Jan Kjærstad, Rand

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  • Ich eröffne hiermit die Leserunde zu einem hoffentlich spannenden und raffinierten Kriminalroman: Jan Kjærstads Rand.


    [size=6pt]Und ich habe das Topic mal zu den Leserunden verschoben. LG Alfa Romea[/size]


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    Jan Kjærstad gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellern Norwegens. Mit seiner Trilogie um Jonas Wergeland (Der Verführer, Der Eroberer, Der Entdecker) ist er auch einem kleineren deutschen Publikum bekannt geworden. Aus Anlass ihres Erscheinens gab es 2002 ein Portrait von Kjærstad in Literaturen.


    Kjærstad hat Theologie studiert und ist ein offenbar gnadenloser Beobachter der modernen norwegischen Gesellschaft. Hier ist auch der Schauplatz seiner Romane.


    Rand spielt im Oslo der 80er Jahre. Eine Serie scheinbar unerklärlicher Morde erschüttert die Hauptstadt. Die Polizei tappt im Dunkeln, nur der Leser weiß, dass der Ich-Erzähler verantwortlich für die Verbrechen ist. Was er nicht kennt, sind Motiv für die Morde und die Verbindung zwischen den Opfern. Dies herauszufinden wird von der Polizei kurioserweise der Ich-Erzähler selbst beauftragt - und dieser bemüht sich tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen, die eigene Psyche zu durchleuchten und einen Zusammenhang aufzutun, wo auf den ersten Blick nur Willkür zu sein scheint.


    Soviel verrät uns der Klappentext.


    Es lesen und diskutieren gemeinsam:


    qantaqa
    Saltanah (liest im norwegischen Original)
    und
    Bartlebooth.


    Gastkommentare sind stets willkommen, vor allem, da zu erwarten und zu hoffen ist, dass der Roman ein hintergründiger ist, in dem nicht nur die Mordmotive des Ich-Erzählers entdeckt werden können.

    Einmal editiert, zuletzt von fairy ()

  • Die Mordmotive sind eigentlich sekundär. Das ist das Besondere an diesem Buch, das ja ein Krimi ist. Viel interessanter sind die nächtlichen Streifzüge des Ich-Erzählers, seine Eindrücke und Assoziationen. Spannend wird das Ganze durch die Verbindungen, die der Mörder zwischen seinen Opfern, die ja willkürlich ausgewählt sind, entdeckt. Die Gespräche, die er vor dem Mord mit den Opfern führt aber auch die Besessenheit, mit der er sich nach der Tat seinen Opfern nähert, sie fast assimiliert.


    Besonders gut hat mir die Beschreibung des Diners in einem Nobelrestaurant, das der Ich-Erzähler zu Ehren seines vierten Opfers dort einnimmt, gefallen. Das war so lebendig beschrieben, dass man das Essen fast riechen konnte.

  • Beim vierten Mord bin ich noch nicht :-), ich habe gerade die ersten drei Kapitel gelesen und eine Menge Fragen und eine Menge Interessantes gesehen.


    Zunächst: kennt eine von euch Oslo? Du, Saltanah? Was hat es mit den Örtlichkeiten auf sich? Gibt es das Projekt "Neues Vaterland" wirklich? Und was sind seine Hintergründe? Vielleicht erfährt man ja auch im Laufe des Buches noch etwas mehr darüber, jedenfalls sollte man das im Auge behalten.


    Ansonsten ist der Ruf Kjærstads als postmodernem Schriftsteller auf den ersten Blick nicht übertrieben. Der Protagonist ist tatsächlich das, was man einen "postmodernen Helden" nennen könnte. Die Blasiertheit, Topos des modernen Großstadtmenschen, wird ins Magische bzw. Spielerische gewendet - sowohl handlungstechnisch (ich denke an die Ritzen in den Steinplatten, auf die er erst nicht, dann unbedingt treten will) als auch sprachlich: Sehr auffällig sind Anmerkungen zur Verschriftlichung seiner Erlebnisse. Permanent schreibt er Dinge auf. Die Funktion dieser Geste ist mir noch nicht ganz klar. Handelt es sich um eine Gedächtnisstütze, eine Ordnungs- oder um eine Archivierungsobsession oder etwas ganz anderes? Der Fortgang des Romans wird da sicher Aufschluss bringen.
    Ebenso interessant die Aussage, es gebe nichts Neues mehr (ein postmoderner Topos), in der Zeitung stünden immer nur Variationen des Bekannten. Ebenso empfindet der Ich-Erzähler seine Platten und das Fernsehen - langweilig, immer das Gleiche.
    Ausnahme hiervon sind Namen (S.29). Auch das ist kein Wunder, denn Namen sind keine gewöhnlichen Zeichen, ihr Referent ist zwar kein Abstraktum, aber auch nicht richtig konkret, Bedeutungserzeugung funktioniert in ihnen schon über Konvention, aber anders als bei gewöhnlichen Wörtern. Namen haben privilegierte Signifikanten, denen per se ein anderer Variationsreichtum und eine andere Tiefe zugestanden wird als den übrigen Wörtern.


    Auffällig auch das permanente Reflektieren der eigenen Sprache ("woher habe ich das Wort Bantam? Es roch wie Ambra, obwohl ich nicht weiß, wie Ambra riecht"). Der Erzähler macht so bewusst, dass die Sprache nur mit Vagheiten operieren kann, dass man sich Wörtern bedient und so ihre Bedeutung festlegt. Gibt es hier schon einen Zusammenhang mit den Morden? Auch bei seinem ersten Opfer erfragt er ja willkürlich Informationen, nimmt die nächsten aus dem Zeitungsbericht - und immer noch bleiben Lücken. Ich bin sicher, dass diese Anordnung kein Zufall ist.


    Es frappiert außerdem, dass der Ich-Erzähler bei aller Blasiertheit und bei aller Sucht nach "Neuem" von wohligen Massenerlebnissen erzählt (26f). Auch das muss wohl im Auge behalten werde.


    Und zum Schluss noch was über den Anfang. Was ist das für eine erste Seite (zu den Vorsatzblättern mit dem Sonnensystem und der Weltkarte fällt mir im Moment auch noch nichts ein)? Ist das eine existierende Schrift oder vollkommener Nonsens? Wichtig ist wohl auf jeden Fall: Es sieht aus wie Schrift und suggeriert daher einen Sinn. Das kommt schon allein von der Präsentation.

  • Die Sache mit der Schrift ist mir auch nicht so ganz klar. Später im Buch beginnt der Ich-Erzähler, seine Handschrift absichtlich zu verändern - vielleicht läuft es darauf hinaus, dass die Aufzeichnungen dann nur noch in einer Art Geheimschrift erfolgen. Vielleicht ist ja auch das Gespräch mit dem "Mustad-Mädchen" ursächlich dafür, denn ab da beginnt der Erzähler, sich nicht nur mit Sprache, sondern auch mit Schrift auseinander zu setzen.


    Ich kenne Oslo nicht und empfinde es in diesem Fall als Mangel, weil die Stadt, besonders einzelne Bauwerke, eine wichtige Rolle spielt. Ich wüsste gern, ob es diese Gebäude, die Becker gebaut hat, gibt.

  • Hallo ihr beiden,


    ich habe gestern auch mit dem Buch begonnen und bin bis ins 5. Kapitel (also bis zum 2. Mord) vorgedrungen. Was mich zu meiner üblichen Bitte bringt: Da meine norwegische Ausgabe 259 Seiten hat (und die schwedische, die ich mir zur Klärung mir unklarer norwegischer Formulierungen ausgeliehen habe, 317), kann ich mit deutschen Seitenangaben nur sehr bedingt etwas anfangen. Bitte gebt auch die Kapitel an.


    Als erstes fiel mir etwas auf, das wohl notgedrungen der Übersetzung zum Opfer gefallen ist: der unterschiedliche Gebrauch der Personalpronomen. Während die Opfer unseren (noch) unbenamten Ich-Erzähler wie in Norwegen allgemein üblich duzen, siezt er seine Opfer. Ob das ein Zeichen der Distanz, die er zu anderen Menschen empfindet, darstellt, weiß ich noch nicht genau.
    Faszinierend fand ich das Ende seiner ersten Begegnung. Durch meine Kenntnis des Klappentextes machte mich eine Formulierung wie die ganz am Ende des 1. Kap. misstrauisch: "Ich hatte das Gefühl, etwas... radikales getan zu haben." worin dieses Radikale besteht, weiß man auch einige Kapitel später nicht wirklich (damit meine ich, dass der Erzähler es nicht selbst ausgesprochen hat), aber im Laufe der Seiten verdichtet sich der Verdacht zu Gewissheit. Schön gemacht!
    Meint ihr übrigens, dass das sein erster Mord war, oder beginnt er mittendrin zu erzählen?


    Leider kenne ich Oslo auch nicht, von einem 2-tägigen Besuch 1988 abgesehen. Mein Eindruck damals war: Oslo ist eine einzige große Baustelle, was ja durchaus mit der Beschreibung im Buch übereinstimmt, das 1990 erschienen ist.
    "Vaterland" ist ein Stadtteil von Oslo (sagt das Internet), der seinen Namen von den Holländern bekommen hat und daher nichts mit dem deutschen Vaterland zu tun hat, sondern "Wasserland" bedeutet. Die alte, verfallene Bebauung wurde vor einigen Jahrzehnten abgerissen. Jetzt stehen dort 5 riesige Gebäude, die tatsächlich in den 80ern entstanden sind.


    Die Schrift sagt auch mir nichts.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Mir war auch aufgefallen, dass der Erzähler seine Opfer siezt, während sie ihn duzen. Das ist in der deutschen Übersetzung gut rüber gekommen. Ich habe das auch als ein Zeichen der Distanz zu den Opfern aufgefasst. Durch den Tod verliert er diese Distanz, interessiert sich für sie, befasst sich mit ihrem Leben, ihren Berufen, identifiziert sich mit ihnen. Er geht sogar soweit zu sagen: sie waren tot, durch mich sind sie lebendig geworden (indem man seit den Morden dauernd über sie im Fernsehen und in der Presse berichtet). So gesehen ganz logisch: zu Toten hält man Distanz, zu Lebenden entwickelt man eine Beziehung.


    Ich bin jetzt im 15. Kapitel und der fünfte Mord ist bereits passiert. Auch diese Person ist wieder interessant.


    EDIT: Wenn ich mich richtig erinnere, wird erst der zweite Mord geschildert, wie der Erzähler ihn begeht; beim ersten lässt der Autor uns noch ein wenig rätseln. Das hat mir auch gut gefallen.

    Einmal editiert, zuletzt von qantaqa ()

  • Ich bin nun mit dem zweiten Mord durch und in Anfahrt auf den dritten. Tatsächlich wird erst beim zweiten Mord ausdrücklich klar, dass der Ich-Erzähler der Täter ist. Außerdem sagt er bisher nur, dass es einen Zusammenhang zwischen beiden Morden gibt. Das kann, muss aber nicht heißen, dass er auch den ersten begangen hat, ich halte da eine Überraschung für möglich.


    Nach dem zweiten Mord erscheint langsam auch ein roter Faden: Zusammengehalten wird das ganze durch das Buch des zweiten Opfers Tor Gross, das im 5. Kapitel beschrieben wird.
    Zunächst der Titel, praktisch derselbe wie bei Joseph Conrad. Hat eine von euch "Heart of Darkness" gelesen? Die Anspielung wird ja schon mit der Geschichte des norwegischen Botanikers Christen Smith eingeleitet, der auf dem Kongo gestorben ist - genau wie Kurtz in "Herst of Darkness" - und dessen Vermächtnis der Samen einer Dattelpalme ist, die nicht mehr aufhört zu wachsen, also kein Maß mehr einhält; und das Maßhalten ist ja auch die Problematik bei Conrad: Der wahnsinnige Kurtz, der sich als Gottheit verehren lässt und im Dschungel über die Indigenen gewaltsam herrscht.


    Gross' "Im Herzen der Finsternis" spielt nun im "Großstadtdschungel" (mehrfach so genannt) Londons und zwar in einem Viertel, das auffällige Parallelen zu Neu Vaterland aufweist: Eine verslummte Gegend, in der vor allem sozial Schwache wohnen und wo sich eine Parallelgesellschaft gebildet hat, die Gross ethnographisch beschreibt und, was den Ich-Erzähler verwirrt, positiv bewertet.
    "Im Herzen der Finsternis" ist demnach ein Gegenentwurf zum Großprojekt Neu Vaterland, wo das verslummte Viertel einfach eingeebnet wird und darauf riesige Einkaufszentren, Kongresshallen und Bahnhöfe gesetzt werden.


    Wenn wir mal raten, dass der erste Tote ein Architekt war, der am Projekt Neu Vaterland gearbeitet hat, und dass der zweite Tote den Gegenentwurf zu diesem Projekt verkörpert, gibt es zwar einen Zusammenhang zwischen den Opfern, aber bisher noch kein logisches Muster ihrer Ermordung, da sie ja einen Gegensatz verkörpern.


    Dass der Mauerstein, mit dem der Tor Gross erschlagen wird als "symbloischer Beitrag" zum großen Projekt Neu Vaterland bezeichnet wird (Ende Kap. 4), ist demnach nicht weiter verwunderlich; worin aber das Projekt des "Umbaus der Welt" (Ende Kap. 5) besteht, als das der Ich-Erzähler sein eigenes Tun bezeichnet, ist noch rätselhaft.

  • Ich habe das Buch heute morgen ausgelesen und am Ende haben sich für mich viele Fragen ergeben; die stelle ich aber erst, wenn Ihr auch soweit seid.


    Von Joseph Conrad kenne ich noch nichts; ich habe "Lord Jim" in meinem SUB. Die Parallele zu Conrad finde ich interessant und ich frage mich, ob es diese Palme in Oslo tatsächlich gibt. Im weiteren Verlauf des Buches wird der Botanische Garten, die Dattelpalme und Captain Smith immer wichtiger.


    Für die Morde gibt es tatsächlich kein logisches Muster - allerdings ergeben sich im weiteren Verlauf des Buches immer mehr und merkwürdigere Gemeinsamkeiten. Lasst Euch überraschen, ich fand das sehr spannend. Deshalb sage ich dazu auch noch nichts.

  • :heul: Christen Smiths Kanaripalme ist nicht mehr! Am 27. März 2000 kippte sie zur Seite um und zerbrach! 185 Jahre wurde sie alt. Mit ihr starb die letzte Gewächshauspflanze aus dem Eröffnungsjahr des Botanischen Gartens, schreibt diese Seite. Und, wie Kjærstad richtig beschrieben hat, musste der Boden gesenkt und das Dach des Gewächshauses höher gebaut werden, um dem Wachstum der Palme Raum zu geben. Leider habe ich kein Bild der Palme gefunden.


    Da ich gerade am Suchen im Netz bin:
    der im 5. Kapitel erwähnte Monolith im Vigelandpark.


    Das Buch ist faszinierend, oder sollte ich sagen: der Ich-Erzähler fasziniert mich? Das tut er eindeutig, mit seinem Bestreben, überall Zusammenhänge zu entdecken, vielleicht, weil im der Zusammenhang mit seiner Umwelt fehlt. Ich bekam den Eindruck von ihm, dass er losgelöst von allem um sich herum in der Luft schwebt (sich vielleicht gar auf dem Triton befindet), und er sich vielleicht durch seine Taten verankern will. Das ist bisher allerdings nur ein bloßer Eindruck, für dessen Richtigkeit ich noch keine Beweise bringen kann.



    Tatsächlich wird erst beim zweiten Mord ausdrücklich klar, dass der Ich-Erzähler der Täter ist. Außerdem sagt er bisher nur, dass es einen Zusammenhang zwischen beiden Morden gibt. Das kann, muss aber nicht heißen, dass er auch den ersten begangen hat, ich halte da eine Überraschung für möglich.


    Meine Gedanken gingen in die Richtung, dass Becker vielleicht im Beisein des Erzählers eines natürlichen Todes gestorben war - in der Zeitung stand ja anfangs nichts von Mord - und er vielleicht dieses Todeserlebnis wiederholen wollte. Allerdings ist später von den "ungeklärten Morden" die Rede, und diese Möglichkeit fällt dadurch weg.


    Der 3. Mord überraschte dadurch, dass er nicht begangen wurde :zwinker: . Ich gab nichts für das Leben des Mannes mit der Penisnase, vor allem als auch noch ein Spaten erwähnt wurde, aber, falls ich nichts überlesen habe, hat er doch überlebt.


    Ist euch auch aufgefallen, dass der Erzähler, wenn er von den Toten erzählt, nicht einmal andeutet, er selbst habe etwas mit ihrem Tod zu tun? Es erscheint mir fast so, als würde er seinen Part an ihrem Ende völlig verdrängen; er erwähnt zwar die Gesprächsthemen, wenn man aber von der eigentlichen Mordschilderung absieht, könnte man meinen, er interessiere sich nur für die Zufallsbekanntschaften, da sie kurz nach dem Treffen mit ihm gestorben sind. So habe ich das noch in keinem Buch, das aus der Perspektive des Mörders erzählt wird, erlebt.


    Ach ja - Conrads Herz der Finsternis habe ich nicht gelesen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Der Mann mit der Penisnase hat überlebt. Ich nehme an, weil er nicht interessant genug für den Erzähler war. Er hat sich ja ganz negativ über diese Begegnung geäußert und ist dann schnell in die andere Richtung verschwunden. Dass er nichts über seine Taten sagt, liegt m.E. daran, dass ihm nicht klar ist, dass er die Leute umbringt; wie ich weiter oben schon mal geschrieben habe, ist er der Meinung, er habe seine Opfer lebendig gemacht indem er sie in den Mittelpunkt des Interesses gerückt hat.


    Danke für die Info über die Palme. Interessant, dass es sie wirklich gegeben hat.

  • Der 3. Mord zeichnet sich durch größere Brutalität aus als die bisherigen. Da ist eine klare Steigerung zu bemerken: während der 1. Mord überhaupt nicht ausgesprochen wird, kriegt das 2. Opfer einen Stein an den Kopf -bums, tot - bei dem 3. hält der Mörder immer wieder ein und betrachtet die Sterbende. Wo wird das bloß enden? Ich hoffe nur, mir bleiben ausführliche Folterungsszenen erspart.


    Ebenso hoffe ich, einem Menschen wie dem Erzähler nie zu begegnen, der damit beschäftigt ist, "neue Dimensionen in meiner Persönlichkeit zu entdecken" (Kap.7), und sich wie Columbus "als Entdeckungsreisender auf dem Weg in das Unbekannte" sieht. Dies kontrastiert mit der durchsichtigen, leichten Glasfassade seines Firmagebäudes, wo alles übersichtlich und geordnet ist. Die Arbeit gefällt ihm eigentlich, "aber trotzdem"... fehlt ihm wohl etwas. Bis er eines Tages aus Versehen ein Subprogram löscht und er dann plötzlich "neue Möglichkeiten sah", er war "über eine geniale Lösung gestolpert als ob 'delete' in Wirklichkeit 'create' wäre". (Alles auf den ersten Seiten von Kap. 7)
    Das ist, scheint mir, das, womit er sich auch in seiner Freizeit beschäftigt: er löscht Menschen aus, nur um sie in sich neu zu erschaffen.


    Mein Eindruck, dass ihm der Halt in der Welt fehlt, findet seinen Ausdruck auch in seiner Sprache: ständig gibt er Varianten, Alternativen zu seinen schon niedergeschriebenen Ausdrücken an, ständig stellt er Fragen, nichts ist fest, alles ist möglich.

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  • So, langsam aber sicher lese ich weiter.
    Mittlerweile ist der 4. Mord geschehen, der zum Glück entgegen meiner Befürchtungen nicht brutaler war, bzw. brutaler geschildert war, als der 3. Kann die größere Brutalität in der Schilderung des 3. Mordes daran liegen, dass es das (bisher) einzige weibliche Opfer war? Empfindet der männliche Mörder den Tod einer Frau vielleicht als "ungewöhnlicher", grenzüberschreitender und daher wichtiger, auf Details zu achten, als bei einem Mann?


    Der Ich-Erzähler erschreckt mich immer mehr mit seiner völlig verdrehten Art, die Wirklichkeit zu interpretieren. Er ist der Meinung, "der Einzige zu sein, der diese Menschen (=die Opfer) wirklich zu kennen, der Einzige, der sie ernst nimmt" (Ende Kap. 9).
    Auch seine Frau/Lebensgefährtin nimmt eine Änderung an ihm wahr: "Sie sagt, ich bin verändert, dass ich unternehmungsfreudiger ( :entsetzt: dieses Wort in diesem Zusammenhang!) wirke. Ich sehe weniger konventionell aus, sagt sie."
    Ich wiederhole mich: ich habe Angst vor diesem Menschen, so wie er "Angst vor der Macht, der Wildheit in einem einzigen, kleinen 'bug' " hat. (Wie heißt "bug" auf deutsch? Ein Programmierungsfehler in einem Computerprogramm also. Meine Wörterbücher stammen leider aus der Vor-bug-periode und kennen das Wort in dieser Bedeutung nicht.) Er selbst erscheint mir als "bug" in der Gesellschaft.


    Überrascht hat mich die Feststellung, dass alle 4 Opfer Juden sind. Kann das wirklich nur ein reiner Zufall sein? Oder ist es immer so, dass man bei ausreichend intensiver Nachforschung, Parallelen und Zusammenhänge zwischen allen beliebig ausgesuchten Menschen findet?
    Am Ende des 12. Kapitels vergleicht er sich mit Darwin, nachdem er schon früher Columbus erwähnt hat, 2 Entdeckungsreisende, die ebenso wie er Tagebuch über ihre Erlebnisse geführt haben. Auch er, glaubt er, entdeckt Neues über die Menschen und hält seine Erkenntnisse schriftlich fest, zum Nutzen der Nachwelt etwa?

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  • Mittlerweile habe ich den 2. Teil beendet.


    Allmählich treten bei mir Ermüdungserscheinungen auf, genauer gesagt: nach dem Umblättern von Kap. 13 zu Kap. 14 verlor ich das Interesse an dem Mörder. Mittlerweile lässt er mich nur noch kalt, die tiefe Angst, die ich vor ihm empfand hat sich verflüchtigt.


    In den letzten Kapiteln kam bei mir die Frage auf, ob er eigentlich wirklich der Mörder ist. Ich bin am Überlegen, ob er sich nicht die Mordszenen und die vorangegangenen Gespräche, angeregt durch die Zeitungsberichte, ausdenkt. Vielleicht hat er ja mit dem ersten Opfer vor dessen Tod geredet, was dann seine weiteren Fantasien auslöste.
    Wirkliche Beweise habe ich allerdings nicht, nur ein Gefühl, dass da etwas nicht stimmt, und ein kleiner Hinweis in Kap. 14, wo von einem Hammer als Mordwaffe bei dem 5. Opfer (Magnus Davidsen) ausgegangen wird, das er doch laut eigener Aussage zu Tode getreten hat. (Übrigens auch wieder eine sehr brutale Schilderung.)


    Habt ihr verstanden, worauf er sich am Ende von Kap. 14 bewirbt?

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    Einmal editiert, zuletzt von Saltanah ()

  • Ich hatte ja geschrieben, dass das Ende des Buches bei mir einige Fragen aufgeworfen hat. Mir geht es ähnlich wie Dir, es macht sich eine gewisse Ratlosigkeit breit. Dass der Mörder sich das alles nur einbildet, wäre eine mögliche Erklärung, die vielleicht auch noch schlüssig wäre (ich weiß leider schon viele Einzelheiten nicht mehr). Ich hätte gern gewusst, was Bartlebooth davon hält.


    Über die Bewerbung bin ich auch gestolpert. Ich habe immer wieder zurück geblättert, ob ich vielleicht etwas überlesen habe. Gefunden habe ich nichts. Ich bin allerdings jetzt auch nicht zu Hause. Deshalb kann ich im Moment auch nicht nochmal nachsehen.

  • Ich habe das Ende von Kapitel 14 nochmal nachgelesen. Das war genau das, was ich später nicht verstanden habe. Da beginnt er nämlich seine Tätigkeit bei der Polizei, ohne dass noch einmal auf die Bewerbung zurück gekommen wird. Die hatte ich wohl gar nicht mehr im Gedächtnis.


    Jedenfalls bin ich von diesem Autor so begeistert, dass ich unbedingt mehr von ihm lesen möchte. Eigentlich passiert in "Rand" im Vergleich zu manchem Thriller nicht so sehr viel, und wenn etwas passiert, wird es völlig unspektakulär beschrieben und trotzdem haben sich mir beim Lesen die Haare aufgestellt. Das Buch hebt sich wohltuend aus dem Krimi-Einheitsbrei heraus.


    Könntest Du bitte den Namen des Opfers mit angeben, wenn Du schreibst? Inzwischen ist es schon etwas länger her, dass ich das Buch gelesen habe, da erinnere ich mich nicht mehr so genau an die Reihenfolge, aber die Namen sind mir noch präsent. Es fällt mir dann leichter, Dir zu antworten.

  • Fast fertig.


    Die Schilderung des 6. Mordes (die Hornistin Ruth Isaksen) fand ich sehr gelungen. Das Hin- und Herspringen zwischen dem Konzert (Gustav Mahler, wie sich später herausstellt) und dem Mord hat mir sehr gut gefallen. Immer wusste ich einen Moment im Voraus, was er als nächstes tun würde, was nicht an meiner Intelligenz liegt, sondern an Kjærstads Geschick. Der Mörder hat die Hutnadel in der Hand (ich: Hutnadel :entsetzt: ), sie wendet ihm den Kopf zu, er sieht ihr Ohr (ich: Hutnadel -> Ohr :entsetzt: ); gut gemacht, und für mich viel grausiger als die brutalen Schilderungen mancher anderer Morde.


    Allerdings wird mir immer unklarer, was ich von dem Mörder halten soll. Was will er? Wieso ist er so entsetzt, als Zakariasen andeutet, die Morde würden vielleicht nie gelöst werden? (Kap. 18: "Zakariasen ist der einzige Mensch, der mir helfen kann." Kap. 21: "Zakariasen ist meine einzige Hoffnung.") Will er wirklich entlarvt werden?
    Oder ist das Ganze wirklich nur der verzweifelte Versuch eines völlig entwurzelten Menschen, Zusammenhang herzustellen, Sinn zu schaffen (Kap. 21: "Um den Sinn des Lebens herauszufinden musst du zum Verbrecher werden."), Nähe zu anderen Menschen herzustellen (Kap. 19: "Nie fühlte ich mich den Norwegern so nahe.")?


    Übrigens lese ich das Buch nicht als Thriller; ich glaube, Kjærstad will mehr als das. Was er allerdings genau will, das ist mir weiterhin unklar.
    Ich bin gespannt, was auf den letzten Seiten noch kommt.
    Ich denke auch, dass ich weitere Werke von Kjærstad lesen werde.


    (Genau, einige Kapitel später wurde mir auch klar, dass er sich auf die Stelle bei der Polizei beworben hatte.)

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  • Als Thriller habe ich das Buch auch nicht gelesen, obwohl immerhin 7 Morde beschrieben werden; ich meinte, dass, was immer das Buch ist, der Horror und das Grausen bei mir viel intensiver ist als bei einem Thriller. Es kommt wirklich nicht auf Liter von Blut und Actionelemente an, um Spannung zu erzeugen. Die kurze, knappe Beschreibung der Taten lösen durch das, was nicht beschrieben wird, erst die Bilder im Kopf aus. Genau wie bei Hitchcocks Psycho - die Szene unter der Dusche zeigt in keiner Einstellung, wie das Messer in das Opfer dringt, trotzdem erzeugt der geschickte Filmschnitt bei mir die fürchterlichsten Metzelbilder.


    Allerdings bin ich, was die Motivation des Täters angeht absolut ratlos. Ich hatte gehofft, dass die Leserunde hier klarer sieht. Ich bin mir auch überhaupt nicht über die Rolle des Kommissars im Klaren. Ich habe nur vage Ideen. Wenn Du mit dem Buch durch bist, sollten wir darüber noch mal sprechen.


    EDIT: Die Verknüpfung Konzert - Schilderung des Mordes fand ich auch sehr geschickt gemacht. Eigentlich könnte man ja meinen, dass die Aneinanderreihung von Mordschilderungen irgendwann mal langweilig wird, aber hier wird die Spannung so geschickt gesteigert, das jedes Verbrechen einen neuen Höhepunkt setzt.

    Einmal editiert, zuletzt von qantaqa ()

  • Jetzt habe ich auch die letzten Kapitel gelesen, die mich ehrlich gesagt ratlos zurück lassen. Was ist denn jetzt eigentlich passiert? Ist der Erzähler wirklich der Mörder? Oder, um noch ein Stück weiter zu gehen: sind die Morde wirklich geschehen?


    Ich nehme an, dass sich das meiste nur im Kopf des Erzählers abspielt, ausgelöst vielleicht durch das reale Treffen mit dem ersten Opfer kurz vor dessen Tod. Die Berichterstattung in den Medien brachte ihn dann dazu, diese Begegnung weiter auszuschmücken. Der zweite Mord intensivierte dann seine Phantasien, er forscht den Opfern nach, versucht, sich in deren Leben einzufühlen, versucht ebenso, Verbindungen zwischen ihnen herzustellen, immer schön unterstützt von TV und Zeitungen. Irgendwann, denke ich, spielt sich dann alles nur noch in seinem Kopf ab, er beginnt, auch Zakariasen, der ja ständig in den Medien präsent ist, in seine Phantasien mit einzubeziehen, erträumt sich erst eine Arbeit bei der Polizei und dann eine persönliche Beziehung zu Zakariasen selbst.
    Irgendwie belegen kann ich meine Überlegungen allerdings nicht.


    Wieso wurde der 7. Mord gar nicht beschrieben, sondern nur in einem Nebensatz erwähnt: "es wurde noch eine Leiche gefunden" ungefähr.

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  • Da bin ich aber froh, denn Du hast die gleichen Fragen wie ich! Dass der "Mörder" sich die Verbrechen nur eingebildet hat, scheint mir schlüssig zu sein. Dass der 7. Mord nur noch in einem Nebensatz erwähnt wird, könnte daran liegen, dass sich sein Interesse von den Morden auf Zakariasen verlagert hat. Ich glaube nicht, dass die Freundschaft eingebildet war, sondern dass diese Treffen in Zakariasens Wohnung tatsächlich stattgefunden haben. Eine Bemerkung untermauert diese Vermutun mE: er erwähnte doch mehrmals die Tür, die mit einem Vorhängeschloss verschlossen war. Aus dem Zimmer hörte er Kratzgeräusche. Könnte es nicht sein, dass das der Anfang einer neuen erdachten Mordserie war? Kratzgeräusche - eine entführte Person? Er erwähnte doch, Zakariasen sei wie er - vielleicht bildet er sich jetzt ein, beginge mit Zakariasen gemeinsam Verbrechen.

  • Ach natürlich, eine Verlagerung der Interessen war ja klar festzustellen, und damit war der letzte Mord nicht mehr interessant. Deine Idee mit dem "neuen" Verbrechen, von Zakariasen begangen, finde ich klasse.
    Allerdings denke ich, dass der Erzähler sich das gesamte Treffen mit Z. ausgedacht hat, inklusive Wohnung und geheimnisvoll verschlossener Tür.


    Aber irgendwie glaube ich nicht, dass das alles ist. Ich sehe den Erzähler als eine Figur mit großen psychischen Problemen, der krampfhaft versucht, Ordnung und Zusammenhang in seinem disparaten Leben und der unüberschauberen und undurchschaubaren modernen Gesellschaft zu schaffen, eben durch diese Phantasien. Immer wieder "entdeckt" er ja neue Zusammenhänge zwischen den Opfern, Parallelen in derem Leben und solche zu seinem eigenen.
    Wie passt dann aber das Baumotiv dazu? Dort wird ja auch durch scheinbares Chaos Ordnung erzeugt, er findet aber schließlich die neue Ordnung (die fertigen Gebäude) weniger interessant als die halbfertige Konstruktion, die viel mehr Raum für Phantasie und Vorstellungsvermögen bietet. Also doch nicht die Ordnung als das endgültige Ziel. Vielleicht neigt sich ja die Morduntersuchung (in der "Wirklichkeit") dem Ende zu; der mal erwähnte (angeblich wieder freigelassene) Verdächtige könnte vor der Verurteilung stehen, was ein weiterer Grund für die Änderung der Erzählrichtung sein könnte. (Au weia, das wird gerade ganz schön spekulativ :rollen: .)
    Aber absolut nicht im Klaren bin ich mir darüber, wieso er Zakariasen wiederholt als "meine letzte Hoffnung" und ähnliches bezeichnet. Irgendwelche Geistesblitze in diese Richtung, Qantaqa?

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