John Irving - Zirkuskind

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  • dank SUB-Wettbewerb gelesen kommt hier meine Rezi:


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    In seinen Vorbemerkungen betont John Irving, dass „Zirkuskind“ NICHT von Indien handelt. Obwohl der ganze Roman in Indien spielt und typische Motive wie verkrüppelte Straßenkinder, Hippies in Goa, Kastendenken und Überbleibsel des britischen Empire enthalten sind, muss ich dem Autor recht geben, denn all dies bietet nur die Kulisse in der der Roman spielt.
    Auch der Titel ist etwas irreführend, denn der Zirkus bleibt stets im Hintergrund, ist Vergangenheit oder bietet Zukunft für einzelne Figuren, tritt aber nicht selbst in Erscheinung.
    Die Hauptfigur selbst ist auch ein Inder, der keiner ist.
    Dr. Daruwalla ist zwar indischer Abstammung, hat aber in der Schweiz studiert und seine Frau kennen gelernt und ist nur ab und zu einige Monate in Indien, während er eigentlich in Kanada lebt.
    Es gibt einen echten Kommissar und einen Schauspieler, der einen Kommissar auf den Leib geschrieben bekommen hat und einen Jesuiten voller Zweifel.
    Außerdem gibt es noch eine Person deren Geschlecht unklar ist bzw. wechselt und eine Reihe von Morden. Trotzdem ist das Buch gewiss kein Krimi, auch wenn es eine Krimihandlung hat. Nachdem ich nun alles aufgezählt habe, was das Buch nicht ist, fällt es mir schwer zu beschreiben was es denn nun ist.
    Es ist ein Buch darüber, wie verworren die Welt manchmal ist. Erst in der Mitte des Buches hat man all die Fäden in der Hand mit denen Irving seine komplexe Geschichte geknüpft hat und das Buch wird wirklich interessant und gut zu lesen.
    Leider zieht sich dieser interessante Teil nicht bis zum Schluss, das Ende lässt einen leer zurück. Ich hatte mir von diesem Buch mehr versprochen und wäre es mein erster Irving gewesen, wäre es mein letzter geblieben, denn „Zirkuskind“ verspricht einem Inhalt und dann erhält man nur Belanglosigkeiten. Ich konnte zu keiner Figur ein Band knüpfen und mit ihr lachen, weinen oder sonst wie mitfühlen, spannend war es auch kaum und dafür sind knapp 1000 Seiten definitiv zu viel. Schade, Irving kann das definitiv besser.


    3ratten

  • Das war das einzige Buch von John Irving das ich je abgebrochen habe. Mir hat es nämlich überhaupt nicht gefallen.
    Ich weiß nicht mehr genau woran es lag aber unteranderem hat mir irgendwie die Idee der Geschichte ansich nicht zugesagt.


  • [...]Nachdem ich nun alles aufgezählt habe, was das Buch nicht ist, fällt es mir schwer zu beschreiben was es denn nun ist.
    [...]


    Eine sehr gute Beschreibung dieses Buchs, illy, mir würde hier die Einstufung in ein bestimmtes Genre oder eine kurze Inhaltsangabe recht schwer fallen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb zählt "Zirkuskind" zu meinen Favoriten bei Irving. Zum Teil liegt es an der Beschreibung des Dr. Daruwalla, der für mich eine der liebenswertesten Protagonisten ist, die ich kennengelernt habe. Ich mag auch die liebevolle Ausgestaltung der kleinen Details (wahrscheinlich ein Punkt, der vielen nicht gefällt). Und: "Zirkuskind" bringt mich zum Lachen; auch beim erneuten Lesen, oder sogar jetzt, wenn ich nur daran denke, wie z.B. Martin über die Notwendigkeit von Englisch für indische Straßenkinder doziert, wie Dr. Daruwalla sich über den Feuerlöscher neben der Jesusstatue lustig macht, die verrückten Mitteilungen auf seinem Anrufbeantworter...Den Schluss fand ich übrigens besonders schön, weil hier für mich der Eindruck entstand, dass Dr. D., nachdem er so lange unsicher über seine Identität war, endlich weiß, wohin er gehört. Unspektakulär, aber schön :smile:


    Liebe Grüße
    Manjula

  • Zirkuskind


    Dr. Farrokh Daruwalla aus Bombay studierte in Wien und lebt mit seiner österreichischen Frau Julia seit vielen Jahren in Toronto. Er kehrt immer wieder nach Indien zurück und arbeitet dort für einige zeit in einer Klinik für verkrüppelte Kinder, nebenbei sammelt er (überwiegend in Zirkussen) Zwergenblut auf der Suche nach dem mutierten Gen, das den Zwergenwuchs verursacht. Außerdem schreibt Farrokh Drehbücher für Inspektor-Dhar-Filme, eine geschmacklose Bollywood-Produktion. Die Hauptrolle spielt John D., Daruwallas Ziehsohn.


    Der sich nirgendwo zu Hause fühlende Daruwalla ist sehr sympathisch, das Buch plätschert nett mehrere hundert Seiten vor sich hin, auf irvingtypische Art vom Stöckchen zum Hölzchen kommend, ohne dass die Handlung nennenswert fortschreitet. Mit dem Auftauchen eines Massenmörders kommt etwas Schwung in die Geschichte, die durchaus ihre Längen hat.


    Für diesen 970-Seiten-Wälzer muss man in der richtigen Stimmung sein, ich fand das Zirkuskind nett, skurill, stellenweise witzig. Und vor allem hat es mein Interesse geweckt, mich ein wenig über Indien zu informieren, über das ich bisher so gut wie nichts weiß.


    3ratten :marypipeshalbeprivatmaus:

    Bücher sind Magie zum Mitnehmen.

  • Ja, gut, wenn man 970 (sehr gute) Seiten lesen möchte, muss man schon ganz schön lange in guter Stimmung sein. Ich lese die Romane von John Irving sehr gern, dieser gefiel mir besonders. Herrlich skurill, traurig, lustig, zugleich alles eben, ein echter Irving. Wo bleibt sein nächster Roman?
    "Bis ich Dich finde", und nun? Ich feue mich darauf!
    Klara


  • Das war das einzige Buch von John Irving das ich je abgebrochen habe. Mir hat es nämlich überhaupt nicht gefallen.
    Ich weiß nicht mehr genau woran es lag aber unteranderem hat mir irgendwie die Idee der Geschichte ansich nicht zugesagt.


    Ich hab es zwar nicht abgebrochen, aber es war für mich einer seiner schwächsten Romane überhaupt. Und daß er Indien fast gar nicht kennt, war kaum zu überlesen. Nach dem "Zirkuskind", "Witwe für ein Jahr" und "Die Vierte Hand" war ich froh, mit "Bis ich Dich finde" endlich wieder ein John - Irving - Buch zu lesen, daß seiner alten Qualität wenigstens nahekam.

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    John Daruwalla ist zwar in Indien geboren, lebt aber die meiste Zeit des Jahres in Kanada. Der attraktive Arzt hat einige Semester in Wien studiert und dabei seine zukünftige Frau Julia kennen gelernt. Er vereint in seiner Familie viele Nationen, dennoch fühlt er sich nirgends richtig zugehörig. Er freut sich, wieder nach Kanada zu kommen, nachdem er längere Zeit in Indien war, freut sich aber jedes Mal wieder darauf, nach Indien zu fahren, um dort verkrüppelten Kindern zu helfen.


    Daruwalla ist Orthopäde, hat aber einige seltsame Hobbys. Zum einen sammelt er das Blut von Zwergen, weil er den genetischen Marker von Zwergwuchs finden möchte. Zum anderen schreibt er anonym Drehbücher für die Leinwandabenteuer von Inspektor Dhar. Als Genetiker ist er nicht besonders erfolgreich, weil sich die Zwerge meist kein Blut abnehmen lassen wollen. Weil es im Zirkus besonders viele kleinwüchsige Menschen gibt, treibt er sich dort auch häufig herum. Daruwalla liebt die Atmosphäre des Zirkus, viele Erinnerungen verbinden ihn mit den wandernden Artisten. Wahrscheinlich, weil sie ebenso wie er ein Leben auf Wanderschaft führen.


    Mit den Drehbüchern wiederum verhält es sich ganz anders. Die Filme mit Inspektor Dhar erfreuen sich größter Beliebtheit in Indien, weil aber in jedem Film mehrere Bevölkerungsgruppen schlecht weg kommen – seien es die Polizei, Prostituierten oder Zugehörige bestimmter Kasten – ist Dhar neben der meistbewunderten auch die meistgehasste Person des öffentlichen Lebens in Indien. So ist es nur verständlich, dass John D., wie Dhar wirklich heißt, fast das ganze Jahr lang in der Schweiz lebt und arbeitet. Auch er wandert sozusagen. Zum Glück glauben die Inder dem Gerücht, Dhar hätte sich selbst erfunden und auch seine Drehbücher selbst geschrieben, ansonsten wäre Daruwalla wohl schon längst kein so angesehenes Mitglied der Gesellschaft und des exklusiven Duckworth Clubs mehr.


    Als Daruwalla, seine Frau Julia und John D. eines Tages wieder in Indien weilen, ereignet sich eine Reihe von Morden, die auffallend einem Doppelmord ähneln, der vor zwanzig Jahren verübt wurde. Damals wurde Daruwalla an den Tatort gerufen, auch John D. ist in weitesten Sinne in die Geschehnisse verwickelt. Gemeinsam mit Inspektor Patel und dessen Frau Nancy, die vor zwanzig Jahren Zeugin der Morde wurde, machen sich Daruwalla, Julia und Dhar daran, den wahren Mörder zu finden.


    Rund um dieses Handlungsskelett hat Irving einen unbeschreiblichen Roman verfasst. Wie Irving selbst zugibt, war er nur einmal für einen kürzeren Zeitraum in Indien, das heißt, dass wahre Indienkenner wohl bei dem einen oder anderen Detail ein Auge zudrücken werden müssen. Der Leser mit keinen Indienkenntnissen wird sich in einer Welt wiederfinden, von der er Irving glaubt, dass es Indien sein könnte. Beinahe zu plastisch beschreibt er das Leben in den Slums, auf der Straße und in einem krassen Gegensatz dazu das Leben, das die wohlhabenden Ausländer im Duckworth Club führen.


    Der Roman erzählt nicht nur einen Ausschnitt aus dem Leben der Protagonisten, er ist das Leben der Protagonisten. Man fühlt sich mit den Figuren der Geschichte verbunden und ist traurig, als das Buch sich dem Ende neigt. Viele Details und Ausflüge in die Vergangenheit, weitere Handlungsstränge und verschiedene Verwicklungen machen es schwer, den Inhalt korrekt wiederzugeben. Es verhält sich mit der Geschichte fast so wie mit Curry. Es ist eine wohlschmeckende Mischung aus vielen Gewürzen, die zu trennen, wenn sie einmal vermischt sind, sich als eine beinahe unmögliche Aufgabe entpuppt. Den bleibenden Eindruck kann man nur als gelungen bezeichnen.


    Irving hat nicht nur eine Menge Details und Handlungsstränge in einem Buch vereint, sondern spielt auch mit dem Tempo der Geschichte. Viele der Rückblenden kommen in einem eher gemächlichen Tempo daher, weshalb die eigentliche Geschichte zeitweise nicht voran kommt, im Gegenzug dazu gewinnt sie allerdings gegen Ende an Spannung und Fahrt. Neben traurigen Episoden kommen auch durch und durch ironische Szenen und viel Humor nicht zu kurz. Wie in „Hotel New Hampshire“ kommen immer wieder Sätze vor, die sich wie ein roter Faden durch das Werk ziehen, ebenso wie kleine Episoden, die erst gegen Ende des Buches an Bedeutung gewinnen und einigen Metaphern.


    Insgesamt kann man „Zirkuskind“ Lesern wärmstens empfehlen, die ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen mitbringen und auch dazu bereit sind, sich auf ein ganzes Leben vieler sympathischer und sehr dreidimensionaler Charaktere einzulassen. Keine literarische Schonkost und auch kein literarisches Fast Food, sondern wohl eher das Festessen unter den Werken zeitgenössischer Autoren.
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    Taschenbuch: 969 Seiten
    Verlag: Diogenes Verlag; Auflage: 8., Aufl. (Oktober 2000)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3257229666
    ISBN-13: 978-3257229660


    5ratten

  • Dr. Farrokh Daruwalla ist ein Wanderer zwischen den Welten - er lebt schon lange in Kanada, mit seiner österreichischen Frau, die er während seines Studiums in Wien kennengelernt hat, doch er kehrt immer wieder in seine Heimatstadt Bombay zurück, um in einer orthopädischen Klinik zu arbeiten, die sich auf verkrüppelte Kinder spezialisiert hat. Des weiteren ist er Hobbygenetiker und versucht, die Grundlagen der Kleinwüchsigkeit zu ergründen. Bevorzugtes Forschungsobjekt sind, da er sowieso eine Vorliebe für den Zirkus hat, zwergwüchsige Zirkusartisten. Von großem Erfolg gekrönt waren seine Bemühungen bislang aber nicht.


    Besser funktioniert hat dagegen Daruwallas zweite Nebentätigkeit als Drehbuchschreiber einer Reihe von beliebten, aber unglaublich schlechten Krimis mit "Inspector Dhar", auch John D. genannt, in der Hauptrolle. Dieser gehört zu den bekanntesten und gleichzeitig meistgehassten Stars des indischen Kinos, denn irgendwie scheinen sämtliche Zuschauer zu glauben, dass er im richtigen Leben auch ein abgebrühter, schürzenjagender Zyniker ist. Daruwalla gehört zu den wenigen Menschen, die John D. einigermaßen gut kennen. Und beide Männer gehören dem altehrwürdigen Club in Bombay an, auf dessen Golfplatz eines Tages ein Toter gefunden wird. Ermordet. Bei ihm wird eine Botschaft des Mörders gefunden, der verlangt, Dhar aus dem Club zu werfen.


    Der ganze Club ist außer sich, und Daruwalla will unbedingt den Mörder finden, bevor noch mehr passiert.


    Bis wir erfahren, wer der Täter war und was ihn zu dem Mord getrieben hat, vergehen allerdings Hunderte von Seiten, auf denen uns Irving immer tiefer in die Vergangenheit von Dhar und Daruwalla führt. Dabei spielen Transvestiten, Kastraten, Artisten, eine Hippiefrau, ein Doppelgänger und ein Dildo eine nicht unwesentliche Rolle, ebenso wie mehrere Mordfälle aus der Vergangenheit.


    Irving wäre nicht Irving, wenn er hier irgendwelche Blätter vor den Mund nähme. Er serviert dem geneigten Leser einige recht heftige Szenen - wer sich an Blut, Sex und dreckiger Ausdrucksweise stört, dürfte mit dem Buch nicht besonders glücklich werden - garniert mit deftigem Humor, einem großen Schuss Ironie und, quasi trotz alledem, auch einigem Gefühl. Alles hängt hier mit allem zusammen, Details, die anfangs unwichtig erscheinen, bekommen später eine Bedeutung, fallengelassen wirkende Fäden werden viel weiter hinten wieder aufgenommen und das Ganze zu einem runden Abschluss gebracht.


    Auch wenn Irving selbst zu Beginn sagt, es sei kein "Indien-Buch", spielt das Land mit all seinen Besonderheiten dennoch eine wichtige Rolle. Die Handlung könnte in der Form nicht woanders stattfinden.


    Unterm Strich mag ich zwar die Bücher, die in Irvings Heimat spielen, lieber, weil mir das hier teils doch einen Tick zu skurril war, aber dennoch habe ich mich köstlich amüsiert und gut unterhalten und bin froh, dass ich dem Buch noch eine zweite Chance gegeben habe, nachdem ich es vor Jahren nach wenigen Seiten weggelegt hatte. (Damals hätte ich aber auch vieles garantiert noch nicht witzig gefunden :breitgrins: )


    4ratten

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen