildung die Klassiker der Weltliteratur, Gedichte und Romane, zu lesen, von denen manche wie „Lady Chatterley’s Lover“ von D. H. Lawrence nur zensiert oder unter dem Ladentisch zu bekommen waren. In langen Gesprächen schärft sie Roberts Blick für das Wesentliche im Leben und ermuntert ihn vor allem, seinen Neigungen zu folgen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Ich lebte das Leben, das ich leben wollte“, erinnert sich Robert später als alternder Schriftsteller.

    Myers Roman „Offene See“ ist eine Lobeshymne auf das wahre Leben und dessen schöne Seiten, auf eine breitgefächerte kulturelle und humanistische Allgemeinbildung. Mit der romantisch-bildhaften und klangvollen Sprache seines zauberhaften Romans gelingt es dem Autor – und den beiden Übersetzern –, ähnlich wie im Falle Robert Appleyards gleichsam Musik und Farbe auch in unseren oft grauen Alltag zu bringen.

  • Danke, Kirsten! Mir war doch so, als hätten wir dazu schon einen Thread ...

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Das ist ein ganz tolles Buch und ich fange daher gleich mit der Empfehlung an: Unbedingt lesen!


    Es passiert nicht viel, die Handlung ist schnell erzählt, aber es braucht auch nicht viele Ereignisse. Die Atmosphäre und die Sprache reichen aus.

    Daher fällt meine Meinung auch kurz aus, ich teile die Begeisterung der vorangehenden Beiträge.


    Die Reise des jungen Robert und vor allem seine Zeit bei Dulcie, der Alltag, die Ausflüge ans Meer, Dulcies Geheimnisse und ihre Abenteuerlust... sehr gerne habe ich die beiden begleitet und viel zu schnell war der Sommer vorbei und das Buch zu Ende. Dieser Sommer hätte auch für mich noch länger dauern dürfen.

    "Offene See" ist ein feines Buch, das eher zufällig auf meinem Lesestapel landete. Gut, dass es jetzt endlich an die Reihe kam.

    Und das nächste Werk des Autors wanderte gleich auf meine Merkliste.