Ray Bradbury. Der Lesethread

Es gibt 127 Antworten in diesem Thema, welches 13.268 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Aeria.

  • "Sechsundsechzig", 2003


    Der Ich-Erzähler ist Polizist und patrouilliert entlang der Route 66. Eines Tages findet er an verschiedenen Stellen des Highways seltsam gekleidete Leichen. Bald darauf begegnet er nach einem Staubsturm einem Mann in einem klapprigen Auto, der ihm erzählt, er habe die Menschen getötet.


    Was will uns Bradbury mit dieser Erzählung sagen? Erst dachte ich, die Opfer seien aus einer Zeitmaschine gefallen oder so. Aber der Autofahrer hat eine noch merkwürdige Erklärung für die Toten, dass man am Ende überhaupt nichts mehr versteht. In welche Richtung bewegt sich Bradbury hier? In Richtung Mystik und Paranormales? Oder ist der Täter geisteskrank und denkt sich das Ganze aus? Oder hat der Polizist Wahnvorstellungen?

    Wir werden's vielleicht nie erfahren.


    ***

    Aeria

  • "Die Aprilhexe" (The April Witch - 1953)


    Eine zarte, märchenhafte Geschichte um die junge Hexe Cecy, die Kraft Ihrer Magie fähig ist sich in jedes Lebewesen, aber auch jeden unbeseelten Gegenstand hineinzuversetzten. Wie ein Atom oder ein Gedanke, schlüpft sie in den Wind, ein Blatt, einen Vogel oder auch einen Kiesel, behält dort aber ihr Selbst, beobachtet und nimmt Anteil.


    Zitat:

    "In die Luft hinaus, über die Täler, unter den Sternen hin, über einen Fluß, einen Weiher, eine Straße flog Cecy. Unsichtbar wie junge Frühlingswinde, frisch wie der Hauch des Klees, der über den Feldern der Dämmerung aufstieg, flog sie ( .... )

    Es ist Frühling, dachte Cecy."


    Wie es eben bei jungen Mädchen so ist will sie sich verlieben. Ihre Eltern warnen sie, sie darf sich nicht in einen "normalen" Mann verlieben, sonst verliert sie Ihre Magie - doch Cecys Sehnsucht und ihre Neugier sind groß. Eines Tages entdeckt sie ein junges Mädchen an einem Brunnen und schlüpft in sie hinein. Ann ist aber vom Typ her völlig anders als Cecy und will auch nicht so wie die junge Hexe sich das denkt. Diesmal beobachtet Cecy aber nicht nur.


    Die Geschichte erinnert ein wenig an die Anfänge von "Die kleine Meerjungfrau", aber Bradbury nimmt nichts vorweg, entwickelt nur die Ahnung von Tragik oder von Glück, es ist nur ein Anfang, alle Wege sind offen. Er überläßt es letztlich dem Leser und seiner Phantasie die Geschichte fortzuschreiben.


    Mir hat die Geschichte ganz besonders gut gefallen, Phantasie anregend, märchenhaft, poetisch. :schmetterling:

    Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.

    Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.”

    (aus: "Die Stadt der träumenden Bücher")



    8 Mal editiert, zuletzt von Firiath ()

  • "Eine Frage des Geschmacks", 1952


    Das ist die Erzählung, wegen der ich mir diesen Bradbury-Band zuerst vorgenommen habe. Sie wurde von den Buchblogger*innen meines Vertrauens mehrfach lobend erwähnt. Entsprechend hohe Erwartungen hatte ich.

    Was soll ich sagen: Oh oh. Peinlich. Hätte ich diese Kurzgeschichte vor 8 Jahren gelesen, hätte ich meine eigene "Im Regen"-Geschichte an einigen Stellen geändert. Um nicht des Plagiats bezichtigt zu werden. Die Ähnlichkeit einiger Details ist unübersehbar. Zwei Dumme, ein Gedanke, wie man so schön sagt.


    Die Geschichte wird aus der Sicht einer riesigen (größer als ein Mensch) Spinne erzählt. Sie, also in diesem Fall ein Er, lebt mit seinen Artgenossen auf einem paradiesischen Planeten. Seine Art ist uralt, hochintelligent, friedlich und freundlich. Sie haben sich vor Äonen dagegen entschieden, ins Weltall vorzudringen, und genießen einfach nur ihr Leben in ihren Netzen. Als ein fremdes Raumschiff auf dem Planeten landet und seltsame Zweibeiner aussteigen, freut sich der Ich-Erzähler auf die Begegnung mit einer neuen Spezies. Die Zweibeiner allerdings kriegen das Kotzen (buchstäblich) beim Anblick der Riesenspinne.


    Eine sehr schöne und zugleich sehr traurige Geschichte. Die Unvereinbarkeit der Lebenseinstellungen, die Fixierung auf das Äußere, die Unfähigkeit zur Anpassung, all das ist hier Thema. Die Riesenspinne hat am Ende ein ungutes Gefühl, was die Menschen angeht, und leider hat sie damit recht. Dies wird nicht gezeigt, nur angedeutet, aber wir Menschen können nicht aus unserer Haut, also muss Bradbury nicht deutlicher werden.


    Eine ebenfalls gute Spinne-Mensch-Geschichte ist "Die Kinder der Zeit" von Adrian Tchaikovsky. Der Roman wird zum Großteil aus der Sicht der Arachniden erzählt. Das ist zugleich beängstigend wie faszinierend.

    Bradbury macht es kürzer und verzichtet auf ein Happy-end. "Eine Frage des Geschmacks" ist wie erwartet eine der bisher besten Kurzgeschichten in "Der Katzenpyjama".


    ***

    Aeria

  • Aeria

    Jetzt interessiert mich diese Kurzgeschichte natürlich besonders, nachdem ich ja Dein "Im Regen" so gern mochte !

    "Die Kinder der Zeit" hat einer meiner Söhne schon gelesen und es mir auch empfohlen (nicht ohne sich ein Schmunzeln verkneifen zu können). Problem: Bei Spinnen bin ich auch auf das Äußere fixiert :angst::lachen: Ich konnte mich noch nicht so richtig dazu aufraffen. Als Kurzgeschichte bestimmt kein Problem, aber ein ganzes Buch über Spinnen als Protagonisten, wie intelligent sie auch sein mögen ?! Naja... aber mal schaun.



    ***


    Die Wildnis - The Wilderness (1953)


    Eine Geschichte die ich schon kannte, weil sie auch Teil der 2008'ter Ausgabe der "Marschroniken" ist. In den deutschen älteren Ausgaben ist sie nicht mit enthalten.


    Erzählt wird von den Schwestern Janice und Leonora, die kurz davon stehen auf den Mars auszuwandern. Es wird von ihren letzten Tagen auf der Erde berichtet, davon wie schön die Welt die sie umgibt plötzlich erscheint, wie vertraut alles ist, wie sehr sie sie vermissen werden und welche Angst die Dunkelheit des Weltraums Ihnen macht, der Sprung ins Unbekannte.


    Zitat:

    "(...) eine Stadt (...) unberührbar und schon ein Traum, in ihren Augen bereits verwischt durch Sehnsucht und ängstliche Erinnerung, die einsetzte, noch bevor die Dinge selbst verschwunden waren. "


    Sie erzählt auch von dem inneren Zwiespalt vor dem man steht bevor man eine schwerwiegende Entscheidung tatsächlich in die Tat umsetzt - Soll ich wirklich oder lieber doch nicht ? Der Moment in dem noch alle Möglichkeiten offen sind, bevor eine Tür sich schließt, während man durch die andere geht.

    Die Situation wird (von den beiden Frauen und dem Autor) verglichen mit der Besiedelung Amerikas während der ebenfalls Frauen den bereits vorausgegangen Männern in ein fremdes Land gefolgt sind um dort eine Familie zu gründen und ein neues Leben zu beginnen.


    Ebenfalls eine sehr schöne Geschichte in der es verschiedene Facetten zu entdecken gibt; mit einem besonders für eine der Frauen hoffnungsvollen Ende.

    Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.

    Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.”

    (aus: "Die Stadt der träumenden Bücher")



    2 Mal editiert, zuletzt von Firiath ()

  • Ich weiß gar nicht, wie man zweifeln kann, wenn man die Chance hat, auf den Mars auszuwandern :sabber:. Gebt mir ein Raumschiff und ich düse sofort hin. Ist zwar 'n bisschen staubig dort, aber hey, es ist der Mars!

    Diese Kurzgeschichte begegnet mir vielleicht auch noch.


    Gerade habe ich "I Get The Blues When It Rains (Eine Erinnerung)" gelesen, eine Erzählung aus 1980. Es ist keine fiktive Geschichte, sondern eine Erinnerung von Bradbury an einen Abend vor 30-40 Jahren. Schriftstellerfreunde treffen sich, um sich gegenseitig ihre Gedichte und Geschichten vorzulesen. Jemand beginnt, auf dem Klavier herumzuklimpern, und plötzlich singen alle. Bradbury und seine Freunde trinken und musizieren bis in die Nacht hinein. Er erinnert sich mit Wehmut und Freude an diesen Abend.

    Ganz am Anfang der Erzählung steht, dass jüngere Leser*innen gar nicht weiterzulesen brauchen, denn die beschriebenen Personen und die Musik sind aus einer Zeit lange vor ihrer Geburt. Habe ich natürlich trotzdem getan. Zwar habe ich keinen einzigen Namen, den Bradbury nennt, erkannt, und von den Songs kenne ich nur zwei, höchstens drei, an der Schönheit der Erinnerung ändert das aber nichts.

    Für Bradbury war jener Abend einmalig und magisch.

    Sehr poetisch!


    ***

    Aeria

  • "All meine Feinde sind tot", 2003


    Das ist eine Erzählung, die nur aus einem Dialog besteht. Walter, der Freund des Ich-Erzählers erfährt durch eine Todesanzeige vom Ableben seines letzten Feindes. Nun hat er keinen Grund mehr weiterzuleben. Er legt sich hin und will sterben, denn es gibt kein Feuer des Hasses mehr in ihm. Dieses Feuer hat ihn jahrelang am Leben erhalten.

    Der Ich-Erzähler kann das nicht zulassen. Er berichtet Walter von den vielen Dingen, die er diesem im Laufe er Zeit angetan hat, ohne dass Walter je Wind davon bekommen hat. Jetzt kann Walter wieder jemanden hassen und wird wohl noch lange leben, weil der Hass ihm Kraft gibt.


    Eine recht putzige Geschichte. Die Idee hat was, die Ausführung ebenfalls. Es wird nicht explizit erwähnt, ob die schlimmen Taten, die der Ich-Erzähler beichtet, wirklich stattgefunden haben. Ich vermute, er hat alles frei erfunden, um seinen Freund anzustacheln.


    ***

    Aeria

  • Heut hab ich gleich 3 auf einen Streich :)

    Die Früchte am Grund der Schale (The Fruit at the Bottom of the Bowl - 1948)Eine nicht phantastische, eher psychologische Geschichte. Die Geschichte setzt ein als William Acton bewußt wird, daß er einen anderne Mann in dessen Haus getötet hat. Wahrscheinlich steht er unter Schock, fängt aber an sich fieberhaft zu überlegen wo überall seine Fingerabdrücke zu finden sind und fängt an diese wegzuwischen, dies entwickelt sich zu Obsession, ist plötzlich alles worauf er sich konzentriert. Die sich immer mehr verwirrende Gedankenwelt des Mannes, das Hineinsteigern, das Entwickeln einer fixen Idee aus seiner inneren Sicht wird wirklich gut beschrieben.


    ***


    Unsichtbarer Junge (Invisible Boy - 1945)


    Obwohl so eine Art "Hexe" vorkommt ist es keine phantastische Geschichte. Die Hexe, "Old Lady" genannt, ist wohl auch eher eine etwas sonderbare alte, vielleicht schon ein wenig verwirrte Frau, die allein und sehr einsam in einem Haus auf dem Land lebt. Auf etwas verworrene Art hat sie plötzlich Gesellschaft von einem Jungen, Charlie, der entfernt mit ihr verwandt ist. Erst findet sie ihn lästig, dann wünscht sie sich er möge bleiben und erfüllt ihm einen Wunsch. Charlie möchte unsichtbar werden und sie gibt ihm ihren "Unsichtsbarzauber", den sie gemeinsam herstellen. Problem ist, daß sie eigentlich nicht wirklich zaubern kann und so tut sie nur so, als ob er unsichtbar wäre.


    Aus dieser ganze Konstellation entwickelt sich eine etwas skurile Geschichte, bei der man auch immer mal wieder ins Schmunzeln kommt und die am Ende dann aber doch sehr traurig ist.


    ***


    Die Flugmaschine (The Flying Machine - 1953)


    Diese Geschichte spielt im alten China, in der Nähe der großen chinesischen Mauer. Der Kaiser entdeckt daß einer seiner Untertanen einen optisch wunderschönen Flugapparat entwickelt hat und damit herrlich anzusehen durch die Lüfte fliegt. Er bewundert ehrlich die Schönheit, erkennt die Tragweite dieser Erfindung und das Potential sofort und trifft sehr schnell eine drastische Entscheidung.


    Zitat:

    "Aber es gibt Zeiten," sagte der Kaiser noch trauriger, "da man ein bißchen Schönheit aufgeben muß, um das bisschen Schönheit, das man schon hat zu behalten."


    Die Geschichte thematisiert das Dilemma von Entdeckungen und Erfindungen die gleichermaßen Segen und Fluch sein können auf sehr einprägsame Weise.

    Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.

    Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.”

    (aus: "Die Stadt der träumenden Bücher")



    5 Mal editiert, zuletzt von Firiath ()

  • Ich habe "Der Katzenpyjama" beendet.

    Die letzten beiden Erzählungen habe ich gestern gelesen. Also, eigentlich eine gelesen, die andere überflogen.


    "Der Komplettist", 2003-2004


    Aus dem Text dieser Kurzgeschichte geht nicht hervor, ob es sich um eine weitere Erinnerung von Bradbury oder um eine fiktive Geschichte handelt.

    Ein Ehepaar lernt 1948 auf einer Schiffsreise über den Atlantik einen Mann kennen, der pausenlos von seiner Sammelleidenschaft redet. Er spricht ohne innezuhalten, lässt die beiden kein Wort einwerfen, keine Fragen stellen. Er sammelt Bücher, ganze Bibliotheken davon, weltweit. Offenbar ist er sehr reich, denn er berichtet von seinem großen Grundstück, auf dem er eine Universität hat erbauen lassen, deren vielen Gebäude mit Büchern gefüllt sind.

    Ganz zum Schluss, nachdem er bereits die Rechnung bezahlt hat, stellt er eine Frage, mehr an sich selbst gerichtet, die seine Getriebenheit erklärt.


    Ich denke mal, wir kennen alle jemanden, der pausenlos redet, oder? Deshalb kann man sich an einigen Textstellen die Faszination und Ratlosigkeit des Ehepaars gut vorstellen. Die letzten paar kurzen Absätze sind dann eher traurig.


    Die letzte Erzählung in diesem Sammelband ist ein Gedicht. "Epilog: Der R. B.- G. K. C. und G. B. S.- Orientexpress in die Ewigkeit", 1996-1997

    Da ich mit Gedichten nicht viel anfangen kann, habe ich es nicht gelesen. Aus den paar Sätzen, die ich beim Durchblättern gesehen habe, geht hervor, dass Bradbury sich fragt, ob er nach seinem Tod den ganz großen Autoren der Vergangenheit begegnen wird, Chesterton, Shaw, Melville etc.


    Abschließend kann ich sagen, dass mir "Der Katzenpyjama" gut gefallen hat. Ich kann nicht eine einzelne Lieblingsgeschichte nennen, deshalb nenne ich mehrere:

    "Eine Frage des Geschmacks", "Das Haus", "Der Katzenpyjama", "Irgendwann vor der Dämmerung".


    4ratten


    Morgen geht es weiter mit "Medizin für Melancholie".


    ***

    Aeria

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    "Medizin für Melancholie", 1959



    Bis auf eine Erzählung (die titelgebende) sind alle bereits früher veröffentlicht worden. In meiner Ausgabe stehen diesmal keine Jahresangaben, aber was soll's. Auch diesen Band lese ich auf Russisch. Es ist ein sehr "billiges" Taschenbuch, hoffentlich fällt es nicht beim Lesen auseinander.


    Auf geht's.


    "Zur warmen Jahreszeit"

    George und Alice Smith machen Urlaub in Frankreich. Während Alice einfach nur die Zeit genießt, ist George unruhig. Mehr als alles andere auf der Welt liebt er die Kunst und zwar die von Picasso. Er weiß, dass der große Künstler nur wenige Kilometer entfernt lebt, und kann ihn doch nicht aufsuchen. Eines Abends kehrt er allein vom Strand zurück, als er einen alten Mann sieht, der mit einem Stöckchen ein Bild in den Sand zeichnet. Es ist Picasso.


    Wow, der frühe Bradbury mir auf jeden Fall lieber als der spätere. Diese kurze Geschichte ist so poetisch, dass man fast in Reimen zu denken beginnt. Das Bild auf dem Sand steht für die Flüchtigkeit des Augenblicks, für die Unmöglichkeit, etwas unermesslich Wertvolles festzuhalten.

    Ein sehr gelungener Einstieg in diesen Erzählband.


    ***

    Aeria

  • Aeria

    In meinem TB "Die goldenen Äpfel der Sonne" waren bisher eigentlich alle Geschichten auf die ein oder andere Weise sehr gut, Gedanken anregend und einige wirklich sehr poetisch und auch berührend. Es war eine der ersten Sammlungen die er veröffentlicht hat, geschrieben wurden alle Geschichten 1953 oder früher.



    Weiter geht es bei mir wieder mit einer Geschichte die mir sehr gut gefiel und die gleichzeitig enorm visionär ist.


    Der Mörder - The Murderer (1953)


    Albert Brock, wird als Häftling von einem Psychologen zu seinen Taten befragt, der Häftling selbst bezeichnet sich als Mörder, angeklagt wurde er aber wohl eher wegen Sachbeschädigung. Den genau das waren seine Taten letztendlich, er "ermorderte" Gegenstände: Radios, Fernseher, Armbandsender, Lautsprecher, kurz ... alles in seiner Umgebung was Lärm macht. Er verliert die Nerven, die ständige Beschallung macht ihn geradezu rasend. Und aufdringliche Geräusche macht in dieser Umgebung praktisch alles, überall spielt Musik, in jedem Raum was anders, es gibt ständige Werbeeinblendungen; Filme und Werbung werden gar auf Wolken projeziert, der Ofen ermahnt einen den Braten zu wenden, das Haus seine Schuhe auszuziehen weil sie schmutzig sind, jeder ist ständig und überall erreichbar (besonders die Ehemänner von den Ehefrauen, was besonders ärgerlich zu sein scheint^^ ) und damit letztlich ständig kontrolliert . Nahezu alle finden das toll, bis auf Brock und eine kleine Minderheit.


    Das Ganze ist natürlich überspitzt, erinnert auf eine "freundlichere" Art an Elemente aus 1984 und vieles passt so gut zu unserer Zeit, läßt einen während des Lesen ständig ungläubig den Kopf schüttelt . Dei ganze Story hat aber auch ein komödiantisches Element, so erstickt Brock einen Autosender mit französischem Schokoladeneis, seiner Lieblingssorte. Es ist herrlich zu lesen welch himmlische Befriedigung ihm das gibt. Von all seinen "Morden" bedauert er eigentlich nur auch den Müllschlucker "getötet" zu haben, der wäre doch eigentlich hilfreich und relativ leise.


    Zitat:
    "Dann ging ich hinein und erschoß den Fernseher, dieses heimtückische Biest, diese Meduse, die starrblickend jeden Abend eine Milliarde Leute zu Stein gefriert, diese Sirene, die rief und sang und so viel versprach und am Ende doch so wenig gab."


    Nach dieser Erzählung, die aktueller ist denn je, genieße ich meine ruhige Umgebung in der ich die meiste Zeit leben darf, wieder besonders.


    Der Arzt hielt inne.
    "Und was geschah dann?"

    "Dann geschah Schweigen. Gott, war das herrlich."

    Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.

    Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.”

    (aus: "Die Stadt der träumenden Bücher")



    2 Mal editiert, zuletzt von Firiath ()

  • Aeria und Firiath, ganz lieben Dank für Eure tollen Leseeindrücke!


    "Something Wicked This Way Comes" war bisher mein einziger Bradbury, aber das fand ich richtig großartig.


    Ich werde mir wohl mal "The Golden Apples of the Sun" auf die Wunschliste schreiben. Alleine schon, weil ich den Titel so schön finde (der ist aus einem Gedicht von Yeats, oder? :gruebel: )

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Valentine

    Wow, das hast Du gleich erkannt ? Ja ist ein Gedicht von Yeats, es heißt "The Song of Wandering Aengus" .

    Am Anfang der alten Diogenes-Ausgabe die ich hier hab ist ein dreizeiliges Zitat aus dem Gedicht und ich hab mir das vollständige Gedicht dann gesucht und hier gefunden. Ein sehr schönes Gedicht <3

    Ich bin auch gerade wirklich sehr begeistert von Bradburys Kurzgeschichten. Von ihm gelesen hatte ich ansonsten bisher vor langer ZEit "Fahrenheit 451" und noch nicht so lang her "Die Mars-Chroniken".

    Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.

    Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.”

    (aus: "Die Stadt der träumenden Bücher")



  • Das ist definitiv etwas für mich!


    Meine heutige Geschichte heißt "Der Drache".

    Zwei Männer unterhalten sich am Lagerfeuer über den Drachen, der in der Gegend wütet. Sie erzählen sich von den Gerüchten, die ihnen über den Drachen zu Ohren gekommen sind. Alles klingt sehr beängstigend. Es ist das Jahr 900 n. Chr. und die Welt ist noch voller Ungeheuer. Die beiden wollen, sofern sich eine Gelegenheit ergibt, das Untier zur Strecke bringen. Und da kommt es auch schon auf sie zu. Es hat ein leuchtendes Auge, pfeift ohrenbetäubend und spuckt Rauchwolken aus. Die Drachenjäger haben keine Chance.

    Unbeeindruckt rast der Drache weiter. Man hört zwei neue Stimmen, die perplex feststellen, dass gerade zwei Männer in Rüstungen direkt auf den Gleisen aufgetaucht und nun offenbar überfahren worden sind. Sie wollen nicht bremsen, denn die Gegend ist ihnen zu unheimlich.


    Mensch, nur 5,5 Seiten und so eine feine Geschichte :herz:. Erst Grusel und dann ein lautes Ahaaaa!


    ***

    Aeria

  • In meinem Regal steht seit 19 Jahren ein Sammelband von Bradbury, 1300 Seiten dick. Er enthält viele Kurzgeschichten, aber auch Bradburys bekannteste Romane wie "Die Mars-Chroniken", "Fahrenheit 451" und "Löwenzahnwein". In diesem Buch habe ich gestern "Der Mörder" gefunden, über den Firiath weiter oben schrieb.

    Was für eine herrliche Kurzgeschichte! In unserer Gegenwart heißen die Geräte zwar anders, trotzdem könnte das beschriebene Szenario auch hier bald Wirklichkeit werden. Mit einer Ausnahme, vermutlich. Wohl kaum jemand würde auf klassische Musik setzen.

    Ich konnte mich ganz leicht in Brock hineinversetzen und seine Abneigung gegen alle nervigen - piepsenden, singenden, sprechenden, klingelnden - Geräte nachvollziehen.

    Schokoladeneis wäre auch meine Wahl :breitgrins:.


    ***

    Aeria

  • Valentine

    Die "Waterboys" kenn ich überhaupt nicht, hab aber in dieses "Yeats"-Album ein wenig reingehört. Gefällt mir gut. Ich mag solche Literatur/Musik-Projekte sehr gern.


    Aeria

    Ich seh beim Gedanken an die "Mörder"-Geschichte immer das sonnige, warme Lächeln von Mr. Brock vor mir, das den Psychiater so irritiert. :sonne:



    ***



    Nächste Geschichte bei mir:


    Der goldene Drache, der silberne Wind (The golden kite, the silver wind , 1953)


    Diese Geschichte spielt wieder im alten China, die Menschen glauben fest an die Bedeutung von Symbolen und Zeichen. Der Mandarin einer Städtchens macht sich Sorgen, weil die Nachbarstadt eine Stadtmauer in Form eines Schweines gebaut hat, seine eigene Stadtmauer hat die Form einer Orange. Ein Schwein frisst eine Orange und die deutet der Mandarin als Zeichen, daß sein Städtchen von der anderen Stadt sozusagen geschluckt wird. Der ganze Ort ist verzweifelt und sieht sich dem Untergang geweiht.

    Heimlich, weil sie als Mädchen in der Öffentlichkeit eigentlich nicht beraten kann, gibt ihm seine Tochter einen Rat: Er solle veranlaßen die eigene Stadtmauer in die Form einer Keule zu verwandeln. Keule erschägt Schwein. Man ahnt wohin das führt.


    Das Ganze kam mir dann ein bisschen wie "Schere, Stein, Papier" in größeren Dimensionen vor. Die Moral von der Geschichte läßt dann aber natürlich auch nicht lange auf sich warten, ewig kann da ja nicht gut gehen.

    Die Lösung des Problem am Ende ist sehr motivierend und stimmt positiv.


    Zum Schmuneln hat mich gebracht, daß die Lösung dann letztlich auch von der klugen Tochter des Mandarin kommt und sie gefeiert wird wie - Zitat: "ein Junge, ein Mann, ein steinernen Pfeiler, ein Krieger und ein echter und unvergeßlicher Sohn" - Tja bei "Mandarins" im alten China war das halt noch so, das größte Lob für die Tochter war, als Sohn bzw. Mann bezeichnet zu werden.


    Insgesamt hat mich diese Geschichte von der Erzählweise an ein klassisches Märchen erinnert.

    Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.

    Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.”

    (aus: "Die Stadt der träumenden Bücher")



  • "Medizin für Melancholie"


    Ein passender Titel für diesen Band, denn die gleichnamige Erzählung ist einfach großartig.

    Im London des Jahres 1762 leider die 19jährige Camilla an einer unerklärlichen Krankheit. Die Ärzte können nicht helfen, die Familie weiß nicht mehr weiter. Camilla vergeht wie eine Kerze. Der kleine Bruder hat schließlich die rettende Idee: Camillas Bett wird vor die Tür gestellt und jeder, der des Weges kommt, kann sich zu der rätselhaften Krankheit äußern. Vielleicht gelingt es ja auf diese Weise, ein Heilmittel zu finden. Ein junger Müllmann macht den Vorschlag, man solle Camilla über Nacht draußen lassen, wo das Mondlicht sie heilen kann. Die Familie ist natürlich nicht begeistert, folgt aber dem Vorschlag. In der Nacht kommt ein Troubadour zu Camilla, um ihr Liebeslieder zu singen und ihr im Mondlicht Gesellschaft zu leisten. Sie erkennt in ihm den Müllmann, lässt jedoch zu, dass er sich zu ihr ins Bett legt, und zusammen lauschen sie der Stille der Nacht.

    Diese Medizin gegen die Melancholie wirkt Wunder. Am nächsten Tag ist Camilla viel munterer und alle sind froh.


    Menno, da kommen mir fast die Tränchen vor Rührung. Eine schöne, romantische Geschichte mit ein wenig schrulligen Charakteren und einem für Bradbury ungewöhnlichen Setting.


    Werde ich nochmal lesen. *zückt einen Sticker*


    ***

    Aeria

  • Ihr lasst Bradburys Kurzgeschichten mit jedem Posting auf meiner Wunschliste höher rücken!

    Die "Waterboys" kenn ich überhaupt nicht, hab aber in dieses "Yeats"-Album ein wenig reingehört. Gefällt mir gut. Ich mag solche Literatur/Musik-Projekte sehr gern.

    Ich mag sowas auch total gerne (kennst Du den zugehörigen Thread hier?)

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • "Ich sie nie sehen" (I see you never - 1953)


    Mr. Ramirez, ein in Los Angeles wohnhafter Mexikaner, muß das Land wieder verlassen, weil sein auf zwei Jahre befristetes Visum bereits vor 6 Monaten abgelaufen ist. Er muß sein Zimmer räumen, welches er bei Mrs. O'Brian gemietet hat. Er hatte außerdem Arbeit, ein Auto, ein gutes Leben in den USA. Mrs. O'Brian lebt wohl allein mit ihren Kindern, von einem Mr. O'Brian ist jedenfalls nie die Rede, vielleicht ist sie Witwe.

    Zwei Polizisten begleiten Mr. Ramirez bereits, als er sich von seiner Vermieterin verabschieden will, um ihn direkt danach zur Grenze zu bringen, seine Sachen mußte er sofort packen. Die ganze Geschichte wird auf der Türschwelle erzählt, während Mr. Ramirez vor Mrs. O' Brian steht, um ihr die Lage zu erklären. Die Polizisten stehen die ganze Zeit dabei, im Hintergrund sitzen ihre Kinder um den bereits gedeckten Tisch."


    In diesen kurzen Moment, packt Bradbury zwei Jahre Leben in Los Angeles, ausreichend Hintergrundwissen um über die Lebenswege von Ramirez und O'Brian zu spekulieren, sehr viele Emotionen, unausgesprochene Gedanken und die Ahnung von verpassten Möglichkeiten, vielleicht sogar von verpasstem Glück.


    Eine nur 4 Seiten kurze Geschichte die viel erzählt und sehr berührt. In ihrer ganzen Komposition grandios <3 . Neben dem menschlichen Aspekt, der Überlegung wie sehr jeder in seinem Leben gefangen ist, obwohl man ja eigentlich Tür an Tür wohnt, behandelt diese Erzählung Migrations- und Intergrationsthemen.


    Diesmal hatte ich am Ende leicht feuchte Augen, "I see you never" , werde ich sicher länger in Erinnerung behalten.



    ***



    Stickerei - (Embroidery 1953)


    Eine sehr dichte und ziemlich drastische Erzählung. Drei Frauen sitzen auf der Veranda und sticken, sie scheinen auf etwas zu warten, die Atmosphäre ist drückend. Mehr passiert im Grunde nicht, die Frauen reden wenig und nur in kurzen Sätzen miteinander, konzentrieren sich hauptsächlich auf ihre Hände und aufs Sticken, auf die Blumen und die Szenen die unter ihren Händen entstehen. Dann und wann ist von einem Experiment die Rede.

    Enorm welche Spannung auf nur 4 1/2 Seiten aufgebaut werden kann. Ich vermute die Geschichte könnte in Zusammenhang mit den häufigen Atombombentests in den 50-er Jahren stehen. Sehr interessante Art das Thema anzugehen.





    ***


    Valentine

    Der Musik/Literatur-Thread ist ja toll, ich kannte den mal, hatte ihn aber vergessen. Werde bestimmt nochmal stöbern demnächst. Danke fürs Erinnern daran :blume:


    Bestimmt kein Fehler deinen SuB um ein paar Bradbury-Stories zu erweitern. Ich bin ja eigentlich nicht so der ausgesprochene Kurzgeschichtenleser, aber die bisher gelesenen von Bradbury begeistern mich wirklich sehr!



    Aeria

    Das ist ja praktisch, wenn Du gleich noch einen Sammelband zum Nachlesen da hast, falls Dich mal eine der Geschichten die hier zitiert werden besonders interessiert.

    Von den Sternen kommen wir, zu den Sternen gehen wir.

    Das Leben ist nur eine Reise in die Fremde.”

    (aus: "Die Stadt der träumenden Bücher")