Hannah Kent - Wo drei Flüsse sich kreuzen/The Good People

Es gibt 7 Antworten in diesem Thema, welches 879 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Valentine.

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    Originaltitel: The Good People


    Das ländliche Irland, 1825: Nóras Mann stirbt überraschend und sie bleibt mit dem behinderten Enkel allein zurück. Der 4-jährige spricht nicht, schlägt oft um sich und seine Beine sind gelähmt. Als Hilfe holt sie sich die 14-jährige Mary vom Gesindemarkt, doch auch zu zweit sind die beiden oft überfordert und die Gerüchte am Brunnen, dass der Junge ein Wechselbalg sei, schlagen Wurzeln in ihren Gedanken. Als letzten Ausweg suchen sie die Heilerin Nance auf, sie soll den echten Jungen aus dem Feenreich zurückholen.


    „Wo drei Flüsse sich kreuzen“ ist ein ungemein düsteres Buch. Ich mochte es oft einfach nicht weiterlesen, weil ich es nicht ertragen habe. Alle sind in ihren Sorgen gefangen, es geht darum, genügend Essen und Heizmaterial zusammenzubekommen, um einfach nur zu überleben und genügend Geld, um die Pacht zu bezahlen, damit einem nicht das Haus über dem Kopf abgerissen wird. Jeder im Dorf denkt zunächst an sich und Zusammenhalt gibt es meist nur oberflächlich, jede Möglichkeit zu Tratsch und Missgunst wird genutzt. Aberglaube ist tief verwurzelt und selbst der Priester predigt von der Kanzel gegen Flüche als Teufelswerk.


    Meine Hauptstimmungen beim Lesen waren Wut und Mitleid. Das sorgt nicht unbedingt dafür, dass einem ein Buch gefällt, so gut es eigentlich auch sein mag. Beeindruckend war es aber, empfehlen möchte ich es deshalb trotzdem.


    4ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

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    Wir befinden uns in Irland um 1825, in einer ländlichen Gegend an einem Fluss, und das Buch beginnt mit einer tragischen Szene: Nóras Mann Martin ist bei der Arbeit tot zusammengebrochen und wird von zwei Nachbarn zu ihr nach Hause gebracht. Nóras Verzweiflung angesichts dieses urplötzlichen Verlusts ist förmlich zu greifen, sie realisiert erst nach und nach, was das wirklich bedeutet, und wie sie sich zu ihrem toten Mann ins Bett legt und noch eine letzte Nacht an seiner Seite verbringt, gehört wohl zum Herzzerreißendsten, was ich jemals gelesen habe. Sie erinnert sich an die kleinen Vertrautheiten, die in einer langjährigen Ehe so selbstverständlich sind, dass man sie kaum noch wahrnimmt, die aber gerade die Schwere des Verlusts deutlich machen, wenn man erkennen muss, dass man sie nie wieder erleben wird :heul:


    Bei Nóra und Martin lebt auch der kleine Micheál, der Enkel der beiden, dessen Mutter vor nicht allzu langer Zeit gestorben ist und der geistig und körperlich behindert zu sein scheint. Bevor Nachbarn, Freunde und Verwandte zur traditionellen Totenwache kommen, lässt Nóra den Kleinen aus dem Haus bringen, weil sie es nicht ertragen kann, dass er immer von allen angestarrt wird.


    Zur Totenwache taucht dann auch ein unerwarteter Gast auf, die alte Nance, die sehr naturverbunden lebt, an Naturgeister wie die "good people" (im Deutschen wohl das "Kleine Volk", Feen und Elfen und Kobolde und so) glaubt und anscheinend auch so etwas wie das Zweite Gesicht hat. Zumindest behauptet sie, Martins Tod vorhergesehen zu haben - der auch noch an einer Stelle eingetreten ist, die als verrufen gilt, nämlich einer Wegkreuzung, wo Selbstmörder begraben wurden. Kein Wunder, dass Nance schon fast als Hexe gilt.


    Das Buch ist wundervoll atmosphärisch und entführt in eine urtümliche Welt voller Aberglauben. Einer der Werbe-"Blurbs" vor Beginn des Buches vergleicht es mit "The Wonder" von Emma Donoghue, das etwas später in ähnlicher Umgebung spielt, da ist bisher wirklich was dran.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Deine Beschreibung macht mir gerade richtig Lust darauf, dass Buch zu lesen. Mir gefiel Das Seelenhaus der Autorin schon ausgesprochen gut. Dann will ich dieses mal nicht mehr all zu lange im Regal warten lassen.

  • Mir gefiel Das Seelenhaus der Autorin schon ausgesprochen gut.

    Mir auch, auch wenn ich zuerst nachsehen musste, warum mir der Name so bekannt vorkam. Deshalb bin ich auch gespannt, was du über das Buch berichtest.

    Into the water I go to lose my mind and find my soul.

  • Das "Seelenhaus" hat mich der Beschreibung nach bisher nie so 100% gereizt, aber wenn Hannah Kent das, was mir bisher so gut gefällt, bis zum Ende durchhält, werde ich es früher oder später sicher doch lesen.


    Leider bin ich gestern kaum zum Lesen gekommen, aber ich freue mich schon sehr darauf, wieder zum Buch greifen zu können.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • @ Valentine,

    das "Seelenhaus" hat eine ganz eigentümlich, ruhige Atmosphäre, finde ich. Am Schluss heult man, aber erst auf den letzten Seiten. Bis dahin gibt es ein paar "Ausreißer", aber größtenteils ist der Reiz des Buches mMn, dass trotz einer eigentlich dunklen, hoffnungslosen Stimmung und trotz Armut, Schimmel, Kälte, schwerer Arbeit, Neid eine ruhige, zufriedene Stimmung herrscht. Jedenfalls kam das bei mir so rüber.

    ___________


    "The good people": Sehr interessantes Buch. Das erste Kapitel nahm mich so gefangen, dass ich noch mal nachlesen musste, worum es eigentlich ging, weil man nach dem ersten Kapitel vermutet, dass es eher um die Trauer um den Ehemann gehen würde.

    An dem Buch fand ich wirklich genial, dass so nebenbei dem Leser ein paar Dinge bewusst gemacht werden, etwa, wie man in dieser Zeit mit Alzheimer oder Demenzkrankheiten umging und was für Missverständnisse es dabei (und beim Umgang mit andereren Behinderungen) geben könnte.


    Beeindruckend fand ich aber vor allem, dass man erst am Schluss merkt, dass man das Buch doch nicht mit der Sichtweise der Protagonistin/en gelesen hat, sondern seine moderne Einstellung nicht ablegen konnte. Das letzte Kapitel war für mich wirklich, wirklich überraschend, so überraschend, dass ich zurückgeblättert habe und geschaut habe, ob ich etwas falsch verstanden hatte. Erst da fiel der Groschen, wie die Sichtweise/ das Weltbild der Protaginistin wirklich ist und wie viel man tatsächlich nicht über sie verstanden hatte.


    Ich muss allerdings sagen, als jemand mit einem geistig behinderten Bruder fiel es mir schwer, die "Behandlungen" des Kindes zu lesen, insbesondere eine Szene, in der beschrieben wird, wie Micheál einen Kommunikationsversuch unternimmt, vermutlich auf die einzig ihm mögliche Weise, der so dermaßen grausam falsch verstanden wird, dass das Kind danach vermutlich keinen Kontaktversuch mehr unternehmen wird.


    Das Buch macht auch für moderne Leser sehr deutlich, was passieren kann, wenn man etwas nicht versteht und sich selbst eine Erklärung bastelt, die auf einer Wertung basiert. Ist das Kind böse, besessen oder einfach behindert? Und wenn es behindert ist (oder jemand dement), ist es dann noch das Kind oder nur die Behinderung oder kann man, wie hier ja angenommen, beides trennen und das Kind zurückbekommen, indem man die Behinderung tötet?


    Ich denke, das ist heutzutage immer noch bei einigen Menschen ein Thema, wenn es um Demenz und ähnliche Erkrankungen geht. Da ist der Betroffene dann plötzlich in den Augen nahestehender Personen nicht mehr er selbst, sondern die Erkrankung, und es ist okay, wenn man ihn ignoriert, dirigiert, anschreit oder abpöbelt ("jetzt halt doch mal die Mule!/ Ja, das hast du schon hundertmal erzählt, sei jetzt still!"). In dem Buch wird sehr schön beschrieben, wie so ein Gedanke entlasten kann. Man muss sich nicht mehr damit auseinandersetzen, wie es dem Betroffenen geht und wie man einen Zugang zu seiner Welt findet, sondern spaltet einfach seine Krankheit/ Behinderung ab und legt sich so sein bequemes Weltbild zurecht. Ich denke, das haben wir heute noch nicht alle überwunden.


    LG von

    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • Damals war das grundsätzliche Verständnis für Behinderungen noch viel weniger ausgeprägt als heute, aber beim Umgang damit gibt es natürlich immer noch viel Luft nach oben.


    Ich habe gestern leider nur wenige Seiten weitergelesen, aber mir hat es ziemlich leid getan zu lesen, wie Nóra mithören musste, wie sich zwei Verwandte über sie und den Kleinen das Maul zerreißen :(

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Valentine

    Hat den Titel des Themas von „Hannah Kent - Wo drei Flüsse sich kreuzen“ zu „Hannah Kent - Wo drei Flüsse sich kreuzen/The Good People“ geändert.
  • Bei diesem Buch treffen ausnahmsweise einmal der deutsche UND der englische Titel ins Schwarze. An der Stelle, "wo drei Flüsse sich kreuzen", spielt eine Schlüsselszene des Buches, und "The Good People" ist die Bezeichnung der irischen Landbevölkerung für die Bewohner des Feenreiches, die hier eine wichtige Rolle spielen.


    Aber der Reihe nach: Nóra Leahy ist am Boden zerstört, als man ihren Mann Martin tot nach Hause bringt. Er ist aus heiterem Himmel einfach bei der Feldarbeit zusammengebrochen, ausgerechnet in der Nähe einer Wegkreuzung, wo Selbstmörder begraben werden. Der Verlust ihres geliebten Mannes ist für Nóra eine Katastrophe, die unselige Krönung einer Reihe von Schicksalsschlägen. Zuerst starb ihre Tochter, dann brachte ihr Schwiegersohn den kleinen Enkel Micheál zu den Großeltern, weil er ihn alleine nicht versorgen konnte und das einst völlig gesunde Kind plötzlich die Fähigkeiten zum Sprechen und Gehen verloren hat.


    Während der Totenwache versteckt Nóra den Kleinen bei den Nachbarn, sie schämt sich seiner und hat Angst vor den Bemerkungen der Freunde und Verwandten. Die alte Kräuterfrau Nance, die sich nebenher auch als Klageweib betätigt, kommt in letzterer Eigenschaft ins Haus, um Martins Tod zu bejammern, und erfährt durch Zufall von Micheáls Zustand. Sie glaubt zu wissen, was mit ihm los ist, und immer mehr ist auch Nóra überzeugt, dass es sich bei dem Jungen gar nicht um ihren Enkelsohn handelt, sondern um einen Wechselbalg, den die Feen zurückgelassen haben, nachdem sie Micheál in ihr Reich entführt haben.


    Die junge Magd Mary, die Nóra kurz nach Martins Begräbnis als helfende Hand eingestellt hat, wird entsetzt zur Mitwisserin der fragwürdigen Methoden, die Nance und Nóra anwenden, um das unerwünschte Feenkind loszuwerden und den wahren Micheál zurückzuholen.


    Ähnlich entsetzt wie Mary ist man auch als moderner Mensch beim Lesen dieser befremdlichen und dabei unendlich traurigen Geschichte. Nóra und Nance handeln nicht aus Bosheit, sondern weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. Nance, die vor allem dem Pfarrer wegen ihres Kräuterwissens ein Dorn im Auge ist, hegt keine niederträchtigen Absichten, sie möchte helfen und glaubt zu wissen, was hinter der schweren Behinderung des kleinen Jungen steckt, und Nóra ist so verzweifelt, durch den Tod ihres Mannes aus der Bahn geworfen und mit Micheáls Pflege überfordert, dass sie nichts mehr hinterfragt.


    Beide Frauen sind tief in ihrer Zeit verwurzelt mit ihrem Glauben an eine von boshaften Wesen bevölkerte "Anderswelt" und wissen sich nicht anders zu helfen, können sich Micheáls Zustand nicht rational erklären und greifen zu den wenigen Mitteln, die ihnen Erfolg zu versprechen scheinen. Hannah Kent schildert die tragischen Ereignisse mit viel Einfühlungsvermögen, erweckt das karge Landleben in Irland zu Beginn des 19. Jahrhunderts atmosphärisch zum Leben und bleibt in ihrem Erzählton dabei neutral und wertfrei.


    Die Leser*innen müssen sich selbst ihr Urteil bilden, ob sie Verständnis dafür aufbringen wollen oder können, wie Nóra und Nance aus Unwissenheit und Aberglauben mit dem armen Micheál umgehen.


    Auf düstere Weise faszinierend und trotz des ruhigen Tonfalls nichts für Zartbesaitete.


    Schade nur, dass die verwendeten gälischen Begriffe nicht in einem Glossar erläutert werden.


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen